Genese von Soziopathen

Buchkritik Französische Autor(inn)en portraitierten schon immer stark den Zustand ihrer Gesellschaft. Karine Tuil liefert mit »Menschliche Dinge« den Roman zur MeToo-Debatte

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Karine Tuil und ihre Karambolage-Romane von der Front der französischen Auf- und Abstiegsgesellschaft sind mittlerweile ihre eigene Entität
Karine Tuil und ihre Karambolage-Romane von der Front der französischen Auf- und Abstiegsgesellschaft sind mittlerweile ihre eigene Entität

Foto: Joel Saget/AFP via Getty Images

Ein Spannungsroman? Oder ein anspruchsvolles, dem klassischen Gesellschaftsroman verpflichtetes Sittenbild unserer modernen Zeit? Zumindest potenziellen Rezensent(inn)en macht es die 1972 in Paris geborene Autorin Karine Tuil nicht gerade einfach. Ihr 2019 in Frankreich erschienener und nunmehr auch auf Deutsch vorliegender neuer Roman begibt sich erzähltechnisch in die Spuren großer US-Vorbilder – allen voran John Grisham. Mit Grishams Courtroomthrillern teilt die Paradeautorin des französischen Exofictionalismus nicht nur das Grundgerüst, an dem die Handlung in »Menschliche Dinge« ausgerichtet ist. Ebenso wie dem Mastermind der US-amerikanischen Spannungsliteratur bietet auch Grishams französischer Novizin der Gerichtsprozess die geeignete Kulisse, um ein – menschliches, allzu menschliches – Drama auf den Weg zu bringen.

Neu ist die Methode, sich für den gesellschaftspolitischen Anspruchsroman Elemente des Spannungsromans auszuborgen, nicht. Karine Tuil, Tochter nordafrikanischer Juden und Verfasserin von nunmehr elf Romanen, hat dieses Muster bereits bei den beiden Vorgängertiteln zur Anwendung gebracht. Konnte man »Die Gierigen« (2013) noch als Beziehungs-Kammerspiel ansehen zwischen jenen, die sich auf der gesellschaftlichen Leiter hochgearbeitet haben und jenen, die in der Prekärarbeits-Hölle verblieben, offerierte »Die Zeit der Ruhelosen« (2016) den Konflikt zwischen oben und unten, Frau und Mann, Weiß und „of Colour“ als Showdown in der Art eines klassischen Bolero – ruhig zu Beginn, aber mit immensem Steigerungspotenzial. Das Murphy’sche Gesetz, demzufolge das, was schief gehen kann, meist auch schiefgeht, ist auch in Tuils neuestem Roman stetiger Wegbegleiter. Noch stärker als in Tuils vorangegangenen Romanen steht jene gesellschaftliche Schicht im Mittelpunkt, für die als Synonym der Name Dominique Strauss-Kahn steht: die Macher an der Spitze – erfolgreich, grenzenlos, grenzüberschreitend, gestählt im Parcour der Elitenschulen und in nicht wenigen Fällen einfach zum Fürchten.

Ein solches Spitzenexemplar der Pariserisch-französischen Elite ist Jean Farel – Frontmann eines erfolgreichen Nachrichten- und Talk-Formats beim französischen Fernsehen. Farels Ehe hat sämtliche Stadien der Entfremdung, der Auflösung und der Trennung bereits hinter sich – was ihm sozusagen den letzten Freischein ausstellt, unbehelligt zwischen Freundin und unverbindlicher amour fou mit einer seiner Praktikantinnen hin und her zu pendeln. Praktikantin war einst auch seine Frau Claire – als Expat damals im Weißen Haus. Dass es damals Monica Lewinsky getroffen hat und nicht sie, hält Claire – mittlerweile Feministin, erfolgreiche Journalistin und Diksussions-Gast, der auch bei einem kontroversen Thema wie »Übergriffe in der Kölner Silvesternacht« mutig Position bezieht – für reinen Zufall. Dritter im Bunde der Farels ist Sohn Alexandre. Alexandre Farels Biografie ist von diversen disfunktionalen Auffälligkeiten geprägt – nicht gänzlich unverwunderlich in diesem Reigen ebenso egomanischer wie schichtbewußter Hautevolée-Repräsentanten und romandramaturgisch gesehen der plastische Beweis, wie sich Disfunktionalitäten von einer Generation auf die nächste vererben.

Zum Breaking Point, auf den die erste Romanhälfte zuläuft, gerät eine Vergewaltigung. Eine Party-Challenge mit den Slip einer Teilnehmerin als Trophäe ist aus den Fugen geraten. Genauer: richtig böse aus den Fugen geraten. Und natürlich war schon zuvor eine Menge kaputt. Karine Tuil führt in »Menschliche Dinge« eine Art Patchwork-Familie vor, in der einer nach dem anderen mit seinen Lebenslügen konfrontiert wird. Vierte Person in dieser Familienanordnung ist das Opfer: Mila Wizmann, Tochter – wie es der Zufall so will – von Claires neuem Freund, dem Banlieue-Sozialarbeiter Adam und dessen Ex, einer nach Brooklyn, New York, gezogenen ultraorthodoxen Jüdin. Der Rest des Romans beschäftigt sich mit den Folgen der gesellschaftlichen und persönlichen Katastrophe(n). Handlungstechnisches Gerippe ist die juristische Aufarbeitung der Vergewaltigung – ein erzählerischer Rahmen, der auf angenehme Weise für Struktur und Klarheit sorgt und der vorwiegend mit den Mitteln des Courtroom-Thrillers vorangetrieben wird. Motto, so viel sei verraten: Keiner kommt aus seinen Lebenslügen unbeschadet heraus – auf »Position Anfang« zurückzugehen ist weder Opfer(n) noch Täter(n) möglich.

Ist »Menschliche Dinge« ein Roman, welcher das desolate Geschlechterverhältnis auf den Punkt bringt? Sicher – mit einer entsprechenden Portion Grund-Skeptizismus kann man es so sehen. Rein politisch gesehen liegt man sicher nicht falsch, wenn man »Menschliche Dinge« als Schlüsselroman zur MeToo-Debatte bezeichnet. Bemerkenswert ist darüber hinaus ein drittes, auf die unterschiedliche politische Kultur in Frankreich und Deutschland verweisendes Moment: Während in deutschen Landen – siehe die aktuelle Spiegel-Bestsellerliste – nach wie vor die altbekannte Mixtur aus Bildungsbürgerlich-Schwerblütigem, Innerlichem und Romantisch-Eskapistischen das Terrain bestimmt, stürzen sich die Autor(inn)en im westlichen Nachbarland geradezu auf die politisch-gesellschaftliche Allgemeinverfasstheit ihres Landes. Eine Art zu reden, Themen zu benennen, die durchaus unterschiedliche Prioritäten erkennen lässt. Während Deutschlands Star-Autorin Juli Zeh sich zuletzt gegen die ihrer Meinung nach zu restriktiven, freiheitseinschränkenden Corona-Regelungen exponierte, grätschte Frankreichs Skandalautorin Virginie Despentes, die Ehrung des umstrittenen Filmemachers Roman Polanski war der Anlass, gegen die ungebrochene Macht der mächtigen weißen Einflussträger.

Doch nicht nur politisch-gesellschaftlich pflegen französische Autor(inn)en gemeinhin eine weniger verschnörkelte, klarere Form des Aussage-Treffens. Auch die Geschichten selbst sind weitaus näher am Klartext gebaut, entsprechend ballastfreier und fern der in deutschen Landen so beliebten Selbstreferenzialität. Insofern kommt die politische Aufklärung à la française fast als Faustschlag-Staffel auf deutsche Buchtische: vorgestern eine Underdog-Trilogie, gestern eine prekäre Liebesgeschichte (Marion Messina: »Fehlstart«), heute ein Polar-Thriller über die Putztruppen der Neofaschisten auf dem Weg zur Machtergreifung (Jerome Leroy: »Der Schutzengel«) – und natürlich: eben Karine Tuils aktuelles Gesellschafts-Sittengemälde.

Fazit: Wer der Meinung ist, dass Literatur die gesellschaftlichen Verhältnisse abbilden sollte, ist bei Karine Tuils neuem Roman genau richtig. Die Sprache folgt auf angenehme Weise der Maxime »Form Follows Function« – ist also weder überkünstelt noch in sonst einer Weise sonderlich stilisiert. Der Plot orientiert sich an dem – aus der Spannungsliteratur mittlerweile hinlänglich eingeführtem – Pageturner-Prinzip, hält zu den Schablonenlösungen des Suspense-Genres jedoch stets Abstand. Letzten Endes ist es die Stimmigkeit der Geschichte, die zählt. Vom Thema her ist »Menschliche Dinge« ein klassischer Bildungs- respektive Gesellschaftsroman. Ob Grisham oder Balzac als Vergleichs-Entitäten taugen, sei an der Stelle dahingestellt. Ich persönlich denke, Karine Tuil und ihre Karambolage-Romane von der Front der französischen Auf- und Abstiegsgesellschaft sind mittlerweile ihre eigene Entität.

Karine Tuil: Menschliche Dinge. Claassen Verlag, Berlin 2020, 384 Seiten, 22 Euro. ISBN: 978-3-546-10002-1.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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