Hamburg: Die provozierte Eskalation

G20 »Durchgreifen«, »Keine Toleranz«, »Hamburger Linie«: Das »Harte Kante«-Konzept der Hamburger Polizei ist zwischenzeitlich selbst seinen Planern entglitten.

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Nicht auszuschließen, dass die seit Anfang der Woche eskalierenden Auseinandersetzungen um den G20-Gipfel Teil eines inszenierten Spiels waren. Nach zwei Tagen »Hamburg außer Rand und Band«, gipfend in dem mit hinzugezogenen Spezial-Einsatzkräften durchgeführten Einnahme des Schanzenviertels, steht es aktuell ungefähr 2:2 – jedenfalls im Rahmen der Logik, welche Hamburger Innensenat und Polizeiführung der Stadt zwangsübergestülpt haben. Ein Ende ist nicht absehbar. Der Freitag lieferte lediglich Anschauungsmaterial darüber, dass die Wahl der staatlichen Gewaltmittel durchaus noch steigerbar ist: Maschinengewehre sowie Spezialkräfte waren letzte Nacht bereits mit von der Partie. Zusätzlich stehen Bundeswehr-Hilfskräfte in Bereitschaft, die an der Belastungsgrenze stehenden Polizeieinsatzkräfte wurden gestern mit zusätzlichen Reserve-Hundertschaften aufgestockt (teilweise aus Österreich). Selbst Panzer wurden zwischenzeitlich auf Hamburger Straßen gesichtet – wenn auch nur, wie hastig verlautbart wurde, im Zug einer organisatorisch bedingten Fuhrpark-Umstellung, die mit dem Gipfel nichts zu tun habe

Obwohl die Lage unter Kontrolle sein soll, gab es im Verlauf des gestrigen Freitags neue, ungewohnte Töne. Die Hamburger Einsatzleitung räumte ein, dass die Lage zeitweilig entglitten sei und man derzeit an Nachjustierungen arbeite. Bei der letzten Aktion – dem nächtlichen Einrücken ins Schanzenviertel – nahm die Einsatzführung sogar taktische Verzögerungen in Kauf, um mit genügend starken Kräften präsent zu sein. Aktueller Stand: Obwohl Überraschungen und weitere Eskalationen auch am heutigen Tag durchaus noch drin sind, dürfte der Zenit der Steigerungsfähigkeit mit dem Ende der letzten Nacht erreicht sein. Die Hamburger Polizei und der dahinterstehende SPD-Innensenat haben eine geradezu fulminante Ernte eingefahren: Bilder wie im Krieg, Stirb langsam via Medien-Lifestream und Robocops, die sich – wie weiland die Legionen des Varus im Teuteburger Wald – orientierungslos durch feindliche Stadtviertel schlugen.

Hartmut Dudde: der Eskalationsprofi

Der Mann, der sich nach wie vor auf auf dem Feldherren-Gipfel der nach wie vor anhaltenden Gipfel-Auseinandersetzungen sieht, heißt Hartmut Dudde. Über die Mission besteht spätestens seit Wochenanfang keinerlei Unklarheit: Aufstandsbekämpfung, koste es, was es wolle. Nichtmilitärische Erwägungen sind seit Wochenanfang suspendiert; die Bilder arbeiten sich – wenn auch (noch) nicht in der Größenordnung – langsam an die Zustände der Pariser Kommune heran. Und auch aktuell spricht wenig für die Annahme, dass Dudde seine Rolle anders sieht als Teilnehmer in einem Real-Live-Ballerspiel Marke Call of Duty in dem es allein um das taktisch kluge Umherschieben der eigenen Muds geht, darum, den Feind niederzuringen und – Target eliminated – schlussendlich als Sieger auf dem Platz zu stehen. Nur: Aktuell weit und breit kein Erwachsener, der dieses kriegspielende Kind vom Platz nimmt.

Nichtsdestotrotz steht das Wesentliche über Hartmut Dudde bereits in Wikipedia: ein Polizeiführungs-Technokrat, tüchtig, einsatzfreudig, ansonsten ohne größere Auffälligkeiten. Obwohl Dudde den Start seiner Polizeikarriere unter den Fittichen des damaligen Innensenators Ronald Schill (»Richter Gnadenlos«) begann, überlebte er Schills politischen Abgang ohne weitere Plessuren. 2012 machte ihn der damalige SPD-Innensenator Michael Neumann (SPD) zum obersten Hamburger Polizei-Einsatzleiter. Seither gilt Dudde als wesentlicher Architekt der »Hamburger Linie« – eine Linie, die er seit 2016 auch als oberster Gesamtführer des G20-Polizeieinsatzes maßgeblich mitgeprägt hat.

Ein Freund von entschiedenem Durchgreifen ist Hartmut Dudde nicht erst seit 2016. Vielmehr zieht sie sich wie ein roter Faden durch sein bisheriges einsatzleiterisches Leben. Ein taz-Artikel listete die Kollateralschäden für die Versammlungsrecht-Praxis der liberalen Hansestadt bereits vor zwei Jahren auf. Die Kerben auf Duddes Marshall-Colt: gerichtlich als rechtswidrig eingestufte Einsätze wie die Kesselung einer Anti-Repressions-Demo 2007, Auflösung einer Umweltschützer-Demo, weil sie zu lange dauerte, Auflösung einer Demo vor dem Zentrum Rote Flora mit der Begründung, die Transparentstangen seien länger als 1,50 m, Sturm eines Stadtteilfestes mit der Begründung, zu Randale komme es ja eh sowie – mittlerweile unter Ägide der neuen rotgrünen Koalition – Freiknüppeln einer NPD-Demoroute, obwohl ein Ersatzweg zur Verfügung stand. Ein Ereignis, das ebenfalls zu den vorhersagbaren Krawallen führte.

Kollateralschäden, die sich summieren. »Der G20-Sheriff« (n-TV); »der Mann fürs Grobe« (Tagesspiegel); »der überzeugte harte Hund« (taz): Nach fünf krawalligen Tagen und einer Stadt, die sich nach wochenlangem Ausnahmezustand am Limit befindet, sind auch die großen bürgerlichen Medien nicht mehr so recht glücklich mit ihrem schlagzeilentauglichen Polizeihelden. Eine Linie, die seltsam anmutet: Hatten ebenjene Medien doch wochenlang die Verlautbarungen aus Duddes Pressestab in ihre Headlines gepackt: Mindestens 8000 Chaoten – gewaltbereit, linksextem, zu allem bereit, teils aus dem Ausland – sollten im Anmarsch sein: auch wenn sich die Realität im Verlauf der Tage völlig anders darstellte und selbst die Welcome to Hell-Demo, wie diese Vor-Ort-Einschätzung bei SPON darlegt, überwiegend von friedlichen Demonstranten und Protestformen bestimmt war.

Nichtsdestotrotz ließ sich Dudde am Donnerstag seine historische Referenz nicht nehmen und brachte bei der (bislang friedliche) WtH-Demo die berühmte Leberwursttaktik zur Anwendung. Wie der 2. Juni 1967, der mit den tödlichen Schüssen auf Benno Ohnesorg endete, dürfte sich auch der Abend des 6. Juli 2017 mit zeitweiligem Duisburger Loveparade-Feeling als das Schlüsselereignis erweisen, ab dem die Situation unrettbar außer Rand und Band geriet. Mit Hang zu Zynismus könnte man kommentieren: Mission accomplished. Anders gesagt: Hier haben politisch Verantwortliche letztlich exakt das Ergebnis bekommen, dass sie zielstrebig anvisiert haben.

Die Medien: Fähnchen im Wind

Der Mann, dessen polizeiliche Allmachtsfantasien das absehbare Ergebnis brachten, dürfte so enden, wie das ein treuer Paladin eben tut. Kaum anzunehmen, dass der Hamburger Senat weiter an seinem großdesaströsen Polizei-Hardliner festhält. Im Hinblick auf die Gesamt-Berichterstattung ist positiv hervorzuheben, dass ein nicht unwesentlicher Teil der Leitmedien zunehmend abrückte von der bis dahin dominierenden Blaulicht-Berichterstattung. Kritische Töne schlichen sich mehr und mehr ein. Dunja Hayali etwa brachte in ihrem ZDF-Talk Ex-Innenminister Schily auf ein Sofa mit Emily Laquer von der Interventionistischen Linken, einem der radikaler orientierten Mitausrichter der Proteste.

Auch sonst waren gipfelkritische Aspekte keinesfalls ein Tabuthema. Teils mit unterschiedlichen Schlagseiten berichteten ARD, ZDF, SPON, Süddeutsche, Zeit, Welt, F.A.Z., Berliner Zeitung Tagesspiegel, taz, Focus & Co. über das unvermittbare, die Situation aufheizende Hickhack um die Camps, über angeödete Anwohner, welche die Stadt verließen, über Unzufriedenheit mit Lärm und Polizeipräsenz, über Umsatzeinbußen, gigantöse Kosten, die Frage, ob die Wahl des Gipfel-Orts der Weisheit letzter Schluss sei und schließlich über einen zerstrittenen, wenig glamourösen Gipfel sowie die unterschiedlichen Proteste dagegen.

Gut und der selbstreklamierten »vierten Gewalt« Rechnung tragend war die Berichterstattung speziell im dokumentierenden Teil. Die zahllosen Livestreams, Sondersendungen, Brennpunkte, Interviews, Liveblogs, Berichte und Nachrichtensendungen liefern derzeit nicht nur Nachrichten-Infos fast im Overkill-Modus. Unabhängig von Fragen einzelner Bewertungen (sowie der obligatorischen Gretchenfrage: »Wie hälst du’s mit der Gewalt?«) hat sich in den vergangenen Tagen ein Ausnahmezustand herauskristallisiert, der erkennbar von einzelnen politischen Akteuren forciert wurde und bei dem sich sechs unterschiedliche »Abstandsstufen« zum stattgefundenen Gipfel erkennen lassen: Befürwortung (vermutlich vernachlässigbar), Erduldung und Absenz (wo möglich, Abstimmung mit den Füssen), friedlicher Protest im Rahmen der gesetzlichen Regelungen, ziviler Ungehorsam, Proteste mit antikapitalistischer Ausrichtung und schließlich die Riots der beiden letzten Nächte, an denen alle knabbern und mit denen selbst der antikapitalistische Flügel zum Teil Probleme hat (siehe ndr-Feature: »G20-Protest: Gewalt droht Inhalte zu überschatten«).

Der Kampf um die Bilder ist in vollem Gang. Und, darüber hinaus: über die Deutungsmacht. Wo es um Deutungsmacht geht, ist stets die Selbstgerechtigkeit nicht weit. Ob die Krawallbilder diesmal die vom Ausnahmezustand, von einer Stadt unter Polizeibelagerung und einer ziemlich sinnfreien Renommierveranstaltung in den Hintergrund drängen? Wo selbst die Bilder nächtlicher Supermarkt-Plünderer einen schreienden Kontrast darstellen zu denen edelschlemmender, elbphilharmonierender Gipfelgäste in Edellimos, teuren Klamotten und auch sonst in jederlei Hinsicht entrückt im Narzismus ihrer jeweiligen staatsmännischen Cloud.

War es das wert? Ein Gutes hatte die Sache: Die Diskussion zumindest wird sich in den kommenden Wochen kaum wegdrängen lassen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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