Richtung Unabhängigkeit

Demokratie Die Repressionen gegen das zum 1. Oktober angesetzte Referendum steigern sich täglich. Treuester Paladin der konservativen Rajoy-Regierung: Angela Merkel

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"Wir wählen, um frei zu sein"
"Wir wählen, um frei zu sein"

Foto: Pau Barrena/AFP/Getty Images

Das Problem Katalonien lässt sich derzeit aus unterschiedlichen Warten betrachten. Beispielsweise der, wie vorrangig oder nachrangig Medien und Politik ihre Themen setzen. Entsprechend dieser Agenda pflegen die Verhältnisse in Spanien lediglich dann in den Blickpunkt zu rücken, wenn es Außerordentliches zu berichten gibt – ein spektakulärer Terroranschlag etwa oder Touristenrekorde an der Costa del Sol. Verfolgt man die aktuelle Eskalation rund um das zum 1. Oktober angesetzte Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien, drängen sich allerdings weitere Warten auf. Etwa die, dass die EU – ungeachtet aller Sonntagsreden über »europäische Werte« – tatenlos dabei zusieht, wie sich in einem Kernland der Union jugoslawische Gewitterwolken zusammenziehen. Oder auch die, dass es in Europa unterschiedliche Arten von Unabhängigkeitsbewegungen gibt – solche, die politisch erwünscht sind und solche, die nicht erwünscht sind. Eine probate Warte wäre schließlich auch die, dass nicht alles, was Recht ist, gleichzeitig auch vernünftig ist.

Hardliner gegen Unabhängigkeitsbefürworter

Für die letzte Warte liefert der konservativ-neoliberale spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy derzeit täglich Anschauungsmaterial: Drohungen, das Abschalten von Servern der katalanischen Regionalregierung, Beschlagnahmungen, Razzien, Festnahmen. Die nächsten Eskalationsstufen sind bereits fest im Blick; das demonstrative Verlassen einer Parlamentsdebatte, wie es letzte Woche nach den angekündigten Kurs-Verschärfungen geschah, dürfte dabei noch eine moderate Reaktion sein. Speziell die angekündigten Polizeimaßnahmen im Hinblick auf die Durchführung des Urnengangs dürften die Situation noch einmal erheblich verschärfen. Lange Rede kurzer Sinn: ein Showdown kündigt sich an – und zwar einer der Sorte, dessen Eskalationsstufen nach oben völlig offen sind.

Festzuhalten ist: Die Unabhängigkeitsfrage ist populär. Vielleicht nicht so stark in der Regions-Kapitale Barcelona – wo andere Fragen, nicht zuletzt soziale Gefälle sowie, ganz konkret, Probleme wie etwa Wohnungsnot den Alltag stark mitbestimmen. Im Umland allerdings ist die »Sí«-Bewegung allseits präsent. Von der Popularität der Unabhängigkeitsidee künden nicht nur die überall aufgehängten katalanischen Fahnen. Auch sonst lassen die Befürworter des Referendums kaum ein Mittel aus, ihre Anhänger zu mobilisieren – Flugzeug-Bannerwerbung an den Stränden, Infostände, Plakate, Kundgebungen. Ein Aufwand, der Erfolg zeitigen könnte: In den Umfragen jedenfalls liegen die Unabhängigkeitsbefürworter – wenn auch knapp – derzeit vorne.

Die Besonderheit des Falls Katalonien: Das gängige Totschlagsargument »rechtspopulistisch« wird den dortigen Unabhängigkeitsbestrebungen wenig gerecht. Sicher: Auch beim Referendum stehen wirtschaftliche Fragen im Vordergrund – speziell die, dass das katalanische Steueraufkommen für die Finanzierung schwächerer Regionen mit verwandt wird. Die tieferen Gründe verweisen allerdings zurück in die jüngere und ältere Historie. So wurde Katalonien erst vergleichsweise spät – Ende des 17. Jahrhunderts – Bestandteil der spanischen Monarchie. Die unter Zwang erfolgte Aneignung der wohlhabenden, von Handel und Handwerk geprägten Provinz war seither stetig von Okkupation und Fremdherrschaft geprägt. Die Extremform dieser Form Fremdherrschaft war die Franco-Diktatur, in deren Verlauf nicht nur die Region (wieder) systematisch benachteiligt wurde, sondern auch die Sprache – das Katalanische – verboten. Der Re-Regionalisierungsprozess der letzten Jahrzehnte hat diese Entwicklung zwar ein Stück weit umgekehrt. Herrschaftliche Ansagen aus Madrid mitbestimmen allerdings bis heute die Kommunikation zwischen der widerborstigen, wohlhabenden Region und der Zentrale.

Nicht alles, was Recht ist, ist gleichzeitig auch vernünftig: Was für die Repressionsschraube der spanischen Imperialträumen hinterherhängenden Westerncowboys um Mariano Rajoy gilt, gilt ebenso für die Loslösungs-Befürworter. In eine Loose-Loose-Situation gebracht haben sich derzeit letztendlich beide. Anders gesagt gibt es auf die Frage(n) von Rechtmäßigkeit und Sinnhaftigkeit möglicherweise unterschiedliche Antworten. Ob ein unabhängiges Katalonien die sozialen Probleme, die auch in der Region massig vorhanden sind, besser wird lösen können, steht ebenso in den Sternen wie die Frage, ob ein »Europa der Regionen« ausreicht als Antwort auf die neoliberale Krise. Entsprechend »quer« gestaltet sich auch die politische Szenerie zwischen Referendums-Befürwortern und Referendums-Gegnern. Träger der »Sí«-Kampagne ist ein linksliberales bis regionalkonservatives Bündnis. Obwohl der Bruch quer und längs durch die sonst gängige Links–Rechts-Parteienlandschaft verläuft, kann man die tragenden Referendumskräfte – die katalanische Regionalparteien Junts pel Sí und CUP – als gemäßigt fortschrittlich bezeichnen. Oder, etwas salopp-vereinfacht: im Kern Macron-Leute mit regionalistischem Anstrich. Neutral in Bezug auf die beabsichtigte Volksabstimmung beziehungsweise uneinheitlich verhält sich aktuell Podemos. Parteichef Pablo Iglesias etwa sprach sich persönlich gegen eine Abspaltung Kataloniens aus. Barcelonas populäre Bürgermeisterin Ada Colau hingegen – ebenfalls Podemos – gilt zwar ebenfalls als Skeptikerin. Umgekehrt kündigte sie allerdings an, für die Durchführung des Referendums in Barcelona mit Sorge zu tragen und klassifizierte die jüngsten Repressalien als »Skandal«.

Eine EU-Region vor der Abspaltung? Angesichts der stetig sich steigernden Repressionen sind die Weichen zum Showdown in der Tat gelegt. Im Anblick der Tatsache, dass eine (mögliche) Abspaltung Kataloniens die EU-Mitgliedschaft von letzterem nicht unmittelbar tangiert, verhält sich das Gros der Unions-Mitgliedsländer bislang nach dem Motto: Auf keinen Fall unnötiges Porzellan zerschlagen. Die USA und Frankreich betrachten – so die derzeitigen Infos im Wikipedia-Artikel zum Thema – das Referendum strikt als innerspanische Angelegenheit. Diplomatischer ist die offizielle Position der EU – zumindest die derzeitige. Verhaltene Signale, auch ein unabhängiges Katalonien anzuerkennen, kommen hingegen von Ungarn, der schottischen Regierung sowie der irischen Oppositionspartei Sinn Féin – wohingegen sich die UN sowie der Europarat eher zugeknöpft verhalten.

Angela Merkel, oder: die spanische Brandstifterin

Festgelegt auf die Seite Mariano Rajoys hat sich vor allem die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Merkels Regierungssprecher Steffen Seibert betonte auf einer Pressekonferenz zum Thema am 8. September, dass geltendes Recht sowie die Verfassung Spaniens Vorrang hätten. Seibert verwies auf die – hinsichtlich dem Brexit geäußerte – Position Merkels, dass das Prinzip der territorialen Einheit nicht berührt werden dürfe. Auf der Pressekonferenz äußerte sich Seibert noch konkreter. Auf die Nachfrage, wie die EU auf eine katalanische Unabhängigkeit konkret reagieren würde, äußerte Seibert die Ansicht, eine einseitige Unabhängigkeitserklärung würde den derzeitigen Verträgen zuwiderlaufen, die EU fordere deshalb die Achtung vor der nationalen Gesetzgebung – in dem Fall Spanien – und dem allgemeinen Völkerrecht.

Eine Pressekonferenz ist eine Pressekonferenz – und damit sicher noch kein Blankoscheck. Nichtsdestotrotz hat sich die Bundesregierung damit bereits im Konflikt-Vorfeld auf eine Seite festgelegt. Zusätzlich hinzugefügt werden muß: ohne Not. Im Sinn einer Einigung, welche beiden Parteien erlauben würde, ihr Gesicht zu wahren, sind zwar auch andere EU-Staaten und Institutionen bislang nicht in Erscheinung getreten. Die deutsche Rückenstärkung für die bürgerlich-konservative Zentralregierung unter dem – innenpolitisch auch an anderen Fronten unter Beschuss stehenden – Christdemokraten Mariano Rajoy könnte sich für die beschworene Einheit der Union jedoch als veritabler Rohrkrepierer erweisen. Zumal (kurzfristige) Machtpolitik der Merkel-Regierung auch hier vor geht vor politisch sinnvollen Erwägungen.

Möglich, dass Merkel einem Paladin den Rücken stärken möchte, der auch sonst einer der treuesten Gefolgsleute ist bei der Durchsetzung der deutschen Austeritätspolitik. Mittelfristig jedoch ist die einseitige Pro-Spanien-Parteinahme der deutschen Bundesregierung ein weiterer Sprengsatz, welcher die Einheit der Union untergräbt. Pointiert formuliert: Die Taten der deutschen Regierung sind exakt das Gegenteil der in Sonntagsreden postulierten Reden über die demokratische Wertigkeit und Einheit der Europäischen Union. Einerseits, so mögen Desillusionierte sagen, ist das zwar das Übliche. Im Fall Katalonien jedoch gießt die deutsche Seite Benzin in einen Konflikt, der sich – mit etwas Pech – zu einem weiteren »Failed State«, diesmal innerhalb der EU, auswachsen könnte.

Wobei der Aspekt, dass auch diesmal wieder Doppelte Standards zur Anwendung kommen – »gute« Separationen in den Ex-jugoslawischen Republiken oder auch in Schottland, »schlechte« in der Ost-Ukraine, auf der Krim oder nunmehr in Katalonien – auch nicht gerade dazu dienlich sind, die Glaubwürdigkeit des »demokratischen Experiments« EU zu befördern. Allerdings ist der Einsatz beim austeritätspolitischen Spiel diesmal höher. Läuft es schlecht, hat die Rajoy-Regierung perspektivisch ein weiteres Terrorismus-Problem am Hals – diesmal ein selbstproduziertes und ohne Not angerichtetes. Angesichts der deutschen Rückenstärkung kann man zynischerweise hinzufügen: supported von Angela Merkel und der Bundesrepublik Deutschland.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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