Die Wahrheit der ARD-Korrespondentin

Buchbesprechung Golineh Atai, ehemals Russland-Reporterin der ARD, gibt vor, die »Wahrheit« und ihre Feinde zu kennen – und gleitet ihrerseits in den Modus pro-westlicher Propaganda ab.

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Golineh Atai erklärt Russland – hier 2015 im ARD-Mittagsmagazin

Ein Buchtitel mit »Wahrheit« als zentralem Begriff ist zumindest erklärungsbedürftig. Doppelt dann, wenn in der Unterzeile Russland aufgeführt wird und die Autorin bekanntes Gesicht einer öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt ist, deren Berichterstattung von großen Teilen der Zuschauerschaft seinerzeitig als (zu) einseitig und interessegeleitet empfunden wurde. Das bekannte Gesicht ist Golineh Atai, von 2013 bis 2018 Russland-Korrespondentin der ARD. Der Buchtitel lautet »Die Wahrheit ist der Feind. Warum Russland anders ist«. Herausgebender Verlag ist Rowohlt – möglicherweise Veranlasser der betont neutral gewählten und den Haupttitel relativierenden Unterzeile. Letzteres mag verkaufsstrategischen Motiven geschuldet sein beziehungsweise der frommen Absicht, die breitere interessierte Leserschaft nicht gänzlich zu verprellen. Die Doppeldeutigkeit des Begriffs »Wahrheit« schafft er allerdings nicht aus der Welt. Welche »Wahrheit« ist gemeint? Einerseits ist die Stoßrichtung von Atais Buch unmißverständlich – Putins Russland beziehungsweise dessen Umgang mit dem, was die Buchautorin als »Wahrheit« deklariert. Andererseits impliziert der Titel, dass es über validierbare Fakten sowie (subjektive) Standpunkte hinaus so etwas wie eine objektivierbare »Wahrheit« geben könne. Eine Bresche, so die Suggestion, in welche die vormalige ARD-Korrespondentin nunmehr springe.

Mit Verlaub gesagt ist Jonglage mit dem Substantiv »Wahrheit« ein äußerst ambitionierter Anspruch. Im besten Fall mögen Autor(inn)en ihr nahekommen, ein weitgehend objektivierbares Bild zeichnen. In der Regel wird diese Zeichnung unterschiedliche Points of View wiedergeben – auf dass die Leser sich ein eigenes Bild machen können (im Idealfall auf verbesserter Informationsbasis). Im konkreten Fall ist der Wahrheitsanspruch hochbedenklich. Funktionieren kann er letztlich nur dann, wenn man eine Seite – den Westen und seine Rolle in den beschriebenen Konflikten – unumwunden als »gut« setzt (sozusagen als Pächter der Wahrheit) und die andere als böse, verderblich, hinterhältig, ergo: Propaganda-betreibend. Womit es Zeit wäre, genauer auf den Inhalt einzugehen. Im Wesentlichen handelt Golineh Atais Buch drei – eher narrativ als systematisch miteinander verbundene – Themenkomplexe ab: die zunehmend autoritärer werdenden Verhältnisse in Russland seit Putins dritter Präsidentschaft 2012 (vor allem die verstärkte Medienzensur sowie die zeitlich damit einhergehenden Propagandaanstrengungen), die Ukraine-Krise und schließlich Russlands Engagement im syrischen Bürgerkrieg. Atais zentrale These: In allen drei Bereichen verstoßen Russland und, als oberster Strippenzieher, sein großer Lenker, Wladimir Putin gegen internationale Standards: innenpolitisch gegen die eines demokratischen Staatswesens, außenpolitisch gegen internationale Gepflogenheiten und Völkerrechts-Konventionen.

Hoppla – möchte man sagen, ist das nicht etwas simpel: die Verfasstheit des größten Flächenstaats der Welt anhand von drei Indikatoren erklären? Nichtsdestotrotz: Sicher kann man derartige Thesen aufstellen. Fakt – somit im Atai’schen Sinn das, was unter »Wahrheit« zu verstehen wäre – ist, dass diese Art Russland-Berichterstattung den Buchtitel-Markt zum Thema Russland eindeutig dominiert. Eine (wenn man so will) Wahrheit, die offensichtlich nicht so recht ins Wahrheits-Konzept der ehemaligen ARD-Korrespondentin passt. Subtil eingestreut finden sich im Buch an mehreren Stellen Klagen über die westliche Medienberichterstattung, welche – so Atai – noch immer zu nachsichtig und leichtgläubig mit dem Thema Russland umgehe. Ein Umstand, der gelinde gesagt merkwürdig anmutet im Anblick der Beststeller-Meter, die – meist mit warnendem Unterton – mittlerweile über Putins Russland verfasst wurden. Tatsächlich mutieren die knapp 370 Textseiten ihres Buchs zu einer einzigen Anklage – eine Anklage, die um so sonderbarer anmutet, als dass selbst Golineh Atai zu Zeiten der Ukraine-Krise durchaus Zwischentöne konnte. Beispielsweise in der tagesthemen-Sendung am Abend des 2. Mai, in der Moderator Thomas Roth seine mit Hintergrundinfos zu dem Brand im Odessaer Gewerkschaftshaus aufwartende Kollegin Atai vor laufender Kamera abwürgte und abrupt-kommentarlos überleitete zum seinerzeitigen Haupt-Spin in Sachen Ukraine: dem Schicksal der festgesetzten, wenige Tage später jedoch freigelassenen OSZE-Militärbeobachter.

Auch das Asov-Bataillon – eine vom Rechten Sektor aufgestellte Kampfmiliz, welche sich auch in den Kämpfen in der Ostukraine aktiv beteiligte – war für die Buchautorin damals durchaus noch Thema. Bemerkenswert an dieser Stelle sind ihre seinerzeitigen Vor-Ort-Reportagen darum, weil Atai sämtliche Fakten, die nicht eindeutig gegen die russische Seite sprechen, in ihrem 2019er-Buch entweder relativiert oder aber gänzlich ausspart. Bis zur Bedeutungslosigkeit heruntergespielt wird beispielsweise die Rolle des Rechten Sektors während des Machtwechsels in der Ukraine. Beschönigt und fast in ein euphemisch-romantisierendes Licht getaucht sind auch die eskalative Ideologie der ukrainischen Nationalisten sowie die historische Rolle ihrer Vorläufer – namentlich Stepan Bandera, der sich während des Zweiten Weltkriegs als Nazi-Kollaborateur betätigte und zu dem Atai hauptsächlich zu berichten weiß, dass die Nazis ihn zeitweilig im KZ Sachsenhausen internierten (bis 1944 übrigens – die Tatsache seiner Entlassung vor Kriegsende spart die im Missionsmodus befindliche Ex-ARD-Korrespondentin wohlweislich aus). Ebenso die antirussischen Ausschreitungen am 2. Mai 2014 in Odessa: ein Ereignis, bei dem Dutzende Menschen verbrannt, erschlagen oder sonstwie zu Tode gekommen waren und das die Autorin – als hinsichtlich der »Wahrheit« bedeutungsloses Aperçu – in einem einzigen Satz abhandelt.

Den selektiven Informations-Flow aus Beschönigen und Abwiegeln einerseits, Dramatisieren andererseits führt Atai auch beim Thema Syrien weiter. Auch hier – in Kapitel 3 ab Seite 183 – beschränkt sich der Blick ausschließlich auf mutmaßliche oder auch reale russische Operationen; die von westlicher Seite mit hochgepäppelten Radikalislamisten, die zeitweilig zur politischen Verfügmasse degradierten kurdischen Anti-IS-Kämpfer(innen) sowie die zweifelhafte Rolle der Türkei im Syrien-Komplex – all das ist kein Thema. Wie bei den anderen Sub-Themen liefert Atai auch im Syrien-Kapitel ihres Buches eine stetige Abfolge ausgewählter Info-Schnipsel. Eine Technik, die aus journalistisch-handwerklicher Warte möglicherweise zwar wenig zu beanstanden ist, umgekehrt jedoch völlig ungeeignet, komplexere Zusammenhänge darzulegen. Die Art, wie die Autorin ihren Plot mit Textaussagen untermauert, fällt generell durch eine recht eigenwillige Systematik auf. Einerseits sind eine Reihe Aussagen durch Quellen belegt – vorzugsweise regierungskritische Publikationen wie etwa Novaya Gazeta oder westliche NGOs. Andererseits sind Quellenverweise im Text vergleichsweise sparsam gestreut – ein Indiz dafür, dass der große nichtreferenzierte Rest auf eigenen Recherchen beruht. Das wäre vielleicht nicht sonderlich problematisch – wäre da nicht der (selbstgesetzte) Anspruch, einer irgendwie gearteten »Wahrheit« gerecht zu werden beziehungsweise die portraitierte Seite als Wahrheitsverdreher zu überführen. Im Kontext wird allerdings die Absicht zu offensichtlich, die Leser und Leserinnen irgendwie gegen Russland (und Putin beziehungsweise das autoritäre Regime in Russland, dass an der Stelle keinesfalls verharmlost werden soll) einzunehmen.

Als letzter Eindruck bleibt so, dass hier eine – auch persönlich, oder beruflich-persönlich motivierte – Abrechnung vorliegt: mit einem Regime oder auch einer Gesellschaft, welche die Autorin nicht mag. An der kritischen Haltung zu Russland als solcher ist selbstredend nichts auszusetzen. Bedenklich jedoch ist die Art der Vereinnahmung, welche die Autorin mit ihrem Buch versucht. Das Buch erklärt weder Russland noch sein derzeitiges Regime. Ebenso auch nicht die geopolitischen Absichten, welche die Staatsspitze um Wladimir Putin derzeit verfolgt. (Hierzu wäre – unter anderem – ein kritischer Blick auf die Jahre der Jelzin-Ära erforderlich gewesen: ein Thema, welches Atai gleichfalls lediglich kurz anreißt und sich selbst hier in Widersprüchlichkeiten verwickelt – etwa hinsichtlich der Frage, ob die von Jelzin 1993 in die Wege geleitete Parlamentsentmachtung »gut« war oder nicht.) Fazit: Sicher eine Abrechnung. Allerdings eine, die selbst Gegnern des aktuellen Regimes in Russland wenig neue Erkenntnisse bringt. Und die – vielleicht ihr größter Fehler – mit hohen, allgemeingültigen Begrifflichkeiten operiert. Um schließlich in exakt dem zu landen, was die Autorin der behandelten Seite so vehement vorwirft: Interesse-Geleitetsein und Propaganda.

Entsprechend ist Golineh Atais fast 400 Seiten dicke, mit viel O-Ton gespickte Abrechnung letztlich ein weiteres Beispiel für die altbekannte These, dass die Wahrheit im Krieg das erste Opfer ist. Darüber hinaus wirkt ihr Titel auf merkwürdige Weise etwas aus der Zeit gefallen. Mit Donald Trump nämlich ist »dem« Westen etwas der Sparringspartner abhanden gekommen für jene Sorte Containment-Politik, welche bis 2016 oberste NATO-Leitlinie war. Ob eine Neuauflage derselben hilft (gesetzt der Fall, Trumps Präsidentschaft endet 2020), darf man sicherlich in Zweifel ziehen.

Golineh Atai: Die Wahrheit ist der Feind. Warum Russland so anders ist. Rowohlt Verlag, Juni 2019. 382 Seiten, 18,50 Euro. ISBN 978-3-7371-0061-8.

Zur seinerzeitigen Medienberichterstattung zur Ukrainekrise siehe folgende Beiträge des Blogautors:

Der Medien-GAU von Odessa (dFC, 4. Mai 2014)

Leitmedien im Kriegstaumel (dFC, 8. August 2014)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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