Ein Mädchen namens Jolene

Musik Dolly Partons Countryballade »Jolene« ist wahrscheinlich der sozialdemokratischste Song, der jemals komponiert wurde. Eine respektvolle Würdigung

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»Jolene, Jolene, Jolene, Jolene // Ich flehe dich an, nimm mir nicht meinen Mann // Jolene, Jolene, Jolene, Jolene // Nimm ihn dir nicht, nur weil du es kannst«. Auch wenn Carolin Kebekus’ Beer Bitches den alten Klassiker nicht nur gefühlsmäßig-kölschechter aufleben lassen als es die Übersetzung vermag, sondern eine feministische Kritik-Schlagseite mit hineinlegen, ist klar: Hier wird ein Lied intoniert, dass in ziemlich tiefen Schichten gräbt. Die Situation liegt auf der Hand. Die meisten Frauen (und, mit Verlaub: nicht wenige Männer) werden die Situation kennen, in der mit mehr Schönheit sowie sonstigen Vorzügen ausgestattete Konkurrenz zugange ist, den derzeitigen Partner respektive die Partnerin amouröserweise zu kapern. Nur wenige werden in der Situation vermutlich die rückhaltlose Ehrlichkeit – und den dazugehörenden Mut – aufbringen, die Konkurrenz mittels ungeschminkter Darlegung ihrer desolaten Lage von ihrem Vorhaben abzubringen.

Am textlichen Kern von Dolly Partons 1973 entstandenen Song gibt es darum wenig zu deuteln. Sicher hat es an Versuchen nicht gemangelt, »Jolene« via musikalischer oder auch textlicher Umdeutung einen modernen Anstrich zu verpassen: Die White Stripes versuchten es mit grungigem Gitarrrengerumpel; ähnlich die Wave-Formation Siouxsie & The Banshees oder die Rockabilly-Combo The Deadbillys. »Minge Mann«, die in kölschen Dialekt eingedeutsche Version für die Karnevalssaison 2019/20, ist dabei lediglich die aktuellste. Derzeit gültigste Mainstream-Version ist die von Miley Cyrus. Cyrus hat »Jolene« nicht nur allein eingespielt, mit Band, mit Duett-Partner(inne)n, darunter auch Altmeisterin Parton selbst. Cyrus’ »Jolene« – siehe Clip unten – dürfte derzeit die Interpretation sein, welche dem Lebensgefühl der aktuellen jungen Generation am nächsten kommt. Die Schöpferin (der man nachsagt, dass ihr Stück nicht unmaßgeblich daran beteiligt gewesen sei, sie zur reichsten Frau in Tennessee zu machen) ist auf der Bühne und im Studio zwar weiterhin mit dabei. Mittels einer String-Version hat sie ihr Werk vor wenigen Jahren sozusagen kathedralisiert. Ob sie die Geigenversion schlicht einspielte, weil sie es konnte (ungeachtet der Tatsache, dass sie sich damit gewissermaßen in Gegensatz zu ihrem Liedtext setzte), oder ob es dafür noch andere Gründe gab, ist nicht überliefert.

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Wie auch immer: Die Anzahl der eingespielten Coverversionen dürfte sich mittlerweile im vierstelligen Bereich bewegen. Im Country-Musik eher unterbelichteten Deutschland stehen die Besten des Unterhaltungsmetiers ebenfalls Schlange, um die beherzte Bitte an die Nebenbuhlerin neu zu intonieren. Ein Mädchensong ist »Jolene« zwar zeitlebens geblieben: Akustikgitarre plus Girliestimme »solo und getragen« ist die gängige Existenzform, und auch die aufgerockte Variante fällt diesbezüglich nicht wesentlich aus dem Schema. Bei den Männern gibt es einige Ausnahmen; siehe die oben erwähnten White Stripes. Darüber hinaus stammt die letzte Version, die hierzulande aus dem Medien-Grundrauschen hervorstach, von einer klassischen Männerformation – The BossHoss. Auch hier sind Geschmackstoleranzen berücksichtigt: Wer die Lagerfeuer-Variante (mit Uwe Ochsenknecht-Gastauftritt im Clip) zu dick aufgetragen findet, kann bei YouTube gleich zur Mainstreamvariante switchen und sich Bosshoss im Duett mit Helene Fischer geben. Wer fehlt? Vielleicht Martin Schulz. Für die Tatsache, dass der ehemalige Hoffnungsträger der SPD singen kann, gibt es im Netz ebenfalls einen unumstößlichen Beweis. Allerdings wären hier wohl auch gewisse Grenzen erreicht. »Jolene« mag mit Lagerfeuer gehen, im Pop-, Rockabilly- oder auch Undergroundgewand. Als Schunkelschlager mit einem halbglatzigen Ex-Kanzlerkandidaten hätte »Jolene« vermutlich die Schwelle zur politischen Travestie überschritten – mit Folgen, die nicht nur auf die Partei, sondern vermutlich auch den Song negativ zurückfallen dürften.

Vor einer Verwendung als Wahlkampfschlager wäre zwar entschieden zu warnen. Nichtsdestotrotz ist »Jolene« vielleicht der sozialdemokratischste Song aller Zeiten. »Brüder, zur Sonne zur Freiheit« ist Traditionsfolklore – Musikmaterial, dass man allenfalls zu offiziellen Anlässen goutiert. »Jolene« hingegen drückt das echte, wahre, unverfälschte Lebensgefühl der realexistierenden sozialdemokratischen Basis aus. Zum einen mögen da sicher die musikalischen sowie zeitlichen Referenzen stark eine Rolle spielen. Zeitlich fällt »Jolene« noch in die Ära des partiell umgesetzten sozialdemokratischen Massenwohlstands. Musikalisch schließt es mit seinem Country-and-Western-Sound an die erfolgreich durchgezogene Befreiung vom NS-Faschismus an. Mit anderen Worten: »Jolene« ist wie das Fest auf dem Campingplatz – bunte Laternen, Bier, Grill und die Option, auf eskapistische Weise (wenn auch nicht zu sehr) aus der Rolle zu fallen. Der Text mag aus feministischer Warte vielleicht fragwürdig sein – zu sehr angelehnt an alte Rollenbilder und Konkurrenzkämpfe, die man doch überwinden will. Die Bitte im Lied jedoch ist in ihrer rückhaltlosen Wahrhaftigkeit und Verletzbarkeit ein Appell mit geradezu zeitloser Gültigkeit: Es nützt nichts, sich alles zu nehmen, was man sich nehmen kann. In bestimmten Situationen hat sogar der scheinbar Überlegene mehr davon, eben nicht alles zu tun, wozu es ihn (oder, im Lied: die schöne Nebenbuhlerin) gelüstet.

Politisch mag der Appell von »Jolene« vielleicht fehl liegen. Politisch könnte man sagen, dass der Textinhalt eine (auf eine persönliche Situation hin transkribierte) Fehleinschätzung kolportiert: dass man den Überlegenen irgendwie zum Verzicht überreden könne. In dieser Lesensart würde »Jolene« sämtliche gängigen Irrtümer auf den Punkt bringen, denen das sozialdemokratische Milieu unterliegt: Der Kapitalist verzichtet freiwillig auf einen Teil seiner Dividende und wird dafür mit einer Grillwurst (und, vielleicht, der Tochter des Werkzeugmeisters als Schwiegersohn in spe) belohnt. Real allerdings ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Fans des Songs diese Leseart im Kopf haben. Vielleicht ist es einfach die Idee des Ausgleichs, die Idee gewisser Regeln betreffs Verhältnismäßigkeit und fairem Umgang miteinander, die das Lied zu dem gemacht haben, dass es heute ist.

Fazit so: Es gibt Songs, die in fast jeder Weise zeitüberdauernd sind. Einer davon etwa ist »Die Partei hat immer Recht« – ein Stück, dass auch in der Fassung der Antilopengang, Slime & Bela B. seine nach wie vor existierende Berechtigung vor Augen führt. »Jolene« hingegen ist zerbrechlicher. Sicher kann man es als Pophit-Oldie ad acta legen für eine Generation, die nunmehr auf die Rente zudriftet und sich in dreißig, fünfzig Jahren – vermutlich nach einer mehr oder weniger langen vorbereitenden Phase der Altersarmut – die Radieschen von unten beschauen wird. Man kann »Jolene« auch als sozialdemokratischen Song in schlechtester sozialdemokratischer Tradition verstehen: Der illusionär bleibende Ausgleich, die kleinbürgerlichen Träume von Recht und Billigkeit – all das ist in ihm enthalten. Allerdings täte man ihm auch in politischem Sinn Unrecht, schüttete man hier das Kind mit dem Bade aus. Der Traum vom (nicht gewaltförmigen) Interessenausgleich bleibt auch dann eine erstrebenswerte Utopie, sollte die Partei, die diesen Grundsatz einmal vertrat, unter die Fünf-Prozent-Hürde rutschen und final in die (in dem Fall wohl selbstverschuldete) Vergessenheit geraten.

In dem Sinn: Eine Gesellschaft, deren Künstler(innen) massenhaft Versionen von »Jolene« einspielen, kann noch nicht ganz vor die Hunde gegangen sein.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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