Katz und Maus

Schienenverkehr Verkehrswende auf neoliberal: Während Güter- und Fernverkehr ohne Rücksicht durchs Mittelrheintal gejagt werden, verrottet der lokale Nahverkehr zunehmend

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Blühendes Leben am Bahnhof von Sankt Goarshausen
Blühendes Leben am Bahnhof von Sankt Goarshausen

Marion Halft/Wikimedia (CC BY-SA 4.0)

Das Mittelrheintal zwischen Bingen und Koblenz war schon in früheren Zeiten eine zentrale Verkehrsschleuse. Die Ruinen von Burgen wie Liebenstein, Stahleck, Katz und Maus künden von einem bis in die Neuzeit praktizierten Geschäftsmodell: dem Erheben von Wegzöllen auf die (schon damals florierende) Rhein-Schiffahrt. Heute ist das Mittelrheintal UNESCO-Weltkulturerbe. Zwischen Burgruinen, Weinhängen, eng ins steil abfallende Tal gebauten Ortschaften sowie dem weltberühmten Loreleyfelsen geben sich Urlauber und Naherholungssuchende dem hin, was die Touristik-Branche als »Rheinromantik« anpreist. Nicht grundsätzlich geändert hat sich auch das Geschäftsmodell der professionell betriebenen Verkehrs-Wegelagerei. Waren es im Mittelalter Fürsten und Raubritter, die mit durchfahrenden Handelsschiffen »Katz und Maus« spielten, sind es im 21. Jahrhundert die Big Player des privatisierten Schienenverkehrs: die Deutsche Bahn AG, die von einem Sub-Anbieter betriebene Mittelrheinbahn, das Land Rheinland-Pfalz und der Bund.

Lärmbelastung durch Güterverkehr

Die Schienenverkehrs-Gemengelage in dem engen Tal lässt sich mit wenigen Sätzen skizzieren. Seit der Privatisierung der vormaligen Bundesbahn im Jahr 1994 wurde der Nahverkehr entweder abgeschlankt oder aber an Subunternehmer outgesourct. Die Deutsche Bahn AG ist zwar nach wie vor der Hauptplayer im Mittelrhein-Schienenverkehr. Im Nahverkehrsbereich jedoch fährt der privatisierte Ex-Staatsbetrieb eher auf »leisen« Schienen. Während der rechtsrheinische Streckenabschnitt mehr schlecht als recht noch von der DB mitbedient wird, fällt der linksrheinische unter die Ägide der Mittelrheinbahn, die von einem externalisierten Anbieter unterhalten wird. Nach wie vor hingegen betreibt die DB den lukrativen Fern- und Interregio-Verkehr – Züge, welche die Region lediglich durchfahren und lediglich an den Tal-Endpunkten – Bingen und Koblenz – Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten bieten.

Für die Anwohner im Tal sind vor allem die durchgeschleusten Güterzüge ein veritables Ärgernis. Sie fahren ohne Ende: spätabends, frühmorgens, an Sonn- und Feiertagen – immer. Die Folgen: ein konstanter, belastender Lärm-Pegel, der mittlerweile auch wirtschaftlich die zu erwartenden Folgen zeitigt. Grundstücke in unmittelbarer Nähe der Bahnstrecke sind kaum noch zu verkaufen; Anlieger mit Grundbesitz werden in Konsequenz so quasi zu Gefangenen der Bahn. Entsprechend schreitet hinter der Rheinromantik-Kulisse die infrastrukturelle Verödung der Weltkulturerbe-Region schleichend voran. Eine Nahverkehrsteilnehmerin in St. Goarshausen bemerkt resignierend, dass der Ort gegenüber seinem linksrheinischen Pendant, St. Goar, um circa fünf Jahre zurückhinke. Der Ort veröde tendenziell, diejenigen, die dablieben, müßten sich halt irgendwie mit den Gegebenheiten arrangieren.

Resignativer Stimmungen ungeachtet ist der Protest gegen die Güterverkehrszumutungen seit Jahren präsent. Lokale Initiativen haben sich im Verband Pro Rheintal zusammengeschlossen. Hauptforderung, neben dem Bau geeigneter Lärmschutz-Vorrichtungen sowie der Verringerung des Güterverkehrs: eine Aufrüstung des DB-Equipments auf modernen Stand. Pro-Rheintal-Vorsitzender Frank Gross wies im Juni 2019 erneut darauf hin, dass das technisch ohne weiteres machbar sei. Gross: »(…) Wir wissen von Eisenbahn-Experte Prof. Markus Hecht (TU Berlin), dass es möglich ist, mit verträglichen Budgets den Bahnlärm um bis zu 30 dB(A) zu reduzieren und damit den Bahnlärm nicht nur auf die Hälfte, sondern auf ein Zehntel zu reduzieren. Jeder, der heute die ›lauten‹ und die ›leisen‹ Waggons auf der Strecke vergleicht, erlebt einen hörbaren Unterschied wie Tag und Nacht.« (in: »Sommer, Sonne, Bahnlärm: Das Rheintal will Ruhe!«, NR-Kurier) In der Tat weisen die Initiativen bereits seit Jahren auf die desolate Lärmsituation hin. Seither haben sie so gut wie alles versucht: Demonstrationen durchgeführt, Petitionen an den Bundestag sowie Resolutionen getätigt und sich mit Landesvertretern getroffen. Darüber hinaus unterhält die Initiative das A und O eines aktiven Interessenverbands: eine üppig mit Infos sowie Vor-Ort-Impressionen bestückte Homepage. Genutzt hat das alles bislang wenig. Wenn Erfolge kamen (wie beispielsweise vereinzelte Lärmschutz-Vorrichtungen), dann stückhaft, unzulänglich und zum Teil mit Begründungen, die wie ein Hohn klingen – so etwa, dass die DB lediglich einer vom Gesetzgeber beschlossenen Reduzierung des Lärmschutz-Grenzwerts von 60 auf 57 Dezibel nachkommen.

Als Meister erwiesen haben sich Land, Bund und die involvierten Konzerne bislang im Aufgleisen von Konzepten. Das Herumlaborieren mit ambitionierten, den Protestgrund teils wenig betreffenden Projekten hat im Mittelrheintal Tradition. Das renommierträchtigste ist eine Rheinbrücke bei St. Goar, nahe der Loreley. Aus Sicht des Autoverkehrs ergäbe die – seit Jahrzehnten in der Dauer-Planschleife befindliche – Mittelrheinbrücke zwar Sinn: als weitere Straßenverkehrs-Verbindung in dem zwischen Mainz und Koblenz brückenlosen Rheintal. Wem diese – nicht zuletzt zwecks besserer Erreichbarkeit des Flughafens Hahn projektierte – Anbindung zugute käme, lässt sich leicht ausrechnen; die Anwohner in der Region dürften eher nicht zu den Glücklichen gehören. Ob die Brücke gebaut wird (und falls ja: wann), ist gegenwärtig allerdings unklar – obwohl die Ampelkoalition in Mainz 2016 festlegte, die Planungen wiederaufzunehmen. Grund: das Vorhaben ist hochumstritten. Speziell Umwelt- und Landschaftsschützer haben sich klar gegen das Projekt positioniert. Ihrer Ansicht nach erlaubt auch eine von der UNESCO erstellte Expertise den Bau explizit nicht. Aktuelle Lage so: Ministerpräsidentin Dreyer könnte sich über die Einwände zwar hinwegsetzen. Allerdings würde sie mit dem Bau das Risiko eingehen, dass dem Tal der Weltkulturerbe-Status wieder aberkannt wird.

Maroder Nahverkehr

Vom – belastenden – Güter- und Personenverkehr abgesehen präsentiert sich das Rheintal zwar in der Tat als Touristik- und Naherholungs-Idylle. Zumindest verkehrstechnisch allerdings läuft auch hier wenig rund. Die rücksichtslose Art, mit der die Anwohner und Anwohnerinnen mit dem Durchfahr-Verkehr terrorisiert werden, wird durch einen tendenziell verrottenden Nahverkehr komplettiert. Zynisch formuliert lautet die gute Nachricht, dass in der Region mehrere Fährdienste sowie eine flottierende Ausflugs-Schifffahrt ihr Geschäft betreiben. Schlecht sieht es auf der Schiene beidseits des Rheins aus. Der Betreiber der linksseitigen Mittelrhein-Bahn, die in Koblenz ansässige Firma Trans Regio, reduzierte 2018 die Zug-Taktung von einer halben auf eine Stunde. Angegebener Grund: Das Unternehmen habe Mühe, geeignete Lokführer zu finden. Zu der aktuellen Notversorgung kommen fast obligatorische Verspätungen – von kavallier-liken 5 Minuten bis hin zu 20 oder auch 30. Ein weiterer Missstand ist die marode Ticketautomaten-Struktur. Die meisten Bahnhöfe sind mit lediglich einem (numerisch geschieben: 1 !!) Automaten ausgestattet. Auch das Wort »Bahnhof« ist ein Euphemismus. Gemäß dem allgemeinen Trend zur Automatisierung findet sich außerhalb der Züge kaum noch menschliches Personal.

Die Automaten selbst sind kompliziert zu bedienen und störanfällig. Was, wenn ein Fahrgast in spe aufgrund eines technischen Defekts nicht lösen kann? Trans Regio setzt hier auf »Null Toleranz«. Selbst die seinerzeits zu kritischer Medienberichterstattung – unter anderem in der Welt, der Süddeutschen, dem stern und dem Tagespiegel – führende DB-Praxis, Schulkinder ohne Ausweis auf der nächsten Station auszusetzen, hat Trans Regio zumindest in einem Fall ebenso gehandhabt. Normalprozedur: Wer ohne Ticket »erwischt« wird, dem drohen (neben dem obligatorischen erhöhten Beförderungsentgelt) mannigfaltig Ärger und Verdruss – geschuldet den bürokratischen Bearbeitungsmechanismen von Trans Regio im Bereich Kundenservice. Davon ein Liedchen singen kann auch der kommunale Touristen-Infopoint in St. Goar. Auf Nachfrage teilte eine Mitarbeiterin dort mit, dass das Touristenbüro gerne bereit sei, Tickets der Mittelrheinbahn zu verkaufen. Allerdings: Trotz mehrmaliger Nachfragen, so die Mitarbeiterin, habe das Unternehmen stets abschlägig reagiert. Notbehelf so: Via (selbsterstelltem) Flyer informiert das Touristenbüro Touristen und Nahverkehrsurlauber über die Bedienweise und Optionen der Ticket-Automaten.

Noch schlimmer sieht es auf der rechtsrheinischen Seite aus – der Talseite, deren Nahverkehr nach wie vor von der DB mitbedient wird. Die Software-Kryptik, mit deren Hilfe ein Ticket erstanden werden kann, ähnelt den Abfragen einer Steuererklärungs-Software. Zwischen Wunsch und Fahrkarte stehen mindestens vier, fünf Menüpunkte; die Tastatur, mit deren Hilfe das Fahrziel einzugeben ist, poppt nur auf, wenn man einen beliebigen Punkt auf dem Touchscreen berührt. Die Option »Mit Rückfahrt« erfordert den Durchlauf von sechs bis acht Masken; möglich ist sie zudem anscheinend nur, wenn man sich uhrzeitseitig festlegt. Fazit: Das Land Rheinland-Pfalz weist in seinem »Weltkulturerbe« eine Nahverkehrs-Infrastruktur aus, die eher an eine Ödnis irgendwo in Weißrussland denken lässt als einen Verkehrsknotenpunkt mitten in Deutschland. Doch wie wird die Lage in Mainz gesehen, wie ist die Einschätzung der Landesregierung? Bereits 2014 – SPD-Ministerpräsidentin Manu Dreyer regierte damals noch mit Hilfe der CDU – scheint regierungsseitig die Prämisse vorgeherrscht zu haben, dass gute PR besser ist als die besten Taten. Auf der Homepage der Landesregierung wird Ministerpräsidentin Dreyer mit folgenden Worten zitiert: »Ziel ist es, den Öffentlichen Personennahverkehr sowohl in Ballungsräumen als auch in der Fläche zu erhalten und den Menschen eine kostengünstige Mobilität zu ermöglichen. Wir haben die Oberzentren miteinander verbunden und den ländlichen Raum angebunden.«

Die Politik: Kosmetik statt Taten

Fazit so: Der ländliche Raum ist bestens angebunden; die Anwohner haben es nur noch nicht bemerkt. »Kostengünstig« ist in dem Statement zwar durchaus das Stichwort – allerdings nur dann, wenn man es auf das Investitionsverhalten von DB und Trans Regio bezieht. In der Praxis nämlich wären die Mittel, den darniederliegenden Nahverkehr im Mittelrheintal zu verbessern, durchaus vorhanden. Die DB ist nach wie vor einer der großen Akteure im europäischen Schienenverkehr. Und auch Mittelrheinbahn-Betreiber Trans Regio ist alles andere als ein kleiner Fisch: Unmittelbare Muttergesellschaft ist die in Berlin ansässige Transdev GmbH – laut Wikipedia das zweitgrößte in Deutschland aktive Eisenbahn- und Busunternehmen. Transdev wiederum ist Bestandteil des französischen Verkehrs-Multis Transdev Group – mit einem Jahresumsatz von 6,64 Milliarden der eigenen Angaben zufolge weltweit führende private Anbieter von öffentlichen Verkehrsmitteln (Quelle: Wikipedia). Nichtsdestotrotz – oder gerade weil – sourct auch die Transdev Group durchaus aus. Im Frühjahr dieses Jahres verkaufte Transdev die Marke Euroline an Flixbus. Ein Beispiel, welches das Mittelrheintal unmittelbar zwar wenig betrifft, dafür jedoch neuerlich aufzeigt, dass der öffentliche Schienenverkehr längst Teil eines Monopoly-Spiels international agierender Transportmultis ist. Souffliert von der Politik (namentlich so PR-fähigen Landesfürsten wie Malu Dreyer) könnte die Nahverkehrspraxis letzten Endes auf eine Situation hinauslaufen wie in den USA – wo die klassischen Eisenbahnunternehmen sich zunehmend auf den Güterverkehr verlegt haben und der Personen(fern)verkehr mehr und mehr von eigens darauf spezialisierten Unternehmen wie beispielsweise Amtrac durchgeführt wird.

Dass sich auch die neoliberal gewendete SPD, so in Regierungsverantwortung befindlich, an diesem Spiel des kommerziell betriebenen Raubbaus an ehemals öffentlicher Almende beteiligt, mag man mit Sachzwängen entschuldigen. Dabei ginge es auch anders. Beispiel: die italienische Staatsbahn, speziell der Streckenabschnitt zwischen La Spezia und Genua. Geografisch ist die Strecke eine vielleicht noch größere Herausforderung als die Schienenstrecken im Mittelrheintal. Ansonsten allerdings schlägt fast jeder Parameter den – sonst gerne Ökonomie-Ratschläge verteilenden – Exportweltmeister um Längen. Zum einen der Umstand, dass Zugfahren in Italien äußerst preisgünstig ist – ein Modus, an dem weder rechte noch bürgerlich-linksliberale Regierungen bislang gerüttelt haben. Hinzu kommt die Ausstattung: An allen größeren Bahnstationen im Rivieratal sind die Bahnhöfe mit Personal besetzt – nicht nur in Genua und La Spezia, sondern auch in vergleichsweise kleinen Gemeinden wie etwa dem Cinqueterre-Badeort Monterosso al mare. Tickets verkaufen selbstredend auch die Info-Points für Touristen. Last but not least: Selbst die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit der – hierzulande notorisch als unzuverlässig verschrieenen – italienischen Trenitalia ist höher zu veranschlagen als die der diversen Haupt- und Nebenanbieter im Mittelrheintal. In Sachen Pünktlichkeit listete die Webseite statista.com die italienische Bahn 2012 auf Platz 2, den deutschen Schienenverkehr hingegen auf Platz 20.

Für hiesige Politik-Entscheidungsträger(innen) müßte das italienische Modell eigentlich ein stetiger Ansporn sein – speziell auch in Anbetracht der Tatsache, dass die Klimaerwärmung das allseitig favorisierte Modell Straße zur Disposition stellt. Stattdessen lässt sich im Mittelrheintal en detail studieren, wie die verantwortliche Politik sich in Laissez-faire übt und so geradezu frühkapitalistische Zustände wieder aufleben lässt. Die Folgen: Investiert wird allenfalls dann, wenn es via Gesetzeslage unvermeidbar ist und/oder der Bund seinen Ex-Staatsbetrieb mit Milliardenbeträgen subventioniert (siehe tagesschau.de: »86 Milliarden Euro fürs Schienennetz«, 26. Juli 2018). Weniger lukrative Zweige – wie etwa der Nahverkehr – werden dabei nach dem Prinzip der auszupressenden Zitrone betrieben. Statt Nachhaltigkeit scheint das Motto vorzuherrschen: Nach mir die Sintflut.

Erklärungsbedürftig ist nicht zuletzt die Langmut der Bewohner an den lärmgeplagten Rheintal-Strecken. Studierende und Professoren der Universität Bochum zeigten sich anlässlich eines Besuchs 2018 geradezu entsetzt über die Zustände im Mittelrheintal. Warum die Bewohner – so der Tenor der Besucher – nicht einfach die Schienen blockierten, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen? Nicht ausgeschlossen, dass die Langmut nicht mehr ewig währen wird. Denn: Bleibt alles so wie es ist, ist Wegzug – und somit die Verödung zahlreicher kleinerer Gemeinden im Tal – nur noch eine Frage der Zeit. Konsequenz: das Mittelrheintal wäre nur noch eine Fassade – eine Region zu dem einzigen Zweck, einen möglichst lukrativen Güterverkehrs-Transfer zu gewährleisten.

Das wäre schade. Nicht nur wegen des in der Tat beeindruckenden Loreley-Felsens.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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