Enzyklopädie der Kriegsursachen

Ukraine-Konflikt. Warum führen Menschen Krieg? Konkret: Welche Ursache, welcher Beweggrund könnte das Pulverfass Ukraine zum Explodieren bringen? Zehn Klassiker und ihre Plausibilität.

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Imperialistisch gesteuert, fragwürdiger Separatismus oder berechtigtes nationales Anliegen? Euromaidan-Demonstration in Kiew am 1. Dezember 2013. Foto: Antanana. Quelle: Wikipedia / Wikimedia Commons. Lizenz: Creative Commons; Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert.

Die Welt am Abgrund, wieder mal? Das gemeine Staatsvolk jedenfalls ist besorgt. Eine morbide, zwischen Besorgnis, Schuldzuweisungen und Fatalismus changierende Grundstimmung greift immer stärker um sich. Insbesondere in den entwickelten Industriegesellschaften. Frage: Ist 2014 ein potenzieller Wiedergänger von 1914? Sicher: In einer kapitalistisch verfassten Wirtschaft, in der auch Nachrichten letztlich nichts weiter als Waren sind, bietet sich der Vergleich mit dem WK-I-Kriegsausbruchsjahr geradezu an – schon allein aus Gründen der Auflagesteigerung. Violence sells – oder: Krieg ist ein zeitloser Nachrichtenknüller. Andererseits gibt die Häufung internationaler Konfliktherde in den letzten fünf Jahren auch von der Faktenlage her durchaus Grund zur Besorgnis. Ist es so, dass wir dabei sind, in einen neuen Weltkrieg hineinzuschliddern? Oder zumindest in eine Phase größerer internationaler Konflikte, einen neuen Kalten Krieg?

Die Palette angebotener Ursachen hat viele Töne und Nuancen. Ausdifferenzierte Gesellschaften führen nicht nur Kriege. Aufgeklärt, wie sie sind, diskutieren sie ebenso die Ursachen, welche – möglicherweise oder real – zu Kriegen führen. Mit »Ursachen« sind an der Stelle nicht die obligatorischen »Gründe« gemeint. Kriegsgründe sind beliebig, zweckinstrumentell, manipulierbar. Siehe den Überfall auf den Sender Gleiwitz – ein von Hitler arrangierter Anlass, um seinen langersehnten Ostkrieg endlich starten zu können. Die Suche nach Erklärungen gräbt tiefer. Einige rücken die Natur des Menschen in den Mittelpunkt, seine Unzulänglichkeit oder Bösartigkeit. Beispiel: Machiavelli und Hobbes – bis heute anerkannte Klassiker in Sachen Ursachenanalyse (oder Strategieentwicklung zur Konfliktaustragung). Im wesentlichen haben sich in modernen Gesellschaften zehn Erklärungsversuche etabliert: Kapitalismus & Imperialismus, der militärisch-industrielle Komplex, Faschisierung von Gesellschaften oder Gesellschaftsteilen, Ablenkung von inneren Spannungen, das Patriarchat, die allgemeine menschliche Natur, politisches Machtstreben, das Trio Rasse, Ethnie & Religion, Separatismus sowie absichtsloses Hineinschliddern. Was hat das alles mit der Ukraine zu tun? Mit Russland, mit uns? Sehen wir uns die Klassiker der Erklärungsversuche etwas näher an.

1. Imperialismus und Kapitalismus

Diverser Totsageversuche ungeachtet, hat sich Lenins und Luxemburgs Imperialismustheorie als ernsthafter Erklärungsansatz wacker behauptet. Der Imperialismustheorie zufolge ist wirtschaftlicher Expansionsdrang die Hauptursache moderner Kriege. Geführt werden Kriege letztlich wegen ganz materieller Zugewinne: ein Mehr an ausbeutbarem Staatsgebiet, wegen Ressourcen, wegen Rohstoffen. Entstehungsgeschichtlich setzte die Kritik der Imperialismustheoretiker zwar klar auf dem Ideengebäude von Marx und Engels auf – demzufolge Profitgier die Haupttriebkraft kapitalistischer Gesellschaften ist. Lenin & Co. differenzierten die Chose jedoch insofern, als dass sie die Gründe der damaligen Kriege ein Stück weit genauer, konkreter hervorarbeiteten und von älteren Kriegsursachen absetzten. Plausibilität: Für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs liefern Lenin & Co. geradezu die Blaupause – Imperialismus pur, Weltherrschaft, Platz an der Sonne. Auch für die überwiegende Anzahl der Folgekriege lassen sich kapitalistisch-imperialistische Raub- und Profitgier leicht als Ursachen ausmachen. Klassiker der Beispiele: die unzähligen Interventionen und Kriege, an denen die westliche Supermacht USA beteiligt war.

Last but not least: Auch bei den aktuellen Konfliktherden – dem in Syrien/Irak und dem in der Ukraine – spielen billig ausbeutbare Rohstoffe eine wesentliche Rolle. Möglicherweise sogar die entscheidende. Im Nahen Osten sticht das Rohstoffmotiv klar hervor: Saudi-Arabien und die anderen Ölscheichtümer sind sakrosankt – sogar so sakrosankt, dass sich die US-Bündispolitik ihretwegen in immer mehr Widersprüche verstrickt. In der Ukraine ist das Rohstoffmotiv zwar eher vermittelt. Das Land selbst hat eher strategischen als materiellen Wert. Nichtsdestrotrotz sind die Rohstoffvorkommen im zentralasiatischen Raum schon länger Thema. Ebenso die Investitions- und Prospektoreninteressen, die an einer Erschließung derselben interessiert sind, und die politischen Strategieansätze, die geeignet erscheinende Marken auf dem Weg dahin setzen (hier in PDF-Form eines aus dem Fundus der Friedrich-Ebert-Stiftung). Fazit: Als alleiniger Erklärungsversuch für die aktuellen Konfliktszenarien weist die klassische Imperialismustheorie sicher eine Reihe von Mängeln auf. Wesentliches Manko: Sie kennt nur Profit und Nicht-Profit; andere Motivlagen, Interessen und Befindlichkeiten verschwinden bei ihr oft vorschnell vom Schirm. Nichtsdestotrotz: ein zeitlos taugliches Gerüst – wenn auch dringend ergänzungsbedürfig.

2. Militärisch-industrieller Komplex

Die Theorie vom militärisch-industriellen Komplex als Haupt-Brandbeschleuniger für militärische Konflikte hat vor allem in pazifistisch orientierten Gruppen und NGOs eine stetige Bastion. Breiteren Zulauf bekam diese Theorie im Verlauf der Achtziger – zu einer Zeit also, als sich zwei anscheinend gleich starke Blöcke gegenüberstanden und die damaligen Militärstrategien drohten, das fragile Gebilde zum Einsturz zu bringen. Grundaussage dieses Erklärungsmusters: Einflussreiche Rüstungslobbys und Militärs bilden längst einen eigenen Interessenkomplex. Aufgrund ihrer ökonomischen Interessen und ihrer Machtstellung sind sie stärker als andere einflussreiche Gruppen daran interessiert, Konflikte mit militärischen Mitteln zu lösen. Historisch liefert nicht nur der Kalte Krieg zahlreiche Belege für diese exklusive Sonderrolle. Auch in der Großgeschichte des 20. Jahrhunderts gibt es eine Reihe von Beispielen. Die prominentesten: Nazi-Deutschland sowie der japanische Militärstaat in den Dreißigern und Vierzigern.

Plausibel wird die Sonderrolle von Rüstungslobby sowie militärischer Funktionselite auch anhand eines zweiten Aspekts: Waffen- und Kriegsgüterlieferungen über Kriegsfronten hinweg. Historisches Beispiel: Krupp-Patente für britische Waffenschmieden im Ersten Weltkrieg. Neueres Beispiel: die Rüstungsexporte deutscher Firmen an sogenannte Schurkenstaaten oder auch nichtstaatliche Kombattanten. Die Theorie, dass der militärisch-industrielle Komplex ein teils unkontrollierbares Eigenleben entwickelt hat, wird auch durch die aktuellen Entwicklungen in der Ukraine gestützt. Selbst die innenpolitisch angeschlagene Regierung von Barak Obama dürfte wenig Interesse daran haben, dass dieser Konflikt weiter eskaliert. Umgekehrt: Für die Kriegsunternehmer, die Waffenlieferanten und die Söldnerindustrie dürfte der aktuelle Bürgerkrieg ein El Dorado sein. Wobei die Anzahl der weltweiten Konflikte seit Jahren stetig steigt. Fazit: brauchbarer Erklärungsansatz; als Solist jedoch ebenfalls eher nicht so geeignet.

3. Faschisierung

Der Begriff »Faschismustheorie« ist für die Erklärungsansätze, um die es in diesem Abschnitt geht, zwar etwas simplifizierend, im Kern jedoch zutreffend. Erfinder der historischen Faschismustheorie waren die Propagandisten der Dreißigerjahre-Volksfrontbündnisse. Und deren Einschätzung, dass der Faschismus Ausdruck nicht des Gesamtkapitals sei, sondern vielmehr politische Plattform von dessen absteigenden und darum agressivsten Kräften. Grundaussage dieser Erklärungsversuche: Mächtige Klassen und Staaten, die sich auf dem absteigenden Ast befinden, sind für das Tragen von Konflikten nach außen besonders anfällig. Das Paradebeispiel für diese Theorie ist nach wie vor Nazi-Deutschland. Die Wegmarken in den Faschismus: ein verlorener Krieg, ein als ungerecht empfundener Friedensvertrag und schließlich die Weltwirtschaftskrise. Das war für Junker, Militärs sowie das obrigkeitsstaatorientierte Kleinbürgertum zu viel – ein Führer mußte her.

Eine Reihe Historiker hält Erklärungsansätze dieser Art zwar für überholt. Auch in der 68er-Bewegung wurden Volksfront-Konzepte durchaus kontrovers diskutiert. Für die Theorie, dass sich Eliten auf dem absteigenden Ast zunehmend radikalisieren, finden sich jedoch auch außerhalb Deutschlands genügend Beispiele. Etwa in den mittelamerikanischen Bürger- und Drogenkriegen – erstere getragen von lokalen Großgrundbesitzern, Militärs und Vertretern von US-Konzernen, letztere Hinterlassenschaft eben dieser Konstellation. Gesellschaften ohne Perspektive scheinen für Faschisierung besonders anfällig zu sein. Auch hier ist die Ukraine symptomatisch. Mag sein, dass die Oligarchen in Kiew eher Morgenluft wittern beim Gedanken an die EU als Abendluft. Rechter Sektor, Swoboda sowie die ultranationalistischen Milizen, die das Land mehr und mehr beherrschen, erinnern indess stark an Faschisierungstendenzen, wie es sie auch im Europa der Dreißigerjahre gab. Fazit: Man muß diese Erklärungsansätze nicht als alleinige Ursachen bemühen. Allerdings: Ein wachsamer Blick auf Kettenhunde, die mit dem Rücken an der Wand stehen (oder sich dort wähnen), ist nie verkehrt.

4. Ablenkung von inneren Spannungen

Die Theorie, dass Herrschende Kriege auch deswegen gern vom Zaun brechen, um von innenpolitischen Spannungen abzulenken (beziehungsweise diese zu kanalisieren), ist ebenfalls nicht neu – jedenfalls bei Teilen der politischen Linken. Allerdings ist es um die Validität dieser Theorie eher mittelprächtig bestellt. Sicher – die Historie bietet eine Reihe Beispiele, in denen diese Kriegsursache zumindest nicht ausgeschlossen werden kann. Paradebeispiele hier: die k. u. k-Monarchie vor dem Ersten Weltkrieg, oder auch das durch die Revolution von 1905 angeschlagene zaristische Russland. Im aktuellen Ukraine-Konflikt lassen sich ebenfalls eine Reihe Anzeichen finden für diese Motivlage: ein mit dem Rücken zur Wand stehendes Regime, das selbst beim besten Willen unfähig wäre, die massiven Probleme des Landes zu lösen.

Krieg quasi als Flucht nach vorne? Ebenso wie Gründe für diese Option bietet die Geschichte massig Beispiele, wo der Erklärungsansatz »Ablenkung von inneren Spannungen« nicht oder nur wenig greift. Beispiel: Nazi-Deutschland – ein Land, dessen Machthaber recht unangefochten im Sattel saßen. Oder auch die Kabinettskriege früherer Jahrhunderte – wohl eher deswegen vom Zaun gebrochen, weil sich die jeweiligen Dynastien, wie die Regimebezeichnung bereits nahelegt – »absolut« sicher und unangefochten fühlten. In neuerer Zeit zum Zuge gekommen ist die Ablenkung-von-inneren-Spannungen-Erklärung nach dem 11. September. Sind Irak III, Afghanistan oder auch die aktuellen Militäraktionen nichts weiter als eine Reaktion, eine Flucht nach vorne aufgrund innenpolitischer Krisen, respektive dem Um-Sich-Greifen antikapitalistischer, globalisierungskritischer Positionen? Soll hier zumindest eine Weltmacht präventiv geeint werden – im Hinblick auf einen äußeren Feind? Fazit: Ganz von der Hand zu weisen sind diese Theorien nicht. Allerdings: Wie bei anderen unerforschten Stoffen auch sollte man Vorsicht walten lassen. Und sich das jeweilige Szenario genauer ansehen.

5. Patriarchat

Die Theorie hier: Gewalt, Herrschaft und Kriege in dieser Welt sind letztlich auf die Vorherrschaft von Männern zurückzuführen – konkret: auf das Patriarchat, welches das strukturelle Korsett für diese spezielle Herrschaftsform abgibt. Popularisiert wurde dieser Erklärungsansatz durch die feministischen Theorien der Siebziger und Achtziger. Anders als die historischen Sufragettenbewegungen, die stärker den Aspekt der bürgerlichen Gleichberechtigung in den Mittelpunkt stellten, bieten Feminismus und Postfeminismus ein geschlossenes Theoriegebäude und, zumindest teilweise, auch ein dazugehöriges Feindbild – eben das Patriarchat.

Ist die Chose schlüssig? Teilweise sicher. Die meisten Kriege in der Geschichte wurden, so viel ist klar, von Männern ausgelöst. Hinzu kommt die kriegsspezifische Gewaltkultur. Ebenso die Tatsache, dass Frauen in Kriegen oftmals deutlich mehr Leid erfahren und insbesondere bei Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, zusammen mit Kindern und Alten, Hauptbetroffene sind. Auch im aktuellen Ukraine-Konflikt zeigt sich, dass Frauen und Kinder besonders stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Deutlich wird dies durch die aktuelle Bürgerkriegsentwicklung, ebenso auch durch die Kriegsproteste im Hinterland, die vor allem von Frauen getragen werden. Als Strukturanalyse ist der Erklärungsansatz »Patriarchat« sicher nicht von der Hand zu weisen. Allerdings: Politische Folgerungen daraus nach dem Motto »Mehr Frauen in verantwortliche Positionen, dann wird es schon besser« führen ziemlich schnell in die Sackgasse. Um beim Beispiel Ukraine zu bleiben: Hillary Clinton als mögliche neue US-Präsidentin wird – aller Voraussicht nach – den Job um keinen Deut besser machen als der derzeitige Präsident, Barak Obama. Auch die restlichen Frauengestalten in der weltweiten Herrschergeschichte stimmen da nicht unbedingt optimistisch – Katharina die Große, Maria Theresia, Margaret Thatcher. Waren sie Leuchten, in Konfliktlagen sanftmütig wie König Salomon? Wohl eher nicht. Fazit: Patriarchale Strukturen mögen zwar ein Kriegsproblem sein. Allerdings sind sie allenfalls teilweise – beispielsweise in Nahost – essentiell mitentscheidende Kriegsauslöser.

6. Menschliche Natur

Womit wir bei einem der Klassiker angelangt wären: Thomas Hobbes (1588–1679). In seinem Leviathan aus dem Jahr 1651 beschrieb Hobbes den Menschen als triebgeleitetes, unmündiges Wesen – eine Spezies, die letztlich nur durch einen starken Staat einigermaßen im Zaum gehalten werden konnte. Theorie: Die menschliche Natur ist schlecht, schon aus Veranlagung tendiert sie in periodischen Abständen zu kollektiven Gewaltausbrüchen. Hobbes’ Apologeten sind seither Legion. Ein bis heute sehr beliebter ist der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland – Konrad Adenauer. Gerade nach den Erfahrungen in der NS-Zeit setzte der desillusionierte Alte bekanntlich wenig auf demokratische Prozederes oder gar Populismus, sondern vielmehr auf eine Art Mediokratie der Vernünftigen, eine Form der guten Regierung, wie sie als Sehnsucht etwa in einem Gemälde des – unter anderem in Siena tätigen – Frührenaissancemalers Ambrogio Lorenzetti thematisiert wurde.

Ist der Mensch gut, ist er schlecht? Neu aufgelegt wird dieser Erklärungsansatz derzeit vor allem im Umfeld der Neoanthrophologen – jener Richtung, die vor allem durch den Forscher und Buchautor Jared Diamond bekannt wurde. Als Universalist favorisiert Diamond übrigens einen Mix aus ökologischen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Ursachen. Eher optimistische Zukunftsaussichten propagieren hingegen Historiker wie der US-Amerikaner Steven Pinker. Kernaussage: Durch das Fortschreiten der menschlichen Entwicklung werden Kriege und Gewalt immer seltener – wenn auch in sehr langfristigen Zeitintervallen. Wie praxistauglich ist die Theorie von der allgemeinen menschlichen Natur im konkreten Fall? Die Anwort: mittelprächtig. Für den Hang zur großen tabula rasa spricht zum einen die Situation in Deutschland bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, das sogenannte »Augusterlebnis«. Ebenso auch die Nervösität, welche die aktuelle gesellschaftliche Stimmung mitprägt. Ob letztere unbedingt auf Kriegsausbruch drängt, ist allerdings keinesfalls ausgemacht. Wofür auch Berichte über die Stimmung in Deutschland unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sprechen. Begeisterung machte sich – kurzfristig – erst im Folgejahr breit: als Hitler den Blitzkrieg gegen den Erbfeind Frankfreich gewann. »Kriegslust« als Kriegsgrund lässt sich – zumindest in chronischer Form – empirisch kaum erhärten. In realitas zutage treten derlei Erscheinungsformen meist dann, wenn die Befallenen sich persönlich sicher wägen und die Einschätzung hegen, selbst mit einem blauen Auge davonzukommen. Fazit: als Erklärungsansatz wenig brauchbar, da hierfür viel zu allgemein.

7. Machtstreben

Eine spezielle Variante des Erklärungsansatzes »Krieg gehört eben zur menschlichen Natur« ist die Theorie vom Machtstreben, welches Politikern und Mächtigen quasi naturgegeben eigen sei. Popularisiert hat diesen Denkansatz der italienische Fürstenberater und Renaissance-Intellektuelle Niccolò Machiavelli. »Machiavellistisches Machtstreben« jedenfalls gehört seit der Publikation von Der Fürst anno 1513 zum festen Arsenal der Mächtigen – jedenfalls derjenigen unter ihnen, die auch morgen noch fest im Sattel sitzen möchten (oder auf dem Thron). Machiavellis Theorie hat zwei Seiten. Die erste ist die operative – sozusagen das »How to Do«, die Essentials der robusten Interessenvertretung. Die zweite betrifft die Auswirkungen auf die Opfer. Erklärungen, welche die Motivationen der jeweils Mächtigen psychologisch ergründeten, haben die machiavellistischen Erklärungsversuche im 20. Jahrhundert durch zusätzliche Betrachtungsweisen ergänzt. Einig sind sich die meisten bei folgender Kernaussage: Machtstreben – beziehungsweise das dahinter steckende Bedürfnis nach Kontrolle – ist ein wesentlicher Hauptauslösegrund für kriegerische Konfikte.

Unterfüttert wird der kritische Blick auf die Machtlüsternheit durch einige neuere Beiträge zu Fragen der internationalen Strategie. Als Praxisanleitungen für machtbewußte Imperialpolitik machten vor allem die Theoriebeiträge der beiden US-Neocons Zbigniew Brzezinski und Samuel Huntington Furore. Brzezinski plädiert in seinen Publikationen für eine robuste, von unnötigen Skrupeln befreite US-Machtpolitik. Huntington unterfüttert diesen Ansatz durch eine kulturalistische Komponente, derzufolge ein Clash der Kulturen langfristig unvermeidbar ist. Aus diesem Grund komme es darauf an, dass der Westen sich in diesem Clash erfolgreich behaupte. Ist der Ukraine-Konflikt ein Paradebeispiel für gefährlich ausbordendes Machtstreben? Einerseits ja. Alle wollen Macht: der Westen, die Maidan-Machthaber über das volle Staatsgebiet; Putin selbstredend auch. Andererseits: Auch dieser Erklärungsversuch ist, aus unterschiedlichen Gründen, viel zu allgemein. Und das bereits aus zwei sehr naheliegenden Gründen: a) hat niemand die Macht, machtrenitente Politiker zu installieren. Von machtbefreiten Verhältnissen erst gar nicht zu reden. b) hat niemand einen Masterplan, eine Road Map, wie man aktuell zu halbwegs machtfreien Verhältnissen gelangen könnte. Zu einer machtfreien Staatengemeinschaft gar? Utopie. Fazit Machtstreben-Theorie: im Auge behalten. Und weiter nachdenken.

8. Rasse, Ethnie, Religion

Die drei hier behandelten Ursachen sind sozusagen die Hardcore-Gründe, weswegen Kriege anfangen und – nicht selten – kaum ein Ende finden wollen. Rasse, Ethnie und Religion waren an fast jeder Auseinandersetzung beteiligt, die in den letzten paar hundert Jahren stattfand. Reformation, Jakobitenkriege, die Land- und Kolonialfeldzüge gegen die amerikanischen Ureinwohner sowie die Populationen der nicht (so) entwickelten Welt; die Nazis, Nordirland, der Völkermord in Ruanda, aktuell wieder die nicht enden wollenden Auseinandersetzungen im Gaza-Streifen und neu aufgeflammte in den USA anlässlich von Polizei-Todesschüssen auf einen unbewaffneten schwarzen Jugendlichen – die Beispiele sind vermutlich länger, als das Freitag-Portal Serverkapazitäten hat. Kriege wegen Rasse, Ethnie und Religion zeichnen sich durch zwei Eigenschaften aus: a) sind sie oft besonders scheußlich, die Bereitschaft, andere wegen äußerer Attribute oder aus schierer Intoleranz zu hassen, wirkt – jedenfalls, wenn man die Sache von außen betrachtet – besonders abstoßend. b) stehen die genannten drei, leider, auf der Hitliste der Kriegsursachen ganz weit oben.

Auch im Ukraine-Konflikt sind rassistische, zumindest antirussische Motive evident. Mehr noch: der nationalistische Drive führte letztlich zu einer immer weiter zunehmenden Radikalisierung – wobei die in Wahlen marginalen, allerdings gut bewaffneten Milizen des Rechten Sektors mittlerweile unverhohlen damit drohen können, die Regierung außerparlamentarisch unter Druck zu setzen. Nichtsdestotrotz: Als Kriegsursache allein ist die Erklärung »gruppenbezogener Hass« unbefriedigend. Andere mögliche Ursachen – Faschisierung eines Teils der Bevölkerung, Machismo, die allgemeine menschliche Natur – spielen zu sehr mit rein. Imperialistische Interessen sind mit Rasse, Ethnie und Religion ebenfalls eng verwandt. Ohne einen Kaiser und/oder Papst, der die Kreuzzugstruppen organisiert (und dabei auf Land und/oder eine zusätzliche Krone hofft), wären die Kreuzzüge vermutlich nicht mehr gewesen als ein ziemlich malader Pöbelhaufen. Fazit: Wir wissen zu wenig. Rassismus, religiöse oder ethnische Intoleranz werden gemeinhin zwar schnell moralisch verurteilt. Die tieferen Ursachen sind jedoch nach wie vor unerforscht. Neid? Konkurrenz? Das Bedürfnis, auf andere herabzusehen? Tipp, wie auch immer: dringend weiterforschen.

9. Separatismus

Wenn man möchte, ist Separatismus die etwas zurückhaltendere, gesittetere Anverwandtschaft der in Punkt acht angeführten Gründe. Man will nicht mehr mit den andern – entweder so richtig noch nie, oder die Bedingungen haben sich geändert. Ebenso wie rassistische, ethnisch bedingte und religiöse treten separatistische Ursachen eher im Bündel mit anderen auf als solo. Da oft die Loslösung von Imperien das Problem ist, bilden separatistische und imperialistische Kriegsgründe oft eine nur noch schwer entwirrbare Gemengelage. War oder ist der britische Konflikt mit den Nachbarn auf der Grünen Insel deshalb so vertrackt, weil da zwei Völker und Konfessionen nebeneinander existierten? Wobei die einen die anderen eben vereinnahmten? Oder deswegen, weil das britische Imperium einen rassistisch diskriminierbaren Kolonialraum direkt vor seiner Haustür benötigte? Henne, Ei, Ursache, Wirkung – gerade bei separatistischen Konfliktsituationen oft nur schwer auseinanderzuhalten.

Doch damit nicht genug. Vertrackt sind separatistisch aufgeladene Konfliktherde unter anderem auch deswegen, weil sie Außenstehende zur Parteinahme auffordern. Wir oder die? Bittesehr ohne Wenn und Aber! Die Ukraine ist für diesen Typ Konfliktursache sozusagen das Paradebeispiel. Die aktuelle ukrainische Regierung insistiert zwar rigoros auf dem Punkt, dass sie allein die legitime Zentralregierung sei und die Novorussisten im Osten eben Separatisten – Rebellen, Banditen. Auch die NATO hat sich dieser Sichtweise – zu gerne – angeschlossen. Diametral entgegengesetzt bekanntlich zur NATO-Position im Kosovo-Konfikt. Historisch ist es allerdings durchaus legitim, den Konflikt komplett anders zu sehen: ukrainische Separatisten und Nationalisten, die sich von aus ihrem ehemaligen Imperium herausgelöst haben und gegen die Kräfte, die im traditionellen Verband verbleiben wollen, nunmehr einen Bürgerkrieg führen. Aufzulösen sind Konflikte mit Separatismus-Hintergrund meist ähnlich schwer wie solche mit ethnischen, rassischen oder religiösen Hintergründen. Bester Rat, der hier möglich ist: die Beweggründe von Separationsbestrebungen ernst nehmen und bei den Hintergründen nicht wegschauen. Insbesondere dann, wenn ein Stärke–Schwäche-Gefälle hinzukommt.

10. Hineinschliddern

In den Sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erschien ein Buch, welches mit der Legende aufräumte, am Ersten Weltkrieg sei eigentlich niemand so recht schuld gewesen und alle mehr oder weniger hineingeschliddert. Fritz Fischers Griff nach der Weltmacht platzte in die bundesdeutsche Nachkriegshistorik wie eine Bombe. Für den Rest des Jahrtausends galt – wenn auch etwas widerstrebend – die Einsicht, dass das wilhelminische Deutschland – zusammen mit der k. u- k.-Monarchie – doch deutlich mehr zum Kriegsausbruch beigetragen hat als die Entente oder der vielgerühmte Sack Reis in China. Die Wegemarken waren einfach zu unübersehbar: Ultimatum an Serbien, Blankoscheck, Schlieffen-Plan inklusive Einfall ins neutrale Belgien sowie eine imperialistische Retorik, die schon Jahre zuvor vom Platz an der Sonne gefaselt hatte. Fischers Buch war weit mehr als lediglich eine neue, etwas exaltierte Position zur Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Seit Fischer ist es auch in bürgerlichen Kreisen kein Tabubruch mehr, Politikern respektive Eliten schlechte, selbstbezogene Absicht zu unterstellen. Selbst denen im eigenen Land.

In den letzten Jahren wurden Fischers Erkenntnisse – man muß es leider so sagen – durch den neudeutschen Wir-sind-wieder-wer-Commonsense der Berliner Republik überrollt. Revisionistische Positionen, denenzufolge am Ersten Weltkrieg alle (oder keiner) Schuld trug, haben im Jubliläumsjahr 2014 den Büchermarkt geradezu überflutet. Beispiele: Christopher Clark als Kronzeuge unter den angelsächsischen Historikern (Die Schlafwandler) oder auch der an der Schuldfrage ziemlich desinteressierte Jörg Friedrich (14/18 – Der Weg nach Versailles). Betrachten wir die Theorie. Die Kernaussage: Politiker und Herrschende allgemein wollten – jedenfalls ist das in demokratieähnlichen Staaten so – stets das Beste. Aufgrund von Mißverständnissen und Fehlern ist es – nichtsdestotrotz und leiderleider – immer wieder zu Kriegen gekommen. Eine Theorie, die man auch auf den aktuellen Ukraine-Konfikt anwenden kann. Alle wollten nur das Beste: Steinmeier, Klitschko, Jazenjuk, Poroschenko. Nur die Separatisten im Osten sowie Putin drehen leider am Rad. Fazit: Dass die Hineinschliddern-Theorie der schlechteste aller Erklärungsansätze ist, liegt auf der Hand. Konjunktur hat er vor allem in solchen Zeiten, in denen die linken Kräfte schwach aufgestellt sind. Und herrschende Eliten die Chance wittern, eine bestimmte Konfliktpartei – entweder historisch oder aktuell – von Schuld und Verantwortung reinzuwaschen.

Epilog: Was man gegen Krieg tun kann

Die Geschichte der erfolglosen Kriegsverhinderungen ist, wenn man so will, fast noch trostloser als die Kriegshistorie der Menschheit insgesamt. Die Internationale – gescheitert. Die Sufragetten – war ihnen egal. Die Pazifisten – gescheitert. Die Lösungsansätze, die letztlich funktionierten, waren meist robusterer Natur. Paradebeispiel: der Zweite Weltkrieg – wie der Name schon sagt: ein Krieg, extreme Gewalt sozusagen als ultimatives Gegenmittel. Auch die radikalen Internationalisten scheuten das Mittel des Kriegs keinesfalls. Die Hauptparole der sich anbahnenden Novemberrevolution in Deutschland 1918 lautete folgerichtig: Krieg dem Krieg! Die dahinterstehende Überlegung: Eine Sache, die man derart von ganzem Herzen verabscheut, kann nur durch radikale Mittel bekämpft werden. Notfalls die radikalsten denkbaren. Den Generalstreik. Die Sabotage. Die Revolution. Zwischenzeitlich gibt es andere Gegenmittel – zumindest Trends, die Hoffnung machen sollen. Die allgemeine Fortentwicklung, respektive die Globalisierung. Der Stand der Rüstung, der letztlich auch einen Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion erfolgreich verhinderte. Last but not least: die Vernunft der Herrschenden – jedenfalls so lange, wie keine Durchgeknallten am Drücker sitzen wie in Deutschland ein ehemaliger Wehrmachtsgefreiter.

Was bleibt? Möglicherweise die Demokratie. Auf lange Sicht, so die Apologeten des westlich-demokratischen Modells, haben sich demokatische Gesellschaften nicht nur als die zivileren erwiesen, sondern auch als die unkriegerischeren. Selbst die USA – mit ihren vielen Stellvertreterkriegen eher Paradebeispiel für die Gegenthese – bestätigen auf den zweiten Blick zumindest einen Teil dieser Behauptung. Dass Demokratien nämlich zumindest dann weniger kriegslüstern sind, wenn die eigene Population absehbar und auf existenzielle Weise in Mitleidenschaft gezogen wird. Blitzkrieg-Strategie, Ostraum-Lebensraum und Erringung der Weltherrschaft mittels eines stehenden Multimillionen-Heers? Mit einem Präsident Obama – ziemlich undenkbar. Anders als der alte Fritz oder der »größte Führer aller Zeiten« müssen die demokatischen Führungsgestalten die Befindlichkeit (und Empfindlichkeiten) ihrer jeweiligen Population mit ins Kalkül ziehen. (Selbst Hitler und Wilhelm II kamen um diesen Aspekt nicht ganz herum, aber das steht auf einem anderen Blatt.)

An dem Punkt kommen die Medien ins Spiel. Genauer – die Macht, die Schlüsselrolle, die sie mittlerweile in den politischen Szenerien der westlichen Länder einnehmen. Ein Punkt, der leider mehr und mehr Anlass zur Sorge bietet – wie aktuell anhand der Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt zu sehen (siehe hierzu auch diesen Beitrag in der Freitag-Community). Mit Manipulation läßt sich auch Kriegsstimmung schüren, herbeischreiben. Wie schnell eine Gesellschaft mit etwas Pech und bösem Willen in den Krieg abgleiten kann, dafür ist nicht zuletzt die Ukraine ein warnendes Beispiel. Abgesehen davon, dass auch im demokratischen Westen die Demokratie keinesfalls im Trend liegt. Global agierende Eliten agieren als Einflüsterer ebenso im Hintergrund wie lokale. Was wird die kommende Zeit bringen? Wie auch immer – es lohnt sich mehr denn je, sich ernsthafter auseinanderzusetzen mit den Dingen rund um Krieg und Frieden. Welches Erklärungsmodell man persönlich (am meisten, vorwiegend oder mehr als andere) favorisiert, ist dabei letztlich fast eine zweitrangige Frage.

DENKER:

Machiavelli: überführte die Theorie der robusten Interessenvertretung in einen All-Times-Beststeller

Thomas Hobbes: begründete, warum der Mensch schlecht ist und einer starken Führung bedarf

Karl Marx: analysierte die Triebkräfte des Kapitalismus

Wladimir Illitsch Lenin: seine Imperialismustheorie wird durch die Verhältnisse stetig aktualisiert

Georgi Dimitrow: unterschied zwischen kapitalistischem Normalzustand und faschistischem Alarmzustand. Propagiertes Gegenmittel: Volksfront-Bündnisse.

Fritz Fischer: widerlegte die Theorie, dass in den Ersten Weltkrieg alle nur hineingeschliddert wären.

Bertrand Russell: setzte sich in seinem Lebenswerk unter anderem gegen die Vorherrschaft des Militärisch-industriellen Komplexes ein

Kate Millett: analysierte die strukturellen Herrschaftsmechanismen des Patriarchats

Jared Diamond: gilt als der bekannteste Kulturanthropologe

Zbigniew Brzezinski: plädiert für eine imperiale US-Außenpolitik ohne Wenn und Aber

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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