Das Problem Katalonien lässt sich derzeit aus unterschiedlichen Warten betrachten. Beispielsweise der, wie vorrangig oder nachrangig Medien und Politik ihre Themen setzen. Entsprechend dieser Agenda pflegen die Verhältnisse in Spanien lediglich dann in den Blickpunkt zu rücken, wenn es Außerordentliches zu berichten gibt – ein spektakulärer Terroranschlag etwa oder Touristenrekorde an der Costa del Sol. Verfolgt man die aktuelle Eskalation rund um das zum 1. Oktober angesetzte Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien, drängen sich allerdings weitere Warten auf. Etwa die, dass die EU – ungeachtet aller Sonntagsreden über »europäische Werte« – tatenlos dabei zusieht, wie sich in einem Kernland der Union jugoslawische Gewitterwolken zusammenziehen. Oder auch die, dass es in Europa unterschiedliche Arten von Unabhängigkeitsbewegungen gibt – solche, die politisch erwünscht sind und solche, die nicht erwünscht sind. Eine probate Warte wäre schließlich auch die, dass nicht alles, was Recht ist, gleichzeitig auch vernünftig ist.
Hardliner gegen Unabhängigkeitsbefürworter
Für die letzte Warte liefert der konservativ-neoliberale spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy derzeit täglich Anschauungsmaterial: Drohungen, das Abschalten von Servern der katalanischen Regionalregierung, Beschlagnahmungen, Razzien, Festnahmen. Die nächsten Eskalationsstufen sind bereits fest im Blick; das demonstrative Verlassen einer Parlamentsdebatte, wie es letzte Woche nach den angekündigten Kurs-Verschärfungen geschah, dürfte dabei noch eine moderate Reaktion sein. Speziell die angekündigten Polizeimaßnahmen im Hinblick auf die Durchführung des Urnengangs dürften die Situation noch einmal erheblich verschärfen. Lange Rede kurzer Sinn: ein Showdown kündigt sich an – und zwar einer der Sorte, dessen Eskalationsstufen nach oben völlig offen sind.
Festzuhalten ist: Die Unabhängigkeitsfrage ist populär. Vielleicht nicht so stark in der Regions-Kapitale Barcelona – wo andere Fragen, nicht zuletzt soziale Gefälle sowie, ganz konkret, Probleme wie etwa Wohnungsnot den Alltag stark mitbestimmen. Im Umland allerdings ist die »Sí«-Bewegung allseits präsent. Von der Popularität der Unabhängigkeitsidee künden nicht nur die überall aufgehängten katalanischen Fahnen. Auch sonst lassen die Befürworter des Referendums kaum ein Mittel aus, ihre Anhänger zu mobilisieren – Flugzeug-Bannerwerbung an den Stränden, Infostände, Plakate, Kundgebungen. Ein Aufwand, der Erfolg zeitigen könnte: In den Umfragen jedenfalls liegen die Unabhängigkeitsbefürworter – wenn auch knapp – derzeit vorne.
Die Besonderheit des Falls Katalonien: Das gängige Totschlagsargument »rechtspopulistisch« wird den dortigen Unabhängigkeitsbestrebungen wenig gerecht. Sicher: Auch beim Referendum stehen wirtschaftliche Fragen im Vordergrund – speziell die, dass das katalanische Steueraufkommen für die Finanzierung schwächerer Regionen mit verwandt wird. Die tieferen Gründe verweisen allerdings zurück in die jüngere und ältere Historie. So wurde Katalonien erst vergleichsweise spät – Ende des 17. Jahrhunderts – Bestandteil der spanischen Monarchie. Die unter Zwang erfolgte Aneignung der wohlhabenden, von Handel und Handwerk geprägten Provinz war seither stetig von Okkupation und Fremdherrschaft geprägt. Die Extremform dieser Form Fremdherrschaft war die Franco-Diktatur, in deren Verlauf nicht nur die Region (wieder) systematisch benachteiligt wurde, sondern auch die Sprache – das Katalanische – verboten. Der Re-Regionalisierungsprozess der letzten Jahrzehnte hat diese Entwicklung zwar ein Stück weit umgekehrt. Herrschaftliche Ansagen aus Madrid mitbestimmen allerdings bis heute die Kommunikation zwischen der widerborstigen, wohlhabenden Region und der Zentrale.
Nicht alles, was Recht ist, ist gleichzeitig auch vernünftig: Was für die Repressionsschraube der spanischen Imperialträumen hinterherhängenden Westerncowboys um Mariano Rajoy gilt, gilt ebenso für die Loslösungs-Befürworter. In eine Loose-Loose-Situation gebracht haben sich derzeit letztendlich beide. Anders gesagt gibt es auf die Frage(n) von Rechtmäßigkeit und Sinnhaftigkeit möglicherweise unterschiedliche Antworten. Ob ein unabhängiges Katalonien die sozialen Probleme, die auch in der Region massig vorhanden sind, besser wird lösen können, steht ebenso in den Sternen wie die Frage, ob ein »Europa der Regionen« ausreicht als Antwort auf die neoliberale Krise. Entsprechend »quer« gestaltet sich auch die politische Szenerie zwischen Referendums-Befürwortern und Referendums-Gegnern. Träger der »Sí«-Kampagne ist ein linksliberales bis regionalkonservatives Bündnis. Obwohl der Bruch quer und längs durch die sonst gängige Links–Rechts-Parteienlandschaft verläuft, kann man die tragenden Referendumskräfte – die katalanische Regionalparteien Junts pel Sí und CUP – als gemäßigt fortschrittlich bezeichnen. Oder, etwas salopp-vereinfacht: im Kern Macron-Leute mit regionalistischem Anstrich. Neutral in Bezug auf die beabsichtigte Volksabstimmung beziehungsweise uneinheitlich verhält sich aktuell Podemos. Parteichef Pablo Iglesias etwa sprach sich persönlich gegen eine Abspaltung Kataloniens aus. Barcelonas populäre Bürgermeisterin Ada Colau hingegen – ebenfalls Podemos – gilt zwar ebenfalls als Skeptikerin. Umgekehrt kündigte sie allerdings an, für die Durchführung des Referendums in Barcelona mit Sorge zu tragen und klassifizierte die jüngsten Repressalien als »Skandal«.
Eine EU-Region vor der Abspaltung? Angesichts der stetig sich steigernden Repressionen sind die Weichen zum Showdown in der Tat gelegt. Im Anblick der Tatsache, dass eine (mögliche) Abspaltung Kataloniens die EU-Mitgliedschaft von letzterem nicht unmittelbar tangiert, verhält sich das Gros der Unions-Mitgliedsländer bislang nach dem Motto: Auf keinen Fall unnötiges Porzellan zerschlagen. Die USA und Frankreich betrachten – so die derzeitigen Infos im Wikipedia-Artikel zum Thema – das Referendum strikt als innerspanische Angelegenheit. Diplomatischer ist die offizielle Position der EU – zumindest die derzeitige. Verhaltene Signale, auch ein unabhängiges Katalonien anzuerkennen, kommen hingegen von Ungarn, der schottischen Regierung sowie der irischen Oppositionspartei Sinn Féin – wohingegen sich die UN sowie der Europarat eher zugeknöpft verhalten.
Angela Merkel, oder: die spanische Brandstifterin
Festgelegt auf die Seite Mariano Rajoys hat sich vor allem die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Merkels Regierungssprecher Steffen Seibert betonte auf einer Pressekonferenz zum Thema am 8. September, dass geltendes Recht sowie die Verfassung Spaniens Vorrang hätten. Seibert verwies auf die – hinsichtlich dem Brexit geäußerte – Position Merkels, dass das Prinzip der territorialen Einheit nicht berührt werden dürfe. Auf der Pressekonferenz äußerte sich Seibert noch konkreter. Auf die Nachfrage, wie die EU auf eine katalanische Unabhängigkeit konkret reagieren würde, äußerte Seibert die Ansicht, eine einseitige Unabhängigkeitserklärung würde den derzeitigen Verträgen zuwiderlaufen, die EU fordere deshalb die Achtung vor der nationalen Gesetzgebung – in dem Fall Spanien – und dem allgemeinen Völkerrecht.
Eine Pressekonferenz ist eine Pressekonferenz – und damit sicher noch kein Blankoscheck. Nichtsdestotrotz hat sich die Bundesregierung damit bereits im Konflikt-Vorfeld auf eine Seite festgelegt. Zusätzlich hinzugefügt werden muß: ohne Not. Im Sinn einer Einigung, welche beiden Parteien erlauben würde, ihr Gesicht zu wahren, sind zwar auch andere EU-Staaten und Institutionen bislang nicht in Erscheinung getreten. Die deutsche Rückenstärkung für die bürgerlich-konservative Zentralregierung unter dem – innenpolitisch auch an anderen Fronten unter Beschuss stehenden – Christdemokraten Mariano Rajoy könnte sich für die beschworene Einheit der Union jedoch als veritabler Rohrkrepierer erweisen. Zumal (kurzfristige) Machtpolitik der Merkel-Regierung auch hier vor geht vor politisch sinnvollen Erwägungen.
Möglich, dass Merkel einem Paladin den Rücken stärken möchte, der auch sonst einer der treuesten Gefolgsleute ist bei der Durchsetzung der deutschen Austeritätspolitik. Mittelfristig jedoch ist die einseitige Pro-Spanien-Parteinahme der deutschen Bundesregierung ein weiterer Sprengsatz, welcher die Einheit der Union untergräbt. Pointiert formuliert: Die Taten der deutschen Regierung sind exakt das Gegenteil der in Sonntagsreden postulierten Reden über die demokratische Wertigkeit und Einheit der Europäischen Union. Einerseits, so mögen Desillusionierte sagen, ist das zwar das Übliche. Im Fall Katalonien jedoch gießt die deutsche Seite Benzin in einen Konflikt, der sich – mit etwas Pech – zu einem weiteren »Failed State«, diesmal innerhalb der EU, auswachsen könnte.
Wobei der Aspekt, dass auch diesmal wieder Doppelte Standards zur Anwendung kommen – »gute« Separationen in den Ex-jugoslawischen Republiken oder auch in Schottland, »schlechte« in der Ost-Ukraine, auf der Krim oder nunmehr in Katalonien – auch nicht gerade dazu dienlich sind, die Glaubwürdigkeit des »demokratischen Experiments« EU zu befördern. Allerdings ist der Einsatz beim austeritätspolitischen Spiel diesmal höher. Läuft es schlecht, hat die Rajoy-Regierung perspektivisch ein weiteres Terrorismus-Problem am Hals – diesmal ein selbstproduziertes und ohne Not angerichtetes. Angesichts der deutschen Rückenstärkung kann man zynischerweise hinzufügen: supported von Angela Merkel und der Bundesrepublik Deutschland.
Kommentare 6
Guter Artikel!
Freilich wird man von keinem europäischen Staat wirklich erwarten können, ein Unabhängigkeitsreferendum innerhalb eines anderen europäischen Staates als anzuerkennenden demokratischen Prozess anzuerkennen geschweige denn, gutzuheißen. Blickt man auf die Geschichte Europas, ist so etwas gehöriger Zündstoff. Gleichwohl ist Ungarns "den Willen des Volkes zu respektieren" auf dem politischen Parkett tatsächlich als eine recht deutliche Botschaft zu verstehen. Ich denke aber, dass die viel mit der derzeitig besonderen Rolle Ungarns als Pariah in der EU zusammenhängt. Und vielleicht hätte die rechtsnationale Regierung in Budapest insgeheim auch wieder gerne die Gebiete zurück, die das K-u-K Königreich Ungarn mit dem Vertrag von Trianon an Rumänien verloren hat, wieder zurück. Auch da schwelt ja ein Konflikt, der die Systemwechsel überdauert hat.
Und ja, Deutschland spielt wohl auch hier mal wieder die Meinungs- und Ordnungsmacht Europas. Eine Zurückhaltung, wie sie etwa Frankreich oder Dänemark aber auch die EU an den Tag legen, wäre sicher gescheiter.
Ob die EU in keinem EU-Staat ein Unabhängigkeitsreferendum anerkennen würde, daran habe ich meine Zweifel: Bei Kroatien, Slowenien etcetera war die Separation das Ticket in die Union. Bei den Schotten – als größter Landesteil in GB, der explizit gern in der EU drinbleiben würde – könnte ich mir wohlwollende Sympathie ebenfalls vorstellen.
Doch gut: Dass derartige Turbulenzen auch an Staatenbündnissen nicht spurlos vorübergehen (und die entsprechend eher Interesse an »Ordnung im Laden« haben – d’accord. Vollkommen den Deckel raus haut in der Hinsicht die deutsche Haltung. Ich frage mich wirklich, welches Verständnis von EU Frau Merkel und Herr Schäuble umtreibt. Sind wir tatsächlich schon an dem Punkt, wo unsere obersten Leiter sagen: »Gut – solange die Machtachse Berlin–Luxemburg–Brüssel OK ist, die EZB den Kurs mitfinanziert und Frankreich stille hält, ist lediglich die Anzahl Soldaten von Belang, mit der wir unser Territorium befrieden können.«
Letzten Endes ist das nichts anderes als Nazi-Denke. Im Ernstfall bedeutet Merkels Ermutigung an Rajoy nichts anderes, als dass – im schlimmsten Fall – 2018 oder 2019 deutsche Ausbilder oder deutsche Truppen dort stationiert sind, die Foltergefängnisse bewachen oder auch selbst katalanische Zivilbevölkerung abballern. Das ist nicht nur machtversessen in seiner brutalsten Variante, sondern total unklug: Auch als neoliberale Herrscherin gieße ich nicht unnötig Öl in einen Konflikt.
Um abschließend den Schlenker zu machen zur BTW: Wenn ich Martin Schulz wäre und gleichzeitig (echten) Wahlkampf machen würde, würde ich diese Fragen selbstredend problematisieren. Dass er es nicht macht, spricht nicht nur für die Wahlkonstellation, so wie sie eben ist. Sondern es zeigt, dass alles »Europa«-Gerede hohles Gewäsch ist. Lieber lässt man sich in einen Krieg ziehen als mit dem Klassenstreber im eigenen Laden mal ein paar ernste Worte zu reden – das Mindeste.
>>Auch als neoliberale Herrscherin gieße ich nicht unnötig Öl in einen Konflikt.<<
Es sei denn, man verfolgt mit der Eskalation ein konkretes Ziel: Staatsgewaltliche Exzesse als Normalität zu etablieren.
Es könnte allerdings auch sein, dass Rajoy ein Angebot für Merkel hat, dass sie nicht ablehnen kann oder will. (Mir fällt da beispielsweise die Austeritätsachse Berlin–Madrid ein. Ein bißchen Hilfe beim Aufräumen des eigenen Ladens hat Señor Rajoy da doch sicher gut – oder?)
"Im Ernstfall bedeutet Merkels Ermutigung an Rajoy nichts anderes, als dass – im schlimmsten Fall – 2018 oder 2019 deutsche Ausbilder oder deutsche Truppen dort stationiert sind, die Foltergefängnisse bewachen oder auch selbst katalanische Zivilbevölkerung abballern."
Dieser "schlimmste Fall" scheint mir doch sehr, sehr hochgegriffen. Dahin gerät der Konflikt nicht, da bin ich ziemlich sicher.
"Wenn ich Martin Schulz wäre und gleichzeitig (echten) Wahlkampf machen würde, würde ich diese Fragen selbstredend problematisieren. Dass er es nicht macht, spricht nicht nur für die Wahlkonstellation, so wie sie eben ist"
Die Sache interessiert hier einfach nicht genug, als dass es auch nur einem Wahlkämpfer einfiele, sie zu thematisieren. Seien wir ehrlich: Die neue Touristensteuer auf Mallorca hätte vielleicht das Potential, im deutschen Wahlkampf zu landen.
Habe Sie nicht vergessen...hatten ja mal vor Monaten Interesse bekundet...und Raul Zelik ( im richtigen Leben ein sehr sympathischer und sehr offener "junger" Mann) hat eine zweite Bildungsreise nach Katalonien geplant: Katalonien - Unabhängigkeitsbewegung, Munizipalismus und Selbstorganisierung
und hier der Reisebericht vom letzten Jahr:Bericht einer Bildungsreise nach Katalonien im Oktober 2017