Manipulierte Putins Geheimdienst Wikipedia?

Sommerente Laut BILD vom 29. Juli hat der russische Geheimdienst Manipulationen in deutschsprachigen Wikipedia-Artikeln vorgenommen. Anatomie einer Propaganda-Ente.

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Die Schlagzeile klingt markig-volksnah wie stets, hart am Ball. BILD betreibt mal wieder Aufklärung, krempelt die Ärmel hoch – dort, wo andere lieber warm duschen gehen. 29. Juli, neue Meldung von der Kriegsfront: »So dreist fälschen Putins Männer die Wikipedia«. Oha, denkt man sich, nun auch Wikipedia? Die Unterzeile geht gleich in media res: »Und lesen Sie mal, welche peinliche Information Moskau komplett löschte …« Da sind wir Leser doch gespannt – vor allem, wenn die Story mit einem Bild von Mr. Infernal persönlich aufgemacht ist und die Bildunterschrift besorgt die Fragestellung aufwirft: »Hat Kremlchef Wladimir Putin (61) die Manipulationen im Online-Lexikon angeordnet?«

Ja? Hat er? Welche Manipulation? Der Introtext des Beitrags stimmt auf ein Erklärungsmuster ein, dass sich bei den in Bedrängnis geratenen Leitmedien immer stärkerer Beliebtheit erfreut. Demzufolge ist die kriegsskeptische Stimmung in der deutschen Bevölkerung nicht echt, sondern vielmehr zielstrebig von außen herbeimanipuliert. Tausende Einflussagenten und Putin-Trolle – so eine Warnung der Süddeutschen im Juni – seien unterwegs, um die Meinung in Deutschland zugunsten Russlands zu beeinflussen. Ins Spiel gebracht hat diesen Spin, wie dieser Welt-Beitrag von Juni belegt, unter anderem das Bundesamt für Verfassungsschutz – eine Institution, die sich, Beispiel NSU-Affäre, mit Manipulation und Operationen im Verborgenen bekanntlich bestens auskennt. Last but not least: Medienseitige Siegfried-Linie ist das Argument von der Steuerung durch fremde Mäche auch anlässlich der diese Woche als Rohrkrepierer geendeten Anti-Putin-Aufmachergeschichte beim Spiegel. Kommentar des Journalisten Stefan Niggemeier: Der Spiegel lasse auch in seiner Reaktion auf Kritik jegliche Verhältnismässigkeit vermissen.

Angriff ist bekanntlich die beste Verteidigung. Doch wie manipuliert Putin? Noch dazu Wikipedia, das unbestechliche Online-Lexikon? Sehen wir uns die Perfidie im Detail an. Laut BILD hat sich eine anonyme IP in Wikipedia eingeloggt, um den Wikipedia-Artikel zum Absturz der malaysischen Airline zu manipulieren. Als Quelle – vielleicht, um den Artikel ein bißchen faktenunterfütterter zu gestalten, vielleicht auch, weil man sich selbst mit diesem Wiki-Dingsbums nicht so gut auskennt – führte BILD den Twitter-Tweed eines Schweizer Journalisten auf. Was war geschehen? Der als Beweis-Screenshot abgebildeten WHOIS-Abfrage zufolge hatte sich die IP von einem Server des Russian State Internet Network eingeloggt, beziehungsweise – so die Zusatzangabe des Abfragetools – dem Federal Guard Service of the Russian Federation.

Schlapphüte am Werk? Wer immer die IP 95.173.130.218 auch war: Die per Screenshot dokumentierten Artikelveränderungen wurden von BILD zwar mit bewegten Worten ausgemalt. Die Wahrheit war allerdings – wieder mal – ziemlich unprosaisch. Geht man von den im Wikipedia-Userlog zugänglichen Angaben aus, lassen sich zwei Sachen sagen. Erstens: Die von BILD ans Licht der Öffentlichkeit gebrachte Geheimdiensttätigkeit war sehr kurz und beiläufig. Die Unterwanderung nämlich, die das Boulevardblatt wortreich an die Wand malte, beschränkte sich auf vier kurze Logins: am 6. Mai 2010 (Artikel: Sowjetische Kampfpanzer des Zweiten Weltkriegs), am 27. Dezember 2013 sowie am 25. April und 29. Juli. Gesamtanzahl der Bearbeitungen: zehn, die Hälfte davon, also ganze fünf Stück, zu dem vom BILD skandalisierten Airlines-Artikel.

Zweitens: Die fünf fraglichen Bearbeitungen selbst waren Mini-Veränderungen. In inhaltlicher Hinsicht sogar eher Eigentore. Fokus der fünf Edits im MH17-Artikel: Abänderung der Bezeichnung »Separatist« in die von der IP offensichtlich als angemessener empfundene Bezeichnung »Rebell«. So viel also zu BILD, zur Manipulationsgefahr, die für Deutschland ausgeht und zum Internetz. Pointe der Geschichte: Offensichtlich sah ein Wikipedia-Admin nach der BILD-Story Handlungsbedarf. Die IP wurde – wie im verlinkten Log zu sehen – für 59 Tage gesperrt. Angegebener Grund: »Versuchte Manipulation durch staatliche Stellen aus Russland.«

Fazit: ein Lehrstück. Darüber, wie man »Wahrheiten« fabriziert, durch stetige Wiederholung zu »Tatsachen« werden lässt und schließlich zum ehernen Standpunkt – solange nur genug Leute sie glauben. Genauer: über Paranoia, der Leute verfallen und Paranoia, die bewusst geschürt wird. Dass die Thematik auch in der Wikipedia-Community die ein oder andere kleine Welle schlägt – verständlich; sind wir nicht alle irgendwie mediengeil? Wie zu befürchten, geht die Never ending Story weiter – derzeit im Berliner Kurier. Antirussische Schlagzeile dort: »›Wikiwashing‹: So unverschämt manipulierte Russland den MH17-Wikipedia-Eintrag«.

Enten? Sommerloch? Was macht eigentlich das Ungeheuer von Loch Ness? Liest man die neuesten Meldungen, muß man befürchten, dass russische Einflussagenten es klammheimlich aus dem Verkehr gezogen haben. Daher – als Beitrag zur staatsbürgerlichen Pflicht und Schluldigkeit – hier schon mal der Vorschlag zur Headline: Blut: Teuflische Putin-Taucher killten Loch-Ness-Ungeheuer mit blankem Messer!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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