Gegen den Strich gebürstet

US-Geschichte Die Historikerin Jill Lepore geht Anspruch und Realität der amerikanischen Verfassungsgrundsätze nach. Das Ergebnis liest sich wie ein Politthriller

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Jill Lepore betrachtet die US-amerikanische Geschichte vor allem anhand zweier Gruppen, die besonders benachteiligt werden: Frauen und Afroamerikaner*innen
Jill Lepore betrachtet die US-amerikanische Geschichte vor allem anhand zweier Gruppen, die besonders benachteiligt werden: Frauen und Afroamerikaner*innen

Foto: National Archive/Newsmakers

Komplettabhandlungen zur Geschichte der USA sind westlich des Atlantik zwar dichter gesät als in »Good Old Europe«. Wenn eine Historikerin sich jedoch darauf beschränkt, Anspruch, Wirklichkeit und Entwicklung der grundlegenden US-Verfassungsgrundsätze darzulegen und dies in einem Werk mit über 1100 Seiten tut, dann stellt sich durchaus die Frage: Liegt ein neuer Klassiker der Geschichtswissenschaften vor oder nicht? »Diese Wahrheiten«, im Oktober bei C. H. Beck erschienen, wird mit besagtem Edelsprädikat zwar beworben. Da Standardwerke nicht ausschließlich nach Seitenzahlen gezählt werden und auch auf dem deutschen Markt bereits mehrere »Standards« zur US-Geschichte präsent sind, ist eine gewisse Eingangsskepsis durchaus berechtigt. Anders gefragt: Mit welchen neuen Erkenntnissen, Zusammenhängen, Fakten wartet Jill Lepore, die Autorin des neuen Titels, auf? Was wird erörtert, was etwa in den Gesamtdarstellungen von Heideking/Mauch (Erstauflage: 1996) und Bernd Stöver (2012) nicht nachzulesen ist?

Vorweggreifende Antwort: eine ganze Menge. Die beiden aufgeführten Werke werden dem Anspruch, eine einigermaßen ereignisvollständige Komplettabhandlung zu liefern, zwar weitestgehend gerecht. Jürgen Heideking und Christof Mauch verfolgen in ihrem (mehrmals nachaufgelegten) Titel »Geschichte der USA« sozusagen den klassischen Ansatz – die großen Linien und sonst nichts als Fakten, Fakten, Fakten. Bernd Stövers ebenfalls bei C. H. Beck erschienenes Buch »United States of America« kapriziert sich stärker auf die Faszination, die hierzulande noch immer vom »American Dream« ausgeht – ein Ansatz, der auch kritischen Fragestellungen mehr Raum gibt. Jill Lepore tut nichts von alledem. Anstatt die altbekannte Geschichte mit ihren Haupt- und Nebensträngen in modernisiertem Gewand darzulegen oder auf noch wenig erschlossene kulturelle Felder auszuweichen, fokussiert sie ebenso stur wie souverän auf einen Ausschnitt, ein wesentliches Detail – um von diesem aus die Frage aufzuwerfen, wie es US-Bevölkerung und politisch Verantwortliche mit ihren eigenen Verfassungsansprüchen gehalten haben.

Obwohl es im Verlauf der letzten 250 Jahre diesbezüglich wesentliche Wegmarken und Veränderungen gegeben hat, erfahren der Leser und die Leserin bereits in der Einleitung: nicht so gut. Die von Thomas Jefferson ausformulierten und in der Präambel der Unabhängigkeitserklärung verewigten »Wahrheiten«, dass, Zitat, »alle Menschen gleich & unabhängig geschaffen sind, natürliche & unveräußerliche Rechte besitzen, zu denen die Erhaltung des Lebens & Freiheit & das Streben nach Glück gehören« und »dass zur Sicherung dieser Ziele Regierungen unter den Menschen eingerichtet werden, die ihre rechtmäßige Kraft aus der Zustimmung der Regierten herleiten«, wird bereits in der Einleitung mit der Wirklichkeit kontrastiert. Eine Zeitungsanzeige aus der Zeit der Unabhängigkeitserklärung – so erfahren wir gleich als Einstimmung auf das, was folgt – enthielt folgendes Angebot: »ZU VERKAUFEN, EIN ANSEHNLICHES junges NEGERMÄDCHEN, 20 Jahre alt, sie ist gesund und hatte die Pocken, sie hat ein kleines männliches Kind.«

Die im Intro vorgenommene Fokussetzung ist durchaus Programm. Die Rassenfrage – genauer gesagt: die extrem ungleiche, von der Sklaverei über den Bürgerkrieg zu den in Restbeständen bis heute gültigen Jim-Crow-Gesetzen reichende Behandlung der in den USA lebenden Afroamerikaner(innen) – gibt den Grundtakt der Neuerscheinung vor. Narratives Hauptthema sind die von den Verfassungserrungenschaften ausgeschlossenen Schwarzen in der gesamten ersten Hälfte des Buches. Für die Darlegung ihrer Kontrastbilder nimmt sich Lepore Zeit und Seitenplatz. Die vier Kapitel des ersten Buchteils behandeln die Vorgeschichte des Experiments USA sowie die Diskussionen, die zur Verabschiedung der US-Verfassung führten. Im Mittelpunkt des anschließenden Buchteils steht das prekäre Gleichgewicht zwischen den Sklavenhalter-Staaten des Südens und dem (weitgehend) sklavenfreien Norden. Dass die Probleme mit Lincolns Sklavenbefreiungs-Deklaration und dem Ende des Bürgerkriegs keinesfalls gelöst waren, zeigen die Entwicklungen, die im dritten Buchteil behandelt wurden. Zusätzlicher Erzählstrang hier: die politische Rechtlosigkeit der Frauen – eine weitere Bevölkerungsgruppe, die von den Verfassungsvätern als nicht wirklich »gleich« angesehen wurde.

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Die thematische Gesamtakzentuierung, die Jill Lepore vornimmt – sprich: die Fokussierung auf die beiden Haupt-Benachteiligtengruppen Afroamerikaner und Frauen –, hat ihre Schwächen. Bereits eine »normale«, sich entlang der bekannten Fakten entlang hangelnde Darstellung brächte kaum »alles« in einem Gesamtwerk unter. Lepores »Wahrheiten« nehmen daher Zuflucht zur großflächigen, beherzten Auslassung. Gängige Themen wie die Besiedlung des Westens, der Umgang mit den indigenen Ureinwohnern, der Industrialisierungsboom nach dem Bürgerkrieg, die soziale Frage mit ihren teils blutigen Auseinandersetzungen oder die Härten der Depressionsjahre kommen eher am Rande vor und untergeordnet unter den narrativen Hauptstrang. Sekundär wichtige Themen wie etwa die Prohibition sowie der damit verbundene Aufstieg des organisierten Verbrechens spart »Diese Wahrheiten« gleich gänzlich aus – ungeachtet der Tatsache, dass die Prohibition ein durchaus anvisiertes Ergebnis der von Lepore ausgiebig beschriebenen ersten Frauenemanzipationswelle war.

Interessant zu lesen, von konventioneller Historiendarstellung jedoch noch weiter entfernt ist ein Hauptstrang im dritten Teil – der zunehmende Einfluss der PR- und Meinungsforschungsindustrie auf die US-Politik. Wer hier entnervt denkt, diese Zusammenhänge bereits bei Marshall McLuhan gelesen zu haben, wird im vierten Teil reichlich belohnt. Hauptthema hier: der gesellschaftliche Backlash, der in den 1970ern einsetzte und unter anderem zur Folge hatte, dass das komplette US-Parteiensystem neu kalibriert wurde: Links – die Republikaner – wurden zu Rechts, rechts – die bisherigen Demokraten – rückten vergleichsweise nach links. Lepores Darstellung der Entwicklung folgt zwar den historischen Strängen. Nichtsdestotrotz tauchen die Figuren, die auch im Trump-Umfeld sowie der aktuellen Alt-Right eine Rolle spielen, in immer dichteren Abständen auf. Auch hier gibt Lepore Entwicklungen den Vorzug vor allseits bekannten Fakten. Deutlich wird dies anhand der ausführlichen Behandlung, die sie den – hierzulande weitgehend unbekannten – Moral-Majority-Organisator(inn)en Phillis Schlafly und Jerry Falwell einräumt. Puzzlestück für Puzzlestück legt Lepore im letzten Buchteil dar, mit welchem Zynismus die Protagonist(inn)en des rechtskonservativen Backlashs eine Bevölkerungsgruppe nach der anderen aus dem vormaligen New-Deal-Bündnis herausbrachen. Temporäre Rückschläge waren dabei, so Jill Lepore, mit eingepreist. Erfolgsmeldung eines republikanischen Politikberaters 1980: »Sie [die Demokraten] schneiden bei den Männern so schlecht ab, dass die Tatsache, dass wir bei den Frauen nicht mehr so gut ankommen, irrelevant wird.« (S. 813)

Die schlüssige (und in der Form durchaus neue) Beschreibung der Rechtsentwicklung, die schließlich zu einem Phänomen wie Donald Trump führte, macht zwar noch kein Historienbuch aus – vor allem keins mit Allgemeinheitsanspruch. Fakt allerdings ist, dass man die Schwächen von Lepores Titel beim Lesen leicht und mit Freude vergisst. Die 1966 in Massachusetts geborene Autorin ist einerseits zwar graduierte Historikerin. Die essayistische Form ihres Mammutwerks verrät jedoch mindestens ebenso ihre ausgiebige Erfahrung als Publizistin – unter anderem für den New Yorker, die New York Times sowie die außenpolitische Fachzeitschrift Foreign Affairs. Konkret bedeutet dies: Die einzelnen Handlungsstränge werden durchweg mittels narrativ vorgehender Erzählungen miteinander verknüpft; entsprechend ist auch der Gesamtduktus der Darstellung eher ein erzählerischer als einer, der Faktenwissen an Faktenwissen reiht. Neu an »Diese Wahrheiten« ist so vor allem die personenbezogene, auf das Erzählen von Einzelepisoden fokussierte Art, mit der Jill Lepore Jefferson mit Franklin kontrastiert, Abraham Lincoln als Andrew Jacksons Erbverwalter hinstellt, den ersten Roosevelt als Vorbereiter des zweiten portraitiert und Nixon schließlich als Wegbereiter von Donald Trump.

Geschichte darf – auch – unterhaltsam sein: ein möglicher Grund, weshalb »Diese Wahrheiten« derzeit vor allem Lob einfährt (siehe Rezensionen in der Zeit und der FAZ). Lediglich Michael Hochgeschwender – ein Historiker, der selbst einen Titel zur Amerikanischen Revolution publiziert hat – ging mit der Neuerscheinung kritischer ins Gericht. Fazit so: Leser(innen), für die die US-Historie weitgehend eine terra incognita ist, werden aus Lepores »Wahrheiten« vermutlich weniger Gewinn ziehen. Für Leser(innen) mit Basiskenntnissen hingegen ist sie eine gut geschriebene, streckenweise hochspannende und mit Gewinn zu lesende Abhandlung über jene Stränge der US-Geschichte, die im großen Narrativ gemeinhin zu kurz kommen. Im Gegensatz zu linken Historikern wie zum Beispiel Howard Zinn reiht Lepore nicht ein Unrecht an das nächste, um so quasi die Schlechtigkeit der Gesamtkonstruktion zu beweisen. »Diese Wahrheiten« misst die Realität an ihren Ansprüchen – nicht mehr und nicht weniger. Die »Auslasser« dabei mag man beklagen oder, mit teilweise berechtigten Gründen, als Komplettbild-beschädigend ansehen. Sicher machen die beiden Hauptstränge »Ausgrenzung der Afroamerikaner« und »Benachteiligung der Frauen« nicht die US-Geschichte in ihrer Vollständigkeit aus. Aber – wie »Diese Wahrheiten« unter Beweis stellt – doch einen sehr wesentlichen Teil.

Dem Wesen der Lücke, die zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft, ist Jill Lepore mit ihrem fulminant geschriebenen, wenngleich auch thematisch selektiven Werk ein gutes Stück nähergekommen.

Jill Lepore: Diese Wahrheiten. Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. C. H. Beck, München, Oktober 2019. 1120 Seiten, € 39,95. ISBN 978-3-406-73988-0.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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