Medienrevolution für Einsteiger

Medien Netflix, Amazon und Apple TV verändern massiv die Sehgewohnheiten. Wie es zu allem kam, und was noch auf uns zukommt, beschreibt das Sachbuch »Die Netflix-Revolution«.

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Der Zustand des linearen Fernsehens rechtfertigt einen skeptischen Blick
Der Zustand des linearen Fernsehens rechtfertigt einen skeptischen Blick

Foto: John Pratt/Keystone Features/Hulton Archive/Getty Images

Was ist der Unterschied zwischen »Jerks.«, »Liebling Kreuzberg« und der US-Serie »Six Feet Under«? Anspruchskultur-nahe Rezeptient(inn)en werden die Serie mit Christian Ulmen und Fahri Yardım vermutlich in der Rubik »Privat-TV-Trash« einordnen. Ebenso zielsicher wird »Liebling Kreuzberg« in der Gedanken-Zeitzone landen, in der die (öffentlich-rechtliche) Fernsehwelt noch heil war. »Six Feet Under« schließlich? Je nach gewohnheitstechnischer und/oder politischer Präferenz bieten sich wahlweise die Schubladen »Qualitätsserie«, »US-Kulturimperialismus« oder »was ist das?« an.

Wie immer man urteilt: die aufgeführten Rubriken sind Qualitätskriterien – letzten Endes also Geschmacksurteile. Um Geschmacksurteile geht es in »Die Netflix-Revolution. Wie Streaming unser Leben verändert« von Oliver Schütte allerdings nur peripher. Eigentliches Thema des neu im Schweizer Midas Verlag erschienenen Sachtitels sind die Kriterien, nach denen Serien konzipiert, auf den Weg gebracht und distributiert werden. Gemäß denen handelt es sich bei »Jerks.« um eine Serie, die vom deutschen Privatsender Pro Sieben in Auftrag gegeben wurde und zwischenzeitlich auf der werbefinanzierten Plattform Joyn TV für lau gestreamt werden kann. Für die beiden restlichen Beispiele sind die Distributionswege gleichfalls aufschlussreich. Fans der in den 1990ern ausgestrahlten und allgemein hochgelobten ARD-Serie »Liebling Kreuzberg« bleibt derzeit nämlich nichts anderes übrig, als »in die Röhre« zu gucken – sofern sie nicht die mondpreisteuren Kopien-Services der jeweils zuständigen ARD-Sender in Anspruch nehmen. »Six Feet Under« schließlich befindet sich derzeit im Streamingangebot des ehemaligen Premiere-Anbieters Sky Deutschland. Allerdings: Da Sky viele Angebote lediglich in befristeter Form zur Verfügung stellt, hängt auch hier die Versorgungslage vom Kalkül des anbietenden Dienstleister ab. Im konkreten Fall bedeutet dies: Zur Verfügung steht die Serie um ein kalifornisches Bestattungsunternehmen lediglich bis Mitte Januar 2020.

Die Beispiele sind paradigmatisch für die unübersichtliche Angebotslage, die derzeit den Markt bestimmt. Unübersichtlich ist nicht nur das Konglomerat der diversen Anbieter: Zum Dreigestirn der auf Serien versierten Streaming-Abodienste (Netflix, Amazon Prime und Sky) kommen videothekenähnliche Einzelabruf- und Pay-Plattformen (bekanntester Anbieter hier: Apples iTunes Music Store), Privat-TV-Angebote wie Joyn, die Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender, zuliefernde Produktionsfirmen sowie Medienkonzerne und letztlich Googles Plattform YouTube – ein weiterer Player, der sich derzeit vor allem auf das umfangreiche Altmaterial kapriziert. Zunehmend komplizierter werden darüber hinaus auch die unterschiedlichen Distributionsformen: Die Ö/R-Mediatheken etwa sind ganz frei, Joyn – wie erwähnt – werbefinanziert. Und wer sich nicht via Abo an eine (oder mehrere) der aufgeführten Streaming-Plattformen binden möchte, hat nach wie vor die Option, zur guten alten DVD zu greifen – wenn er oder sie nicht das zeitgemäße Äquivalent für den persönlichen Besitz vorzieht: den Download bei Apples Music Store oder bei Amazon.

Vielfältig sind auch die Auswirkungen auf die bisherigen Angebote: eine Entwicklung, die Liebhaber(innen) der alten, mittlerweile den Aussterbetod erleidenden Leihvideothek ebenso zu spüren bekommen wie die (schwindende) Zuschauerschaft des alten, linearen TVs. Auch diese Entwicklungen werden in Oliver Schüttes Buch thematisiert. Schütte, Film- und Theaterwissenschaftler, Filmhochschul-Dozent und selbst auch im Produktionsmetier tätig, setzt den Beginn seiner Geschichte folgerichtig an jenem Punkt an, an dem die Bilder laufen lernten – der Stummfilmära. Die historische Herangehensweise ermöglicht es, die einzelnen Etappen, die das bewegte Bild durchlief, Stück für Stück – oder: Technologieschub für Technologieschub – nachzuzeichnen: vom Stummfilm zum Tonfilm, vom klassischen Kino zur heimischen Flimmerkiste, vom öffentlich-rechtlichen TV zum Privatfernsehen, von der Videocassette über die DVD bis hin zur digitalen Movie-Datei und schließlich vom linearen Fernsehen zum Streaming-Angebot unserer Tage. Mit derzeitigem Entwicklungsstand: Filme oder Serien müssen nicht mehr zwingend im Eigentum des oder der Konsumierenden sein.

Die Entwicklung mag diffizil und differenziert sein. Trotz der Schwere des Themas ist »Die Netflix-Revolution« jedoch stringent zu lesen, anschaulich-nachvollziehbar und auf eine Weise verfasst, die auch unambitioniertere Leserinnen und Leser auf die Reise mitnimmt. Die ersten drei Kapitel widmen sich dabei der oben angerissenen historischen Entwicklung. Dass diese keinesfalls stehen bleibt und neue Player bereits in den Startlöchern stehen, wird beim Lesen der drei Folgekapitel deutlich. Ein Part, der auf »Game of Thrones«-gestählte Serienkonsument(inn)en derzeit zukommt, ist familienfreundliches Streaming-TV nach Maßgabe von Apple und Disney. »Der Kampf der Streamingplattformen« (Kapitel-Titel) mag für Branchenbeobachter zwar ähnlich interessant sein wie die seriell dargebotenen Kämpfe um den Thron von Westeros. Am Ende herauskommen wird möglicherweise jedoch ein familienfreundliches, weitgehend von Explizitem, Ambivalentem oder auch Gesellschaftskritischem bereinigtes Programm. Aus der Blickwarte der zwischenzeitlich tonangebenden Investoren nämlich war die als »Dritte Revolution des TV« gepriesene Ära der Qualitätsserien nie mehr als ein Zeitfenster. Das nunmehr – die Zeichen stehen deutlich an der Wand – geschlossen wird: für Blockbuster-ähnlichere Formate, Nischenprodukte – möglicherweise auch für altes Bügelfernsehen in neuem, digitalen Gewand.

Auf dem Weg von der Vergangenheit in Gegenwart und Zukunft streift Oliver Schütte eine Reihe interessanter Teilaspekte – beispielsweise den, wieso sich ausgerechnet der US-Anbieter HBO zur Eichmarke entwickeln konnte für neues, anspruchsvolles Qualitätsfernsehen. Die europäische Landschaft wird in »Die Netflix-Revolution« ebenfalls durchforstet. Kritik äußert Schütte speziell an der in Deutschland gängigen Form konsensueller Produktionen. Laut Schütte sorgt sie dafür, dass sich das andernorts etablierte Prinzip des fürs Gesamtwerk verantwortlichen Showrunners hierzulande nie richtig etablieren konnte. Schütte: »In Deutschland ist der Ruf der neuen Art, Serien zu schreiben, seit einigen Jahren über den Atlantik gehallt. So arbeiten viele Produktionen inzwischen mit einem Writer’s Room. Dabei wird aber vergessen, dass das Konzept darauf beruht, dass der Showrunner die Verantwortung trägt. In Deutschland ist es allerdings unmöglich, dass nicht die Regisseure und Redakteure der Sender den Hut aufhaben.« Ein Zustand, der sich – so Schütte – in den letzten Jahrzehnten derart verfestigt habe, dass neue Arbeitsweisen allenfalls halbherzig angegangen würden.

Die Betrachtung einer medialen Entwicklung – nicht weniger, allerdings auch nicht mehr. Auf den Punkt gebracht beschreibt Oliver Schütte das Konsortium jener Akteure, die freizeittechnisch übernehmen, wenn wir von der Arbeit (oder einer anderweitigen Beschäftigung) nach Hause kommen. Eine Fundamentalkritik, wie sie Berthold Seliger in seinem Titel »I Have a Stream« publizierte oder ein Hohelied auf die Ära der Qualitätsserien wie »Die Revolution war im Fernsehen« von Alan Sepinwall ist »Die Netflix-Revolution« explizit nicht. Konkret bedeutet dies: Die Entwicklung wird in ihren wesentlichen Zügen zwar dargelegt. Wer sich allerdings näher dafür interessiert, welche Player etwa hinter der anvisierten Disney-Plattform verstecken oder welche Rolle europäische Akteure wie etwa der französische Pay-TV-Anbieter Canal plus spielen, wird sich im Detail weiter kundig machen müssen – entweder über Portale wie meedia.de, die schwerpunktmäßig über laufende Branchenentwicklungen berichten, oder Allgemeinplattformen wie etwa Wikipedia.

»Die Netflix-Revolution« ist in diesem Szenario so etwas wie der sprichwörtliche Spatz in der Hand. Das Buch liefert gut recherchiertes und allgemeinverständlich aufbereitetes Grundlagenwissen. Den Rest – die Frage, ob, wie weit oder konkret wie man sich auf die neue Medienwelt einlassen möchte – muß jede und jeder selber entscheiden.

Oliver Schütte: Die Netflix-Revolution. Wie Streaming unser Leben verändert. Midas Verlag, Zürich 2019, 224 Seiten, € 24,90. ISBN 978-3-03876-525-7.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

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