Mein politisches Tagebuch: 02. September 2014

Nordirak Die Waffen für die Kurden im Nordirak sind beschlossen. Aber werden sie auch ankommen? Der Tagebuchautor hat da Zweifel.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Mit dem gestrigen Tag konnten eigentlich alle zufrieden sein. Das Parlament erlebte wieder einmal eine seiner Sternstunden. Unaufgeregt, aber trotzdem pointiert und niemand anderem verpflichtet als dem eigenen Gewissen, sprachen sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestags für oder gegen die beschlossene Waffenlieferung an die von der IS bedrängten Kurden im Nordirak aus. Die Linkspartei votierte – inklusive einem positionstechnisch zurückruderndem Gysi – fast geschlossen dagegen. Eine Promo-für-lau-Veranstaltung war die Abstimmung für die Grünen. Ohne Angst vor praktischer Auswirkung durften sie sich nicht nur als Opposition in Szene setzen, sondern sogar als die erzpazifistische Partei, die sie bekanntlich nicht sind. Last but not least: Selbst bei der SPD gab es Abweichler. Kurzum also: ein großer Tag, ein schöner Tag für das freie Gewissen.

Sicher – das schöne Spätsommermärchen mit dem Titel »Waffenlieferung für die bedrängten Peschmerga« hat zwei, drei Schönheitsfehler. Schönheitsfehler eins: Das Parlament stimmte nicht real ab, sondern lediglich symbolisch. Heißt: Die Waffenlieferung ist Regierungsangelegenheit; das Parlament hat da nix zu melden. Schönheitsfehler zwei: die gesinnungsethisch hochstehende, aber praktisch irrelevante Pazifismusdebatte, die von Medien sowie sich angesprochen fühlenden Fraktionierungen in Linkspartei, Grünen und SPD angezettelt wurde (und in Freitag sowie angeschlossenem Online-Bereich ebenfalls ihren Niederhall fand). Die Stichworte – altbekannt. Waffen bewirken nie Gutes, Deutsche dürfen nie wieder und so weiter. Allerdings: Von einem gewaltfreien Blockadecamp im Nordirak, wo man sich mit Menschenketten den IS-Kämpfern in den Weg stellt, ist bis heute leider nichts bekannt. Also: heiße Luft, oder – theoretisch etwas anspruchsvoller formuliert: die altbekannte Dominanz gesinnungsethisch grundierter Ideologieformen in deutschen Protestbewegungen.

Wer die Welt indess nicht aus der Warte abstrakter Prinzipien betrachtet (oder der, wo der Feind des Feindes immer Freund ist), kann mit der Waffenlieferung eigentlich nur zufrieden sein. Einer der wenigen Momente, wo eine politische Entscheidung sinnvoll erscheint, angemessen und zudem den Richtigen hilft. Tut sie das? Sicher: Kurdisch-Nordirak ist nicht das Paradies – schon gar kein karibiksozialistisches und vermutlich noch nicht mal normaldemokratisch. Was das obere geografische Drittel des gebeutelten Irak auszeichnet, sind Güter, die in der Region so selten vorkommen wie Wasser in der Wüste: halbwegs funktionierende staatliche Strukturen, ein gewisses Grundlevel von Zivilität und so etwas wie eine nationalstaatliche Perspektive – ein unabhängiges Kurdistan.

Hier wird’s spannend. Nation Building nämlich ist im großen Masterplan des Westens eigentlich nicht vorgesehen. Ausnahme: Die gebuildete Nation fungiert in pflegeleichter Weise als Sachverwalter internationaler Kapital- oder Militärinteressen – ist also, siehe Beispiel Ukraine, ein nützlicher Handlanger des Westens und seiner imperialen Interessen. In Kurdisch-Irak jedoch kann der Westen gar kein Interesse haben am Entstehen staatlicher (oder auch: semi-staatlicher) Strukturen. Anstehende Friktionierungen zeigen sich bereits jetzt. Die nordirakischen Peschmerga-Kämpfer erhalten Unterstützung von der PKK – einer Gruppierung also, die mit dem NATO-Partner Türkei in einem jahrzehntelangen Konflikt steht. Auch auf iranischer Seite dürfte man die Entwicklung im Nordirak mit Sorge betrachten. Grund: die kurdischen Gebiete im Nordwesten des eigenen Landes. Syrien (wenn auch bedeutungstechnisch in geringerem Ausmaß): dito.

Letzten Endes steht also Kurdistan auf dem Weihnachts-Wunschzettel der internationalen Politik. In der Region wäre ein unabhängiger Staat Kurdistan ein Novum. Keine von Ex-Imperialmächten vorgegebenen Grenzen, kein Subimperium in sich, sondern vielmehr ein Staat, der sich im Wesentlichen von seiner Staatsbevölkerung ableitet. Zurück zu den Waffenlieferungen. Sicher – die IS hat das westliche Konzept in der Region in die Bredouille gebracht. Heute mit A gegen B, morgen mit B und C gegen A. Im Nordirak wird man die zweifelhaften Formen westlichen »Beistands« nicht vergessen haben. Vor allem den Seitenwechsel im zweiten Irakkrieg mit dem unmoralischen Angebot an Saddam: »Okay, deine Lehre wegen dem Überfall auf Kuweit hast du ja nun verstanden. Aber wir brauchen dich weiterhin. Unser Deal, der einzig mögliche: Du gibst klein bei. Und kannst im Gegenzug mit unseren Verbündeten im Norden machen, was immer dir beliebt.«

Das Ende der Geschichte ist bekannt: Irak-Krieg drei, Saddam am Strick, und ein Land, das in drei unterschiedliche Zonen auseinanderfiel. Zwei davon sind de facto unregierbar. In der mittleren Zone haben die Amis, bedingt, das Sagen. Der Rest: drei, vier sunnitische Kollaborateure, eine terrorisierte Zivilbevölkerung sowie ein Widerstand, innerhalb dem die Wahabisten die Saddamisten fast vollständig ins Abseits gedrängt haben. Die südliche Zone schließlich wird von schiitischen Kräften kontrolliert. Ambitionen der maßgebenden weltlichen und geistigen Leader: a) ein schiitisch kontrollierter Irak, b) eine schiitisch kontrollierte Sonderzone im Süden, c) Anschluss an den Iran.

Für die Imperiumsverwalter des Westens zwar verwirrend, blutig und zweifelsohne kostenaufwändig. Aus politischer Warte jedoch eine rundum komfortable Situation: Reelle Gegenkräfte mit politischen Perspektiven sind weit und breit nicht in Sicht. Aktuell spielt lediglich die IS nicht mit. Darum die Nervösität, der plötzliche Handlungsbedarf. Werden Angela Merkel, Ursula von der Leyen plötzlich heilig, zu den heiligen Angelas und Ursulas der Kurden, nur weil sie plötzlich Waffen liefern? Es gibt einen dritten, einen wesentlichen Schönheitsfehler. Die benötigten Waffen nämlich werden – wie Medien, darunter auch das heute journal, dezent zwischen den Zeilen mitteilen – nicht direkt an die kurdischen Peschmerga geliefert, sondern nach Bagdad. Wo bekanntlich viel geschehen kann. Vielleicht bewaffnen deutsche Waffen am Ende nicht die Seite, für die sie angeblich bestimmt sind. Sondern die IS – die Seite, die man vorgeblich zu bekämpfen vorhatte. Oder dritte, unbekannte Kombattanten. Woran im Irak kein Mangel herrscht.

Politik ist bekanntlich ein schmutziges Geschäft. Auch wenn es – meist – vorgegeben wird: Meist geht es nicht darum zu helfen. Sondern vielmehr darum, einen Schuldigen zu finden für das Scheitern der eigenen (guten) Bemühungen. Und darum – eine weitere religiöse Metapher, die den Sachverhalt treffend beschreibt: am Ende wie weiland der alte Pilatus seine Hände in Unschuld zu waschen.

Ich hoffe sehr, dass ich mich mit der Zielrichtung dieses Kommentars irre. Und dass die deutschen Sturmgewehre und Panzerabwehrwaffen tatsächlich dort ankommen, wo sie – zur Verteidigung von Leib und Leben – bitter benötigt werden. Ansonsten (und unabhängig von dem Waffen-Zielort, der meiner Einschätzung nach noch keinesfalls ausgemacht ist) sollte die Linke, meine Meinung, die funktionierenden Kurdengebiete im Nordirak noch dezidierter, zielstrebiger unterstützen. Wenn es nötig ist, auch mit Waffenlieferungen.

Selbst dann, wenn dieses Anliegen ein temporäres An-einem-Strick-Ziehen mit der bürgerlich-neoliberalen Regierung des eigenen Landes zur Folge hat.

In dieser Kolumne erscheinen in lockerer Folge Kommentierungen zu aktuellen (oder auch nicht ganz aktuellen) Zeiterscheinungen.

Folge drei: Knarren und Politik

Weitere Beiträge dieser Reihe:

Folge zwei: Kein Herz für Sachsen

Folge eins: Gruppenfoto mit Damen

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden