Mexiko hängt am Tropf. So zumindest der Eindruck, den die Schlagzeilen vermitteln. Die Ursachen sind multikausal. Das Verhältnis zum nördlichen Nachbarn ist notorisch angespannt. Zudem trudeln weite Teile der nördlichen Landeshälfte immer tiefer in den Strudel der Gewalt und des von den Drogensyndikaten aufgezwungenen de-facto-Bürgerkriegs. Wirtschaftlich steht Mexiko eher mittelprächtig da als prächtig. Zusätzlich in Rechnung stellen muß man die verbreitete Korruption. Erschwert wird die Konsolidierung unter anderem von den Wasserschulden, mit denen das Land beim Großen Bruder in der Kreide steht. Hintergrund: Bei den Wasserreserven des Rio Grande haben die Götter der Azteken oder das Schicksal die Yanquis eindeutig bevorzugt. Mit anderen Worten: Gingen alle Dinge ihren schlechten Lauf, müßte Mexiko längst am Boden liegen. Tut es aber nicht. Die Musik des Landes mit ihren vielfältigen Stilen ist dafür zwar sicher nicht der ursächliche Grund. Allerdings ermöglicht sie einen guten Zugang zu den Reserven, die dafür sorgen, dass Mexiko sich stetig weiter durchwurstelt.
Vom Corrido zum Narcocorrido
»Viva Mexico!« »Viva Villa!« »Viva Zapata!« Die Mexikanische Revolution von 1910 bis etwa 1920 ist nicht nur für den modernen mexikanischen Staat mit der wichtigste Referenzpunkt. Die revolutionären Ereignisse beförderten auch ein Genre, dass – mit Ausnahme vielleicht der Mariachi-Musik – prägend ist für die musikalische Landeskultur: der Corrido. Im Kern sind Corridos musikuntermalte Geschichten; der Vergleich mit europäischen Bänkelsongs geht sicherlich nicht fehl. Historisch lässt sich diese – ursprünglich aus Spanien stammende – Darbietungsform bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Im Verlauf der Revolution entstand ein eigenes Unter-Genre: die Revolutions-Corridos. Kaum ein halbwegs bekannter Anführer, dem nicht ein eigenes Lied gewidmet wurde. »La Cucaracha« etwa, eines der weltweit bekanntesten Corrido-Stücke, macht sich über den Interims-Dikator Victoriano Huerta lustig. Weitere (mehr oder weniger) bekannte Revolutions-Corridos: »Corrido de Pancho Villa« oder das in den Dreißigern entstandene Stück »Yo Me Muero Donde Quera«. Der Verlauf der Auseinandersetzungen – ein blutiges, insgesamt mehr als zehn Jahre andauerndes Gemetzel, in dem über weite Strecken schlecht bewaffnete Bauernarmeen gegen mit Artillerie und Maschinengewehren ausgestattete Regulares anrannten – verlieh auch einem bislang wenig in Erscheinung getretenen revolutionären Subjekt neue Bedeutung: den Frauen. Einige von ihnen – darunter Petra Herrera aka Pedro Herrera, Colonel in Pancho Villas Nordarmee – avancierten innerhalb der revolutionären Milizen gar zu veritablen Kommandeurinnen. Eines der bis heute beliebtesten Traditions-Lieder, welche die Rolle von Frauen in der Revolution thematisieren, ist »La Adelita«. Wer jene Adelita ist, welche der Songtexter anschmachtet, und ob die Person dahinter mehr war als eine Legende, ist nicht bekannt. Die Rolle der diversen Adelitas feiert allerdings eine Reihe weiterer populärer Lieder – beispielsweise »La Marieta« und »Las Soldaderas«.
Dass die aufgeführten Titel in einer einigermaßen modernisierten Form vorliegen, ist nicht unwesentlich das Verdienst von Amparo Ochoa. Die aus dem nordmexikanischen Bundesstaat Sinaloa stammende Sängerin spielte in den Siebzigern und Achtzigern eine ganze Reihe von Alben mit Revolutions-Corridos sowie thematisch verwandtem Liedmaterial ein – darunter das Gros der im letzten Abschnitt aufgeführten. Eine weitere Förderin dieser Tradition stammt von nördlich der Grenze: die US-amerikanische Country-Sängerin Linda Ronstadt. Ronstadt – für ihre Zusammenarbeit mit der Country-Ikone Emmylou Harris ebenso bekannt wie als Unterstützerin des kritischen Dokumentarfilmers Michael Moore – veröffentlichte in den späten Achtzigern zwei Alben, welche ihrer Hispanic-Herkunft musikalisch Tribut zollten: »Canciones de mi padre« und »Mas canciones«. »La rielera« – im Clip oben mit ebenso oppulenter wie stilechter Liveshow in Szene gesetzt – thematisiert die Geschicke einer Eisenbahnerin während der Revolutionsära und gehört ebenfalls zu jener Auswahl an Traditionals, auf die Interpret(inn)en immer wieder gern zurückgreifen.
In der Nach-Revolutionsära wurden die Corrido-Schreiber zunehmend arbeitslos. Getreu der Tradition, die Geschichten der Ausgestoßenen und Rebellen nachzuerzählen, suchten sie sich ein neues Sujet. Im Grunde beginnt die Geschichte des modernen, zeitgemäßen Corridos mit den Alkohol- und Marihuana-Schmugglern, welche den trockengelegten Prohibitions-Sumpf nördlich der Grenze mit frischer Ware belieferten. Als Schlüsselsong für den Übergang vom traditionellen Corrido zum Narcocorrido gilt »Contrabando y traición« aus dem Jahr 1974. Mit »contrabando« etablierten die aus San José, Kalifornien stammenden Los Tigres del Norte nicht nur einen frühen Klassiker des Genres. Mit einen stetig wachsenden Repertoire ähnlich gestrickter Songs sowie ihrem mit Rock-Elementen hochgetunten Norteño-Stil ist die Band eine der erfolgreichsten sowie langlebigsten Formationen im Metier. Allzuviel Nähe zum Unterwelt-Milieu der Narcotraficantes und ihrer Paten versuchen Sänger Jorge Hernández und seine Mitstreiter zwar zu vermeiden. Die Band sieht sich als Chronist – als Formation, welche die kriminellen Aktivitäten lediglich begleitet. Auch wenn Hernández auf die textlich eingebauten Verfremdungen pocht und bemerkt, dass die in einem Autoreifen versteckte Marihuanamenge in Real Life nicht einmal zum Decken der Spritkosten ausreiche, versteht das Publikum die Botschaft durchaus – wie Publikums-Beifall sowie hochgereckte manos cornutas bei einschlägigen Song-Höhepunkten unter Beweis stellen.
Hat man sich Narcocorrido-Interpreten als eine Art singende Kriminalreporter vorzustellen? Von Underdog-Romantik kann zwischenzeitlich nur noch wenig die Rede sein. An die Stelle des altbackenen Mariahuana-Schmuggels ist eine durchorganisierte Drogen-Ökonomie getreten – mit Koka, Meth, Waffen, Flüchtlingen sowie Frauen als neuen Erwerbsquellen. Die mexikanische Regierung geht gegen die Narcocorrido-Musik mit Airplay-Verboten sowie offener Zensur vor. Der Beliebtheit des Genres – vor allem bei den abgehängten Teilen der Jüngeren – tut das keinerlei Abbruch; im Gegenteil. Auch stilistisch befinden sich die neuen Narcocorrido-Interpreten auf der Höhe der Zeit. So hat das Aufkommen sogenannter Trap-Corridos (mit Samples sowie Hip Hop-Elementen gekreuzte Norteño- und Banda-Musik) sogar für eine partielle Entspannung der innerethnischen Gang-Rivalitäten im US-Südwesten gesorgt. Andererseits glorifizieren die Narcocorridos – Beispiel: El Komander und sein Genre-Hit »Leyenda M1« – ganz offen die Kultur der Gewalt, der entgrenzten Habgier sowie das zum Gangster-Lifestyle hinzugehörende machistische Frauenbild. Direkte Auftragsanfertigungen für die Drogenbosse sind mittlerweile ebenfalls Teil des Metiers. Ein unbekannter Narcocorridista kann dafür mehrere tausend US-Dollar einstreichen, eine bekannte Genregröße das fünf- bis zehnfache. Auf der sicheren Seite des Gesetzes leben allerdings auch Insider nicht. Bislang starben mehrere Dutzend Musiker eines gewaltsamen Todes. Highlight des diesbezüglichen Scheckens: die Entführung und Ermordung von 17 Mitgliedern der Tropical-Band Kombo Kolombia im Jahr 2013. Andererseits hat fast jede Geschichte ein »Aber«: So eröffnet die Ökonomie der Kartelle zumindest partiell und für Einzelne die Möglichkeit, zu relativ – manchmal sogar zu viel – Wohlstand zu gelangen.
Mariachis, Cumbia & Tropical
Im Gegensatz zu den Drogenmafia-Stücken darf sich die Mariachi-Musik jeder Menge staatlicher Protektion erfreuen. Beispiel: dieses von Polizeikapelle-Mitgliedern gestellte Flashmob-Platzkonzert in Mexico City. Auch sonst ist Mariachi in fast jeder Beziehung das Gegenteil des aufmüpfigen Corridos. Entstanden ist sie ungefähr zeitgleich. Traditionelle Basis ist der mexikanische Son, eine Mestizen- und Indigenen-Musik, die in fast jedem Bundesstaat ihre eigene Ausprägung hat. Porfirio Díaz, Mexikos langjähriger Diktator, verpasste den Son-aufspielenden Bauernkapellen den bis heute gültigen Look: breite Sombreros sowie ein Outfit, dass sich an dem wohlhabender Hazienda-Besitzer orientierte. Mariachi-Musik ist in Mexiko allgegenwärtig – vor allem in den zentralen und südlichen Landesteilen. Stark befördert wurde das Bild entsprechender Kapellen von Filmen der Dreißiger und Vierziger Jahre. Fazit: Mariachi ist manchmal urkomisch, oft sentimental, gelegentlich Blockbuster-tauglich und – das Wichtigste – aus dem mexikanischen Alltag kaum wegzudenken. Mariachis spielen auf Hochzeiten auf, privaten Parties, öffentlichen Veranstaltungen; desöfteren auch in Form eines Ständchens, welches der Liebhaber seiner Angebeteten unter dem Fenster zukommen lässt. Auch stilistisch ist diese Form Musik ungemein vielseitig. Beispiel für die traditionelle, mit viel Oppulenz ausgestattete Vortragsform: »La Charreada« (deutsch: »Das Rodeo«) – ein Ranchera-Traditional, dass hier von Sandra Gonzales in Begleitung der Kapelle El Mariachi Alas de Mexico de Guadalajara Jalisco zum Besten gegeben wird.
Wie unterscheidet man die vielen Stilrichtungen der mexikanischen Musik? Ein guter Orientierungspunkt ist die Hutmode. Im Norden bestimmen US-amerikanische Cowboyhüte das Bild. In der Mitte und im Süden hingegen sind – so »Hut« überhaupt sein muß – eher breite Somberos angesagt. Musikalisch ist die Spielweise der Cowboyhutträger – Hauptrichtungen: Norteño, Tex-Mex und Banda – stark von den Stil-Mitbringseln mitteleuropäischer Einwanderer durchsetzt: im Texas-nahen Abschnitt der Grenze von Akkordeon und Polka, weiter westlich von Blaskapellen südeuropäischen Zuschnitts. In den Landesteilen mit stärkerer Affinität zum bäuerlichen Sombrero hingegen werden die Gitarren-Ensembles oft von Streichern oder Bläser-Sets unterstützt; hinzu kommt der wie eine Gitarre am Bauch des Spielers hängende mexikanische Zupfbass. Überlagert wird dieses Grundschema durch die Einflüsse karibischer sowie kolumbianischer Musik. Hauptmerkmal hier: Die jeweiligen Horn Sections klingen eher nach Swing und Salsa als nach Blaskapelle oder dem Begleitorchester von André Rieu. Auch diese Einflüsse – zu nennen sind vor allem Bolero und Habanera (Kuba) sowie Cumbia (Kolumbien) – machen sich lokal unterschiedlich bemerkbar. Ein weiteres Unterscheidungsschema ist das Stadt–Land-Gefälle. Während traditionelle Musik vielerseits recht urtümlich (und indigen) daherkommt, offeriert der urbane Schlager oft die balladesk-schwermütige Schwüle südeuropäisch-spanischer Provinienz.
Eine Interpretin, die sowohl die Kargheit der klassischen Gitarrenballade als auch die Grandezza orchestraler Begleitung kannte, war Chavela Vargas. Die Grand Old Lady des Ranchera hat eine Karriere hingelegt, wie sie ein Quentin Tarantino nicht besser verfilmen könnte. In den Sechziger Jahren war die Sängerin mit der tiefen, markanten Stimme ein Star, den in Mexiko so gut wie jeder kannte. Ende der Achtziger erfolgte das Comeback: musikalische Mitarbeit bei dem Biografiefilm »Frida« (inklusive einer Neuauflage ihres Erfolgssongs »Paloma negra«), Auftritte in Filmen von Walter Saxer sowie Pedro Almodovar, neue Alben, Konzerte. In dem fast 20 Jahre umfassenden Zeitloch davor war Vargas abgesackt, vergessen und lebte mittellos in einer Gartenlaube. Ihr Tequila-Volumen in dieser Zeit: eigenen Angaben zufolge 45.000 Liter. Stilistisch ein wenig vergleichbar mit der 2012 verstorbenen Dame des großen Ausdrucks ist die aus Mexico City stammende Folksängerin Natalia Lafourcade. »La Llorona« (frei übersetzt: »die weinende Frau«) ist ein Traditional der mexikanischen Ballade. Chavela Vargas hatte es ebenfalls im Repertoire. In dem dazugehörigen Videoclip (siehe oben) kombiniert Lafourcade den vielinterpretierten Klassiker mit der ebenfalls klassischen Optik des Diá de Muertos, des mexikanischen Totensonntags.
Womit wir bei Lila Downs angelangt wären. Die 1968 im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca geborene Sängerin ist derzeit der herausragende Superstar der mexikanischen Popmusik. Ebenso wie Chavela Vargas wirkte auch Lila Downs an dem Biografiefilm »Frida« mit. Ihre Jugend- und jungen Erwachsenenjahre verbrachte die Tochter eines schottisch-amerikanischen Vaters im Yankee-Land, genauer: in Minnesota und Südkalifornien. Zunächst begeistert von Grateful Dead und Jazz, wandte sie sich schließlich der Musik ihrer Heimat zu. Indigene Bestandteile sind ein fester Teil ihres Repertorires. Hinzu kommen Cumbia, Tropical sowie andere karibische Stile. Ebenso oppulent und durchchoreografiert wie ihre Live-Auftritte sind die Videoclips zu ihren jeweiligen Hits. Wie in ihrer Musik zeigt sich auch im Visuellen die Liebe zu Stil-Vielfalt und Details. Ihr Hit »La Cumbia del Mole« (siehe oben) ist einfach extrem tanzbarer Cumbia. »Urgo« wiederum ist eine tangoähnliche Latino-Ballade und »Zapata se queda« ein Stück, dessen Clip indigene Einflüsse mit quietschbunten Farben kombiniert. Ein Wort zu verlieren wäre schließlich noch über die Cumbia-Welle, der sich auch die Mexikaner und Mexikanerinnen schon seit längerem mit Begeisterung hingeben. Ursprünglich ein lokal auf Kolumbien beschränkter Musikstil, hat sich die »Cumbiamania« zwischenzeitlich über den gesamten Kontinent ausgebreitet. Mit kubanischen Klängen ist die mexikanische Popularmusik schon aus nachbarschaftlichen Gründen eng verquickt. So verstarb die kubanische Sängerin Lupe Victoria Yolí Raymond aka »La Lupe« 1992 im mexikanischen Exil. Ihre Landsfrau, Salsa-Königin Celia Cruz, nutzte mexikanisches Territorium hingegen als künstlerisch-kreativen Zwischenstopp.
Rock, Punk, Banda & Nortec
Als alltagskulturell eher randständig – zumindest im Vergleich zum nördlichen Nachbarn – präsentiert sich hingegen das politische Lied. Unter den Bezeichnungen Canto Nuevo oder Canción de protesta hat die Tradition des zeitkritischen Songs zwar auch in Heimat der Azteken und Mayas seine Spuren hinterlassen. Mit der Folksinger- und Liedermacher-Szene der Vereinigten Staaten oder Europas lässt sich die Szenerie allerdings nur schwer vergleichen. Herausragende Persönlichkeit unter den kritischen Liedermachern Mexikos ist der 1935 geborene Óscar Chávez. Anders als seine Kollegin Amparo Ochoa widmete sich Chávez nicht der Traditionspflege, sondern kultivierte in seinen Songs die politische Klartextansage – beispielsweise in seinem Song »Macondo« aus dem Jahr 1969. Ebenfalls schwer hatten es in den Sechzigern und Siebzigern die ersten zarten Sprossen der Rockmusik. Nicht nur, dass die intellektuell-linkspolitisch geprägten Akteure des Canto Nuevo zur Rockmusik ähnlich auf Abstand gingen wie puritanistisch gestimmte US-Folksinger seinerzeitig zu Dylan, den Byrds & Co. Einig war man sich mit der regierenden PRI zudem in der Einschätzung, die Rockmusik sei ein imperialistisches Produkt des großen Bruders im Norden. Deshalb – so das Argument der Revolutions-Nachlassverwalter in der Partei der Institutionalisierten Revolution – müsse sich Mexiko dieser fremdländischen Einflüsse dringend erwehren.
Flankiert wurde der Erstkontakt zwischen Staatsgewalt und Jugendkultur von der blutigen Niederschlagung der Studentenunruhen im Jahr 1968 – gipfelnd in einem staatlich in Szene gesetztem Massaker, bei dem zwischen 200 und 300 Student(inn)en ums Leben kamen. Die paternalistisch-paranoide Repressionswelle, die in jedem Hippie einen potenziellen Zersetzer der Landeskultur wähnte, währte bis weit in die Siebziger. Für einreisende Langhaarträger war der zuvor zu absolvierende Faconschnitt zu jener Zeit eine weitverbreitete Prozedur. Einheimische Rockbands traktierte man mit Zensur sowie anderweitigen Repressionen. Nichtsdestotrotz hatte sich bis zum Beginn der Neunziger eine Rockszene etabliert, die langsam daranging, eigenständige Akzente zu setzen. Zwischenzeitlich zeigt sich die Szenerie ähnlich diversifiziert wie die in anderen großen (nichteuropäischen) Ländern. Unverbindlich-popkompatibler Schmuserock wie der von Maná koexistiert neben dem Dire-Straits-inspiriertem Gitarrenrock der Formation Café Tacuba (Clip: »Aprovéchate«) oder dem Singer-Songwriter-Rock von Elis Paprika. Verbindendes Merkmal von Rockmusik made in Mexico: die spanische Sprache. Die keinesfalls als Geste vorauseilenden Gehorsams zum Tragen kommt, sondern vielmehr mit die Inhalte transportiert, welche den jeweiligen Bands wichtig sind.
Wer von der neuen mexikanischen Rockszene redet, kommt an einer Formation nicht vorbei: Tijuana No!. Die 1989 in der nordwestlichen Grenzmetropole gegründete Band ist eine der wenigen Landes-Formationen, die mühelos Stadien befüllen kann. Ihre Musik ist ein druckvoller, schneller Ska-Punk, einer ihrer größten Hits das Stück »Pobre de ti« (zu deutsch, selbstverständlich in der gemeinten ironischen Konnotation: »du armer Kerl«). Gefördert wurde die Gruppe unter anderem von Manu Chao; ein wichtiges Vorbild: die britische Punk-Combo The Clash. Zu Anfang grenzten sich Tijuana No! von den politisch inspirierten Liedermachern des Canto Nuevo noch deutlich ab – allerdings nur, um der Liedermacher-Kultur ein eigenes, anarchistisch geprägtes Politikverständnis von unten entgegenzusetzen. Jorge Velasquez, Bassist der Formation: »Oft wissen die Leute gar nichts von den Schweinereien, die in Mexiko passieren und hören sie in unseren Texten oder bei unseren Ansagen zum ersten Mal. Dann denken sie hoffentlich darüber nach.« Als zumindest völkerverständigend lässt sich schließlich die Musikkarriere jenes weltbekannten Musikers interpretieren, der wie kein anderer für den Crossover zwischen Rockmusik, Jazz und mexikanischen Klängen steht: Carlos Santana (hier live zusammen mit Lila Downs, Soledad und Nina). Ein nicht so gutes Standing hat in Mexiko hingegen der Jazz. Als Nischenstil ist er zwar präsent. Das Problem hier allerdings: die großen internationalen Labels, welche die guten Musiker in Richtung Norden abziehen. Beispiel für zeitgenössischen mexikanischen Jazz an der Stelle: die Musikerin Magos Herrera mit ihrer Formation Brooklyn Riders und dem Titel Niña.
Cumbia war um die Jahrtausendwende das neue Ding. Das derzeit aktuellste trägt den Namen Banda. Die von Tuba und Horn geprägten Blaskapellen haben sich zwischenzeitlich in jede Stilrichtung eingeschlichen, die beidseitig der US-Grenze en vogue ist. Trefflich kombinieren lassen sich Tuba & Co. auch mit Corridos, welche die anhaltende Benachteiligung der hispanischen Bevölkerung in den USA anprangern. Beispiel hier: »Soy Mexico Americano« von Los Cenzontles. Weniger traditionalistisch kommt der neueste Clone dieser Form Musik: Nortec – ein Ableger der elekronischen Dance Music. Ähnlich wie die Narcocorridistas ihre Musik mit Banda und Ähnlichem anreichern, kombinieren auch die Künstler(innen) des Nortec traditionelle, volkstümliche Elemente – hier mit elektronischen Beats, DJs, Samples, Sänger(innen) sowie begleitenden Instrumenten. Zentrum des Nortec ist die Nordwest-Metropole Tijuana. Als Musiker Furore gemacht haben vor allem diverse Mitglieder des Zusammenschlusses Nortec Collective. Bekannt unter anderem auch von Auftritten in Deutschland ist das Duo Bostich + Fussible. Stücke wie »Radio Borderland« und andere mögen – die eine mögliche Sichtweise – zwar nicht mehr sein als elektronische Musik für ein international geprägtes Club-Publikum, dass hierzulande etwa auf die Auftritte von Shantel und ähnlichen Künstlern steht. Die andere Sichtweise: Die Adaption landeseigener Musiktraditionen in Dance, Trance und ähnlichen Richtungen zeigt, dass auch international geprägte Lebensentwürfe letztlich nur funktionieren, wenn als Korrektiv eine lokale Anbindung hinzukommt.
Fazit
Die mexikanische Musikkultur erlebt derzeit eine interessante, von viel kreativer Experimentierfreude geprägte Übergangsphase. Die Kennmarken dabei ähneln nicht nur denen anderer, vergleichbar entwickelter Länder. In den angelsächsisch-westeuropäischen Ländern hat sich die Popkultur ebenfalls nach dem Schema Abgrenzung zur Hochkultur / landesweiter Popmarkt / Dissidenz & Differenzierung / Internationalisierung weiterentwickelt. Auch in Mexiko hat sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ein Stil-Mix etabliert, der neben traditionellen (ruralen und städtischen) Stilen dissidente Formen herausgebildete und dessen Mainstream zunehmend Teil eines großen lateinamerikanischen Musikmarktes ist. Bezogen auf den aktuellen Stand ist so durchaus eine positive Prognose möglich: Ein Land mit einer derartigen (kulturellen) Vielfalt wird dauerhaft weder ein Opfer kulturimperialistischer Ambitionen noch wird es sich politisch (leicht) über den Tisch ziehen lassen.
Webinfos zu den einzelnen Stilen: Corrido & Narcocorrido | Norteño | Banda | Nortec | Ranchera | Mariachi | Cumbia
Technischer Hinweis: Wiedergabe-Probleme – speziell bei eingebetteten Videos – lassen sich oftmals durch die Verwendung von Firefox umgehen. Die eingebetteten YouTube-Clips hier nochmal als Direktlink: La Rielera (Linda Ronstadt) | Contrabando y traición (Los Tigres del Norte) | La Llorona (Natalia Lafourcade) | La Cumbia del Mole (Lila Downs) | Pobre de ti (Tijuana No!) | Radio Borderland (Nortec Collective / Bostich+Fussible)
Kommentare 21
Sosehr ich Deinen (sind wir beim „Du“?) Populismus schätze, sosehr habe ich Schwierigkeiten mit dem ästhetischen Niveau der hier vorgestellten Musik (Natalia Lafourcade nehme ich mal aus). Ich kann mir das nicht erklären, zumal im benachbarten Kuba, in der Andenfolklore, in Milonga und Tango, in der Musica Popular Brasileira ein unvergleichlich hohes Potential vorliegt. Oder in den Klängen des verhaßten und ersehnten Nordens, der neben der unsäglichen Country-Music der alten weißen Männer den Blues und den Jazz (der alten schwarzen Männer) zu bieten hat.
Das Einfache muß doch nicht trivial, primitiv sein. Wofür steht dieses kantenlose, schmierige Dur? Dieses Baden in der Affirmation? Oder steht es für eine Camouflage, eine Lustigkeitsfratze angesichts unerträglicher Verhältnisse? Die Beschwörung von Siegen, die verfehlt wurden? Ist es die pure Verzweiflung, mit der die Realität zugedröhnt werden soll? So wie Menschen, denen die Wirklichkeit entglitten ist, sich manchmal durch einen Ordnungstick zu retten versuchen?
Aber vielleicht ist das ja einfach die Musik der Mitläufer und Nutznießer der Gewalt, der manchmal sentimentalen Machos. Und Popularität ist die Identifikation mit dem Aggressor. So würde Unkultur und Unfrieden passen.
Bei mir ist es anders: Ich hadere nicht mit den Mariachi-Süßlichkeiten etc. (sie gehören wohl einfach "dazu" - mit vieviel Popscheißbeschallung müssen wir tagtäglich im öffentlichen Raum klarkommen?), sondern fand zum Beispiel den Ansatz, die Hutmode als "Orientierungspunkt" für die verscheidenen Musikströmungen zu nehmen und daran anknüpfend die unterschiedliche Instrumentierung, äußerst angegend. Insgesamt las ich eine beeindruckende Darstellung - als Nichtkenner der mexikanischen Musikszene kann ich Einzelheiten nicht debattieren, das ist ja auch nicht schlecht.
Besonders dankbar bin ich für die "Einstellung" des Liedes "La Llorona" in der Interpretation von Natalia Lafourcade - die Aufnahme ist auch tontechnisch hervorzuheben (Aufnahme, Mischung, zurückhaltender Einsatz der "Bordmittel"): wunderbar.
Danke für deine Kritik (»Du« = gerne). Hier eine hoffentlich nicht allzulang ausfallende Antwort.
Der Artikel soll weniger Meinung oder Geschmacksurteile liefern als vielmehr Hintergrundinfos zu dem gewählten Thema – eine Herangehensweise, die ein möglichst repräsentatives Abdecken erfordert. Darüber hinaus bin ich dF(C)-technisch eh stärker auf den Info-Bereich versiert – ein Bereich, der innerhalb von dF(C) eh zu oft zugunsten der breitest gepflegten »Meinung« hintunterfällt.
In realitas ist es natürlich so, dass ich dem gewählten Sujet in gewisser Weise auch ein Stück Liebe entgegenbringe – wenn man so will: »kritische Liebe«. Im konkreten Fall betrifft das natürlich nicht jede Beschreibung und jede Stückauswahl gleichermaßen, und auch in Bezug auf den »Kitschfaktor« stimme ich dir – speziell, was den Mariachi-Part anbelangt – großteils zu. Allerdings gehört auch diese Musik in eine Story, die eben die mexikanischen Musikrichtungen thematisiert. Grundsätzlich wichtig bei derlei ist mir der Part der Herangehenswiese: dass ich mich beim Vermitteln von Infos großteils dem Mitteilen meiner werten Meinung dazu enthalte (sonst wird der Part der Info nämlich schnell obsolet).
Ansonsten würde ich dir auch inhaltlich beim Gros widersprechen. Das Gros der Künstler(innen) bewegt sich zumindest in einem politisch vage fortschrittlichen Kontext. Das (politische) Engagement einer Band wie Tijuana No! ist mindestens so hoch zu veranschlagen wie das etwa der Ärzte oder der Toten Hosen hierzulande, und auch eine Künstlerin wie Lila Downs bewegt sich sicher weitab des Kitschfaktors. Grundsätzlich ist meine Haltung zu der Chose allerdings tatsächlich stark eine »populistische«. Um es mit etwas Pathos zu formulieren: Meines Erachtens braucht die kommunistische Sache derzeit dringend ein paar mehr begabte Karaokesänger(innen) anstatt, Sorry, noch mehr theoretische Durchblicker. Und, etwas spitze Anmerkung zum Schluss: Auch die Bluessänger(innen) thematisieren in ihren Stücken längst nicht mehr nur ausschließlich die Arbeit auf den Baumwollfeldern ;-).
(@ w.endemann + Rüdiger Grothues)
Danke für das das Auswahl-Lob beim Clip zu »La Llorona«. Hatte ihn und die Sängerin erst vergleichsweise spät entdeckt. Finde allerdings ebenfalls, dass er verglichen mit den Mitbewerbern nach oben durch die Decke kracht.
Information ist immer gut, auch Information, auf die man lieber verzichten würde, die man aber wissen sollte. Von meiner Seite daher keinerlei Einwände gegen „neutrale“, aber auch offen bewertende Information. Und ich nehme auch gerne verstörende Informationen zur Kenntnis, nur verstört mich die eben. Und da verstört mich, von einer Musik zu erfahren, die im besten Sinn politisch engagiert, aber schlecht/fantasielos gemacht ist. Du hast vielleicht schon meinen Kommentaren entnommen, wie wichtig mir Eislers Programm „gegen die musikalische Dummheit“ ist, und meine gegebenenfalls geäußerte Kritik ist nicht boshaft gemeint.
Nun kenne ich mich nicht in mexikanischer oder Mariachi-Musik aus, nur das wenige, das mir zu Ohren gekommen ist, hat mich weghören lassen. Deine wohl stark an Popularität orientiert ausgewählten Beispiele haben den selben Reflex ausgelöst, und gerade, wenn die semantische Botschaft der Musik zu begrüßen ist, ist die Verstörung umso größer. Ich kritisiere nicht die gemeinschaftliche Freude, Fröhlichkeit, Ausgelassenheit, aber wenn musikalisch „ein Prosit der Gemütlichkeit“ angestimmt wird, schüttelt es mich.
Zurück zur mexikanischen Musikkultur. Da verstehe ich einfach nicht, wie sich in dem Umfeld der musikalischen Einflüsse nicht mehr Santana, zB die wunderbare Symbiose mit John Lee Hooker „The Healer“, oder dessen Latinorock auch in der nichturbanen Musik niedergeschlagen hat. Sicher könntest Du mit geeigneten Beispielen mein Vorurteil aufhellen, aber ist es gänzlich unberechtigt? Was sagst Du zu der Parallele Santana – Mariachi und Krautrock (war teilweise bayrisch)/Willy Michl – bayrische Volksmusik?
Nugut – dass mexikanische (Mariachi-)Musik und du in diesem Leben kaum noch Freunde werden, ist mittlerweile bei mir angekommen ;-). Nicht ganz stehenlassen kann ich dein recht pauschal ausfallendes Gesamturteil. Der von dir als Beispiel für akzeptablen Musikgeschmack aufgeführte Carlos Santana etwa hat mit der im Artikel beschriebenen Lila Downs zusammengearbeitet; im Artikel ist der Clip sogar als Beispiel verlinkt. Sicher kein Zeugnis der »musikalischen Dummheit« ist auch die Musik der Jazzmusikerin Magos Herrera (ebenfalls Clip-Link im Artikel). Und Oscar Chavez, würde ich mal sagen, ist sowas wie die mexikanische Version von F. J. Degenhardt.
Deine aufgestellten Vergleiche auf der Achse anspruchsvoll – eher einfach gehalten würde ich als ungefähr zutreffend klassifizieren. Wie gesagt – ich sehe niemand schräg an, der mit der Chose nichts anfangen kann oder will (oder sich gar gruselt). Umgekehrt jedoch bin ich, gerade als »Populist«, etwas vorsichtig mit dem Verabsolutieren von hohen Ansprüchen. Die können reputable Gründe haben – etwa dann, wenn die Mucke Oberschrott ist, handwerklich stümperhaft oder aber massiv reaktionäre Inhalte transportiert (wie etwa Florian Silbereisen). Ebenso kanns aber auch danebengehen – wenn die hohen Ansprüche lediglich dem Zweck dienen, sich von der vermeintlich (tumben) Masse abzugrenzen.
Ich persönlich präferiere eh die Gebiete zwischen diesen Polen (meiner persönlichen Meinung nach die interessantesten). Aber wie gesagt – letzten Endes ist Musik Geschmackssache. Und da soll jede(r) mit dem glücklich werden, was er oder sie eben mag.
"Und da verstört mich, von einer Musik zu erfahren, die im besten Sinn politisch engagiert, aber schlecht/fantasielos gemacht ist. Du hast vielleicht schon meinen Kommentaren entnommen, wie wichtig mir Eislers Programm „gegen die musikalische Dummheit“ ist [...]"
Ich denke, hier sollten Dinge auseinandergehalten werden. Eislers Programmatik kann nur für den Bereich der sogenannten "ernsten" Musik oder "Kunstmusik" sprechen und Eisler hat ja auch allein seine Kollegen angesprochen. Auch seine Kampfmusik, seine Lieder, die "auf der Straße zu singen", bleiben Schöpfungen aus der gelehrten Komponistenstube. Die Primitivität und das Mitreißende sind hier bewusst hergestellt und konstruiert.
Popularmusik darf das Affirmative und das Primitive. Sie sind ihr wesensimmanent und können und dürfen nicht gegen sie gewendet werden, will man sie nicht gänzlich verkennen. Volksmusiken und ihre, wie heute zumeist üblich, "Weiternutzung" im Gewande des Schlagers und Pop (so ja auch Zietz' Mexiko-Beispiele) bleiben in der Regel klaren Stereotypen verpflichtet. Der sinnliche Moment der Musik gilt und wirkt hier unmittelbar und ist wiederum notwendig - sonst wäre es eben keine Popularmusik, keine Volksmusik. Gleichermaßen ist die Einfachheit auch sehr oft eine exklusive, die nicht so ohne Weiteres nachzustellen ist. Das, ja durchaus abwertende, Wort von der Primitivität legt schlicht oft der Musik nicht adäquate Maßstäbe an.
Außerhalb traditioneller Bindungen bleibt alles Weitere Geschmackssache. Bei dem den traditionellen Bindungen entrissenen modernen Menschen ist es häufig Exotismus, der eine fremde Volks-/Popularmusik besonders interessant wirken lässt. Wenn einem dagegen eine gemütliche Dur-Lastigkeit in Terz- oder Sextparallelen, wie aus der heimischen Tradition, abgeht, wird man die auffälligerweise sehr ähnlich gestrickte Mariachi-Musik wohl auch eher ablehnen. Die Stereotypität an sich ist aber in jeder traditionellen Musik gleichermaßen da - egal, ob Blues, ob kubanische oder mexikanische oder ... Musiken.
Für das Politische ist es wiederum gerade wichtig, dass eine Musik sich als "popular" eignet. So ist "Bella ciao" seinen Weg vom alten Arbeiterlied zum Partisanenlied gegangen und so etwas wie eine Hymne der Linken geworden.
Ich wollte kein Pauschalurteil zur Mariachimusik abgeben, kann es gar nicht wegen mangelnder Kenntnis*. Solche Musik ist mir schon zu Gehör gekommen, und ich habe mich für einen Beitrag dazu interessiert. Ich habe nicht Lila Downs bemäkelt, denn wenn ich das richtig sehe, spielt diese Stilistik bei ihr keine große Rolle. Über das, was Du nach dem Einstieg in die Mariachitradition zur mexikanischen Popularmusik sagst, habe ich mich nicht geäußert. Was nicht heißt, daß ich das nicht interessant finde oder Vorurteile dagegen hätte. Grundsätzlich lege ich allerdings ästhetische Maßstäbe an alle Musik an. Ich weiß, das das eher selten gemacht wird, finde das aber schade.
Natürlich hat Musik viele Funktionen, die mit Ästhetik nichts zu tun haben, das ist auch in Ordnung. Aber ich denke doch, daß mir kein Musikliebhaber widerspricht, wenn ich das bemängele. Das ist kein elitärer Standpunkt, denn das Gute findet sich im Einfachen wie im Elaborierten. Um ein Beispiel aus dem behandelten Musikgroßraum zu nehmen, die Musik von Cesaria Evora ist so schlicht wie makellos. Und ist Besame Mucho nicht ein mexikanisches Lied, ergreifend schön, universal verständlich. Ich glaube nicht, daß man solche Urteile bezweifeln kann. Daran habe ich diese eigenartige Tradition gemessen.
* Dazu meine Frage: gibt es Stücke in Moll, und gibt es kontrapunktische Bläser- und Harmoniebewegungen?
Selbstverständlich darf Popularmusik „das Affirmative und das Primitive“, man darf auch Analphabet sein. Und wie ich im Vorkommentar sagte, mit Musik verbinden sich die unterschiedlichsten Bedürfnisse. Das kritisiere ich nicht, und ich werfe Leuten nicht ihren schlechten Geschmack vor. Aber sie bleiben unter ihren Möglichkeiten, ihnen bleibt der Genuß, das Glück des Schönen verschlossen, diese völlig überflüssige Armut sollte überwunden werden. Wir sollten lernen, das Schöne zu lieben, das sollte ein Menschenrecht sein. Man muß ja nicht gleich das Zuwiderhandeln zum Verbrechen erklären. Hört sich vielleicht verrückt an angesichts des materiellen Elends, wir haben sicher wichtigere Probleme, aber keine schöneren.
“Aber sie bleiben unter ihren Möglichkeiten, ihnen bleibt der Genuß, das Glück des Schönen verschlossen, diese völlig überflüssige Armut sollte überwunden werden. Wir sollten lernen, das Schöne zu lieben, das sollte ein Menschenrecht sein.“
Ich meine das jetzt nicht böse, aber aus diesen Zeilen spricht tatsächlich eine rein oder allzu ästhetische Perspektive und bürgerliche Arroganz. So fehlt, finde ich, die Möglichkeit der Frage danach, was in dem, dass Du (wenn ich zum “Du“ übergehen darf) als “Armut“ kennzeichnest, vielleicht als “Reichtum“ enthalten ist und somit verpasst würde.
Nein, das ist keine Arroganz, und ja, daraus spricht eine ästhetische Perspektive. Das ist der Punkt: Natürlich kritisiere ich Naturvölker nicht, die keinen Sinn für Ästhetik entwickelt haben. Aber es ist eine menschliche Fähigkeit, der Welt eine ästhetische Ordnung unterzuschieben, die Dinge der Welt unter dem Aspekt ihrer Schönheit* zu betrachten und zu genießen, und wo das nicht geschieht, bleibt man unter seinen Möglichkeiten, im sinnlichen Austausch mit der Welt unter einer in jeder Hinsicht positiven Form des Konsums, Steigerung des Genusses ohne Belastung der Umwelt, Steigerung der Intelligenz, ohne anderen zu schaden, sondern im Gegenteil, das Erwerben eines gemeinsamen Reichtums. Das ist die Hauptbedeutung der Kunst, und so wurde sie fast zu einer Religion erhoben. Daß sie zur Distinktion mißbraucht wurde, ist nicht zu bestreiten, aber das entspricht nicht dem Wesen der Kunst, so wie der Mißbrauch der Wissenschaft nicht dem Wesen der Wissenschaft entspricht.
Kurz: Mit Armut ist das Fehlen einer ästhetischen Perspektive gemeint. Wer das Ästhetische nicht kennt, dem fehlt auch nichts. Aber ich möchte auch feststellen, daß sich die ästhetische Perspektive in allem, was wir Hochkultur nennen, entwickelt hat.
* Schönheit ist nicht naturgegeben, wir verwechseln leicht das Naturschöne, das tatsächlich Biofunktionalität bedeutet, mit dem ästhetisch Schönen, das mit dem Naturschönen nur in einem losen Zusammenhang steht, denn ästhetische Schönheit ist Selbstzweck, hat keine andere Funktion als das interesselose Genießen (für den Rezipienten), vorsichtiger ausgedrückt: keine andere Primärfunktion. Selbstverständlich kann die Verbindung von Kunst mit Politik, Haltungen und Verhaltensweisen als erstrebenswert angesehen werden. Ich bin dem Programm der Ästhetisierung der Lebenswelt nicht abgeneigt. Wenn man sich den Luxus leisten kann (das kann man kaum in einer barbarischen Welt).
Butter bei die Fische: Abseits allgemein gehaltener Ästhetik-Proklamationen: Wo vermisst du ebendiese in der vorgestellten Musik respektive den ausgewählten Clips?
Meine Antwort an Dich und Miauxx habe ich gesplittet. Auf Miauxxs Vorwurf der Arroganz habe ich geantwortet, daß ein Musikliebhaber bestimmte Musik nur lieben kann, wenn er andere nicht mag. Musikliebhaber urteilen über Musik. Und solches Urteilen wäre unsinnig, wenn es keine objektiven bzw intersubjektiv überzeugenden Kriterien gäbe. Über die kann man streiten, aber sie nicht einfach relativieren. Der Satz „was schön ist, liegt im Auge des Betrachters“ ist eher falsch als richtig.
Im Falle der Mariachimusik habe ich Dir die Frage gestellt, ob das Übermaß der Positivfärbung (Durseligkeit) allgemein vorliegt und ob es neben den Terzparallelen in den Bläsersätzen auch kontrapunktische Stimmführungen gibt, allgemeiner Kontrapunktik im Harmoniegang. Als positives Gegenbeispiel habe ich Besame Mucho genannt, das über eine sehr ausgewogene Kontrapunktik verfügt. Deine Mariachibeispiele weisen das nicht auf, zu viel Belangloses, zu wenig organische Struktur, und das ist unschön. Um nicht mißverstanden zu werden, Dur-Terz-Parallelen können Bestandteil guter Musik sein. Aber ohne Kontrast ist solche Musik unbefriedigend. Ich glaube nicht, daß man viel gegen solches Urteil sagen kann, die ständige Wiederholung dieser Form muß zur Abwertung führen. Die Takt-für-Takt-Analyse spare ich mir.
"Kurz: Mit Armut ist das Fehlen einer ästhetischen Perspektive gemeint. Wer das Ästhetische nicht kennt, dem fehlt auch nichts. Aber ich möchte auch feststellen, daß sich die ästhetische Perspektive in allem, was wir Hochkultur nennen, entwickelt hat."
Die "Hochkultur" hat den Begriff, oder genauer, die begriffliche Auseinandersetzung entwickelt. Heißt das aber, dass abseits es abseits dessen keine Ästhetik gebe? Ich denke doch, dass das eine längst widerlegte Sicht ist. Eine Sicht auf kulturelle Äußerungen fremder Kulturen, die nicht verstanden wurden bzw. als nicht nachvollziehbar galten sowie auf die sozial-wirtschaftlich niedrig stehender Bevölkerungsschichten. Naturvölker und die Reduktion ihres Tuns auf bloße "Biofunktionalität" ist da ein gutes Stichwort.
Zumindest bis zur Entwicklung von Forschungsstandards für die Ethnologie und Anthropologie, in Teilen aber auch noch darüber hinaus, gingen Mutmaßungen über die Entstehung von Kunst, und Musik im Spezielleren, davon aus, dass den frühzeitlichen Menschen keinerlei Freiraum gegeben war, um sich ihrer Umwelt ästhetisch gegenüberzustellen. Ein ästhetisches Bewusstsein habe sich gar nicht entwickeln können und somit auch nichts, was die Bezeichnung Kunst, oder auch Musik, verdiene. Ausgeschert ist hier Lewis Mumford und zwar "schon" 1959: Man hätte nur in den Museen genau hinschauen müssen, um zu bemerken, welche Entwicklungsunterschiede zwischen den Werkzeugen z. B. der Aurignac-Jäger und ihren Höhlenmalereien bestünden. Die Werkzeuge höchst primitiv, wohingegen die symbolische Ausdrucksfähigkeit differenziert, vital und somit vergleichsweise hoch entwickelt erscheine. Das kratzt freilich sehr an den Vorstellungen von den Umständen, die ein "ästhetisches Empfinden" benötige. Um 40.000 Jahre alte Funde von Knochenflöten bestreiten zudem in gewisser Weise, dass es neben der bloßen Überlebens-Beschäftigung nichts gegeben haben könne.
Auch wenn die Mutmaßungen über die "Urmenschen" gerne auf "primitive" Naturvölker übertragen wurden, so ließ sich doch seit den ersten Begegnungen des Menschen aus der "Hochkultur" mit ebenjenen nicht mehr leugnen, dass diese sich eben nicht nur mit reiner Subsistenzwirtschaft, Fortpflanzung und Selbsverteidigung befass(t)en. Dem Musizieren, Tanzen oder auch darstellenden Handwerk wurde jedoch allenfalls funktionale Bedeutung, aber eben kein ästhetischer Wert zugemessen. Das gleiche Urteil traf zu Hause etwa die populäre Musik, eben die der sozial-wirtschaftlich niederen Schichten. Und das, sorry, ist eurozentristische bzw. bürgerliche Arroganz.
Ethnologen konnten zeigen, dass, wo musiziert wird, durchaus ein differenzierter kultureller Begriff dahinter steht. Gerhard Kubik etwa hat Pionierarbeit für das Verständnis afrikanischer Musik geleistet und u. a. eine höchst komplexe kontrapunktische Musikkunst auf Stabspielen dokumentiert, die sich dem europäischen Hörer vielleicht nicht als solche erschließt, solange er nicht bereit ist, sich dieser aufzuschließen, weil er vielleicht nicht einen theoretischen Hinterbau wie in der europäischen Musik findet. Aber müss(t)en wir uns nicht eingestehen, dass die Überheblichkeit schon da beginnt, wo wir zwar sehen und hören, dass Instrumente gespielt und gesungen wird, wir aber trotzdem die Frage nach dem Vorhandensein einer Ästhetik stellen oder diese sogar von vornherein in Abrede stellen?
Die vergeistigte Auseinandersetzung mit dem Ausdruck wie auch dem Material, das Spielen mit Widerspruch, mit den Begriffen von "schön" und "hässlich", mit Umdeutungen usw. mag es in der Musik von "Naturvölkern", in stark traditionell geprägten Gesellschaften wie aber auch in der Popularmusik nicht oder allenfalls schwach ausgeprägt geben. Deshalb habe ich oben auch vorgeschlagen, dass "Dinge getrennt" werden sollten. Dass Popularmusik, Musik bei "Naturvölkern" oder eben auch des urzeitlichen Menschen einer Ästhetik entbehrten, sobald, oder weil, sie nicht die Begriffe der abendländischen "Hochkultur" treffen, ist nicht nur meines Erachtens nicht haltbar. Ich glaube, Du machst schlicht persönlichen Geschmack zum Dogma.
»Im Falle der Mariachimusik habe ich Dir die Frage gestellt, ob das Übermaß der Positivfärbung (Durseligkeit) allgemein vorliegt und ob es neben den Terzparallelen in den Bläsersätzen auch kontrapunktische Stimmführungen gibt, allgemeiner Kontrapunktik im Harmoniegang. (…) Deine Mariachibeispiele weisen das nicht auf, zu viel Belangloses, zu wenig organische Struktur, und das ist unschön.«
Ich gestehe, mir beim Lesen von obigem Post kurz vorgestellt zu haben, wie deine feinsinnig-europäische Wertung der volksmexikanischen Musikkultur etwa in einem Camp der EZLN rübergekommen wäre. (Ich tippe mal, eine recht umgehende Heimreise wäre die wahrscheinlichste Option gewesen.) Im Ernst: Ich halte deine Art der Herangehensweise für oberlehrerhaft-linkswohlstandzonalen Kulturimperialismus – und zwar der Sorte, die es in der Form eigentlich nur in D gibt. Gern nochmal: Neben musikalischen Formregeln (nebenbei: sämtlichst europäisch-bürgerlich konnoniert) gibt es kulturelle und soziale Kriterien für Musik; diese – und nicht eine formale Latte an Kriterien, die ich nicht nur für hinterfragbar halte, sondern mit dem Thema Null in Bezug stehend – haben letzten Endes zu dem Artikel geführt.
Mariachi-Beispiele (1 Absatz übrigens von 14) gibt es im Artikel exakt drei. Bei einem (dem von Los Lobos interpretierten Titelsong des Films »El Mariachi«) würde ich das Prädikat »Mariachi« in Zweifel ziehen (obwohl der Kontext gut zeigt, wie allgegenwärtig diese Art Musik in Mexiko ist). Bei den beiden anderen habe ich nicht auf »Schönheit« geachtet sondern vielmehr auf Gebräuchlichkeit und Verallgemeinerbarkeit. Der Patriotismus im Polizeikapellen-Beispiel ist sicher stark hinterfragbar (wenn auch gleichwohl historisch verstehbar) und »La Charreada« (ein Standard übrigens, der auch von Linda Ronstadt bereits eingespielt wurde) ist in der Form derart paradigmisch für die kommerzielle Variante dieses Genres, dass es fast schon an Informationsunterschlagung gegrenzt hätte, es nicht zu bringen.
Zu deinen Fragen: Ja – auch Mariachi-Interpreten »können« Moll-Töne (Beispiel: Neueinspielung des Punkrock-Klassikers »Golden Brown«), und Kontrapunktik ist für für mich ähnlich ein Kriterium wie das Vorhandensein einer E-Gitarre in einer Oper von Verdi – wobei sich hier zusätzlich die Frage stellt, wieso ich drei Tage nach der Ausnahme suchen soll, wenn ich eigentlich die Regel vorstellen will. Fazit: Ich finde es schade, dass eine – sicherlich interessante und Erkenntnisse befördernde – Diskussion über das Sujet hier von formalistisch-dogmatischen Ansprüchen erschlagen wird. – Aber so ist das anscheinend nun mal.
Der Begriff der Hochkultur ist ein umstrittener Begriff. Ich habe ihn nur im Zusammenhang mit der Entdeckung und Entwicklung der Ästhetik erwähnt, denn man würde wohl das Vorhandensein einer ästhetischen Perspektive als Merkmal für Hochkultur betrachten müssen. In meinem Verständnis gibt es keine Ästhetik außerhalb der Hochkultur, weil Ästhetik schon Hochkultur definiert. Dabei lege ich Ästhetik fest auf die funktionslose Produktion von Artefakten (die Hauptbedeutung von Kunst ist ihre Selbstzweckhaftigkeit) und deren interesseloses kontemplatives Rezipieren/Genießen. Das ist schon in den Höhlenmalereien gegeben, wenn den Künstlern gelungen ist, mit wenigen Strichen eine eindrucksvolle Darstellung eines Tiers zu geben. Wobei ursprünglich und auch heute wieder die Trennung von Produzent und Rezipient nicht so strikt ist wie zwischenzeitlich. Musik ist eine abstraktere Kunst. Da dürfte es die griechische Entdeckung der Tonverwandtschaften gewesen sein, aber intuitiv ist diese Kenntnis sicher viel früher vorhanden. Und zweifellos kann man das Ästhetische ganz anders begründen.
Ich bestehe mitnichten auf einer bestimmten Begründung der ästhetischen Urteile, nur darauf, daß Ästhetik heißt, in diesem Gegenstandsbereich zwischen richtig und falsch, gut und schlecht überhaupt zu unterscheiden. Eurozentristisch wäre es, der Kunst die Ausdrucks- und Urteilsformen unserer Musiktradition universell vorzuschreiben. Ich kann bspw nichts mit Gamelanmusik anfangen, aber ich kann mir kaum ein Urteil über sie herausnehmen, weil ich diese Tradition nicht verstehe. Ich vermute, daß, wer mit solcher Musik vertraut ist, weiß, welche Gamelanmusik gut, welche schlecht gemacht ist. Ich erlaube mir nur ein Urteil über die Musik, die auf unserer Tradition aufgebaut ist. Daher weise ich den Vorwurf der Arroganz gegenüber anderen Traditionen zurück, und beanspruche, nur Musik unseres Typs zu beurteilen, ob ich kompetent genug bin, sei dahingestellt. Dabei ist mein Geschmacksurteil so legitim, wie ich es aus den Grundlagen und Erfahrungen mit unserer Musik begründen kann. Das sehe ich so wenig als arrogant an wie die Wahrheitsbehauptung einer sachlichen Feststellung aufgrund des gegebenen Wissensstandes.
Wenn Du mir Arroganz vorwirfst, heißt das, daß Du die Meßlatte niedriger legst (das könnte ich noch verstehen) oder daß für Dich anything goes, also auch Heino und Ballermann nicht kritisiert werden dürfen? In letzterem Fall gibt man den ästhetischen Standpunkt auf.
Lieber Richard Zietz, ich verstehe ehrlich gesagt Deine Argumentation und Deinen Vorwurf der Arroganz nicht im mindesten. Natürlich hat Musik viele wichtige Funktionen jenseits ihres ästhetischen Selbstzwecks. Das bestreite ich weder noch kritisiere es. Du hättest auf meinen ersten Kommentar antworten können: „Lieber w.endemann, ich wollte mit meinem Beitrag nicht gute mexikanische Popularmusik empfehlen, sondern eine nüchterne Bestandsaufnahme selbiger liefern. Thema verfehlt.“ Ob Du dieses Thema gut getroffen hast, kann ich nicht beurteilen. Aber daß Musik nicht als künstlerische Veranstaltung, als Selbstzweck gesehen werden darf, finde ich absurd. Wenn ein Handwerker ein engagiertes Mitglied der Gewerkschaft ist, hat er meine Sympathie. Aber darf ich darob nicht mehr seine handwerkliche Leistung beurteilen? Ein „Unterhaltungskünstler“ ist in erster Linie kein Künstler, sondern ein Entertainer. Das gilt sicher für die Mariachimusik. Und ich werde an Unterhaltungsmusik nicht den Maßstab der hohen Kunst anlegen. Aber darf man überhaupt nicht mehr nach der rein musikalischen und musikhandwerklichen Qualität fragen? Ist der Dienst an der revolutionären Sache das einzig legitime Kriterium hinsichtlich engagierter Künstler? Gilt hier auch schon eine linke pc?
Nun, ich verenge die Musik nicht wie Adorno, stelle sie nicht unter solch einen praktisch unerreichbaren Wahrheitsanspruch. Aber vollkommen über Bord werfen kann man diese Sicht doch auch nicht. Wenn Du die Frage nach der rein musikalischen Qualität grundsätzlich ablehnst, können wir leider nicht mehr miteinander über Musik kommunizieren, dazu ist mir die Musik zu wichtig, ich möchte sie nicht nur fremden Zwecken unterordnen. Wenn Du aber Einwände gegen meine von Dir formal genannten Kriterien hast, nenne mir bessere. Da bin ich ganz Ohr.
Übrigens, es geht doch. „Golden Brown“ ist ein sehr positives Beispiel, es fehlen die Bläserterzen, es wird ein tranceartiger Sog entfaltet und die instrumentalen Passagen werden durch den Wechsel vom Dreier- in den Vierertakt in eine starke Spannung versetzt. Ich habe schon vermutet, daß es neben der blöden Regel auch gute Ausnahmen gibt.
»Ich bestehe mitnichten auf einer bestimmten Begründung der ästhetischen Urteile, nur darauf, daß Ästhetik heißt, in diesem Gegenstandsbereich zwischen richtig und falsch, gut und schlecht überhaupt zu unterscheiden. (…)«
Deinen eigenen Worten zufolge wäre das oben verlinkte »La Charreada« dann ein handwerklich perfekte Produktion – sowohl musikalisch als auch visuell (was ich durchaus so sehe). Umgekehrt finde ich durchaus, dass dieser (oder Titel ähnlicher Machart bzw. Inhalts) kritisierbar sind – ebenso wie (der hier auf einer ähnlichen Schiene agierende) André Rieu oder ähnliche Kaliber. Meines Erachtens müßte diese Kritik allerdings an der suggerierten heilen Welt ansetzen bzw. einem Weltbild, dass für das reale Mexiko kaum repräsentativ ist. (Ad drei könnte man die handwerkliche Überperfektion hinzunehmen, aber das wäre in meinen Augen Abwägenssache.)
Kritisiert habe ich weiter oben vor allem deine Versuche, nicht in einem Genre selbst begründete Eigenheiten als Beurteilungsgrundlage heranzuziehen. Kundig(er) gemacht habe ich mich speziell im Hinblick auf deine Einwände bezüglich der Kontrapunktik. Laut Wikipedia gibt es hierfür zwei Auslegungsmöglichkeiten. Die erste, der sogenannte Kontrapunkt, ist eine Art Kompositionsbaustein im Hinblick auf barocke, klassische, romantische … Stücke – also innerhalb der E-Musik. Dass Elemente der weitaus komplexeren klassischen Musik auf ein Populärgenre wie Mariachi Anwendung finden sollen, ist in meinen Augen allerdings in etwa so logisch wie die Anforderung, eine Benzinzufuhrkabel-Reparatur in einem Auto ausschließlich unter den Bedingungen und mit der Ausstattung eines Raumfahrt-Labors vorzunehmen. Kontrapunktierung wäre in Bezug auf Mariachi realistischer – als Qualitätskriterium allerdings wäre die Anforderung, Trauriges auch mal lustig zu spielen (oder umgekehrt) eine ziemlich bescheuerte. Anders: Als »Can« wäre sie sicherlich eine Option (und wird mit Sicherheit auch irgendwo praktiziert – vielleicht gerade in dem Moment, in dem ich dies hier schreibe). Als »Must« jedoch ist sie ungefähr ebenso sinnvoll wie die von mir weiter oben angeführte E-Gitarre in einer Klassik-Aufführung.
Nichtsdestotrotz sei uns allen unbenommen, diese oder jene Musik (nicht) zu mögen beziehungsweise auch Schwächen handwerklicher oder inhaltlicher Art zu monieren (wie beispielsweise die grauenhafte Soundqualität typischer Ballermann-Veranstaltungen, der Krach sowie der Zwang zur Lustigkeit/Besoffenheit, der von ihnen ausgeht usw.). Ich finde es allerdings fruchtbarer, Musik von ihren eigenen Gegebenheiten her zu kritisieren (ein wichtiger Punkt hier: die gesellschaftliche Basis) als auf der Basis abstrakter musiktheoretischer Einwände, die oftmals nicht viel mehr sind als eine Camouflage für den eigenen, scheinbar besseren Geschmack.
Zum Kontrapunkt. Da muß ich widersprechen. Der barocke Kontrapunkt ist nicht nur eine Basis in der E-Musik, sondern alle Populärmusik in unserer tonalen Tradition benutzt dieses Stilelement, intuitiv oder bewußt. Es handelt sich ja fast immer um die Liedform, eine Melodiestimme und ein begleitender Harmoniesatz (zB Rhythmusgitarre(n) oder eben Bläsersatz). Kontrapunkt heißt die nicht parallele Stimmführung im Harmoniesatz. Eine nicht nur parallele Stimmführung. Das machen intuitiv gute Musiker richtig. Ich bestreite nicht, daß es auch hier großartige Abweichungen von dieser Regel der nicht bloß parallelen Stimmführung gibt, aber das muß durch andere Qualitäten kompensiert werden.
Was die Abwechslung von fröhlich und traurig betrifft, ja, da hatte ich ein bißchen den Dauerjubelton bemäkelt. Aber auch da möchte ich es an der Musik festmachen.Wenn wir uns in Tonartwechseln bewegen, was ja ständig geschieht, erfordert der organische Fluß einen häufigen Wechsel von Dur in Moll und umgekehrt. Im größten Teil der Welt, das mag man als Kulturimperialismus bedauern, aber ich sehe die urbanen Bevölkerungen weniger als Opfer, hat sich die westliche Funktionsharmonik durchgesetzt. Es gibt Traditionen modaler Musik, wo die Dinge anders liegen, aber innerhalb der funktionsharmonischen Musik ist der Spannungsverlauf durch solchen Charakterwechsel (wobei sehr wichtig die Dreiteilung in Dur, Moll und Unbestimmt/Unaufgelöst ist) bestimmt. Setz Dich ans Klavier, nimm ein Lied der Songbookqualität und begleite diese Melodiestimme mit parallelgeführten Durdreiklängen in enger Lage. Abscheulich.
Leider kann ich diese Diskussion jetzt für ein paar Tage nicht fortsetzen, da ich keine Zeit habe. Aber vielleicht ist ja alles gesagt.
"Wenn Du mir Arroganz vorwirfst, heißt das, daß Du die Meßlatte niedriger legst (das könnte ich noch verstehen) oder daß für Dich anything goes, also auch Heino und Ballermann nicht kritisiert werden dürfen? In letzterem Fall gibt man den ästhetischen Standpunkt auf."
Nein. Gegen Geschmack, das Recht auf Gefallen und Nichtgefallen oder auch das Festellen künstlerischer Höhe habe ich nichts gesagt. Was ich ablehne, ist ein so eng abgestecktes Feld, wo ästhetisch empfunden und geurteilt werde und alles Übrige sei allein funktionell zu verstehen. Wenn Du nun hingegen sagst, Du könntest dich nur innerhalb klar gesteckter Grenzen - der hiesigen Kultur i.w.S. - ästhetisch orientieren und beurteilen, so ist das freilich etwas anderes und zunächst so selbstverständlich, wie von einem Deutschen nicht zu erwarten ist, dass der die Sprache der Aborigines spricht.
Provoziert hat mich die Aussage, dass etwa bei "Naturvölkern" keine Ästhetik zu finden sei. Und das ist eben eine anachronistische Sichtweise, die ganz offenbar allein davon ausgeht, bzw. -ging, dass das Fehlen eines theoretischen Hinterbaus, der Diskurse und Philosophie über Kunst, wie sie das Abendland wohl tatsächlich ziemlich exklusiv entwickelt hat, eine reflektierte Kunstbeschäftigung ausschließt. Schwierig wird es übrigens gerade mit der Ausflucht, alle Kultur sei "dort" eben ausschließlich funktionell, gar einer "Biofunktionalität" unterworfen. Eine Differenz in Artefakten zu bloßer Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit lässt sich gerade bei "Naturvölkern" gut zeigen. Wenn auch freilich nicht bei allen. Dagegen lässt sich eine reine Funktionslosigkeit selbst in der entferntesten Nische abendländischer, oder westlicher, Kunst ebensowenig finden.
Man kann Ästhetik, den Begriff davon, freilich so eng fassen, dass er nur in unserem Kulturkreis unterkommt. Vom Grundkonzept her, wenn ich zurück zur Wurzel, zur aisthesis, gehe, kann keiner Kultur, die Artefakte hervorbringt, eine Ästhetik abgesprochen werden. Ich darf nur nicht davon ausgehen, dass ich sie ohne Weiteres verstehen kann.
Kleiner verspäteter Nachtrag zu unserer Diskussion, ich war unterwegs.
Wenn ich unsere menschlichen Angelegenheiten reflektiere, versuche ich, dialektisch zu denken. Also die Begriffe nicht scharf abzugrenzen, sondern idealtypisch zu verdichten. Gerade im Fall von Natur und Kultur, Natur-, Kulturvölkern, Hochkultur ist das notwendig. Man braucht Kriterien, die diese Begriffe charakterisieren und trennen, aber eben nicht aristotelisch. Der Begriff „Naturvolk“ macht nur Sinn, wenn man darunter eine naturnahe, tierische Existenzweise der Menschenart versteht, in der Kultur, Technik und kompliziertere Formen der geistigen Organisation noch nicht vorhanden sind. Wenn Du darin eine Form der Beleidigung vor- oder frühzivilistorischer Gemeinschaften siehst, mußt Du den Begriff generell verdammen (Musik, Malerei, Literatur sind Kultur). Dann kannst Du entsprechend nicht mehr zwischen Kultur und Hochkultur unterscheiden und nicht mehr die Differenz feststellen zwischen einem Machen, das hauptsächlich nützlichen Zwecken dient, und einem ästhetischen Machen, oder genauer einer Ausdifferenzierung und Fokussierung in die Kulturbereiche der Wissenschaft und der Kunst.
Aber vielleicht ist das genau Dein Punkt, daß Du diese Verselbständigung und Verabsolutierung des Ästhetischen ablehnst. Dann bist Du ein Kritiker der modernen Kunstauffassung, allerdings in einer deutlichen Minderheitsposition, auch wenn die Bauhausmaxime „die Form folgt der Funktion“ eine starke Gegenbewegung darstellt. Übrigens mit starker Ablehnung des Ornaments verbunden, und damit den frühesten Formen einer supplementären Ästhetisierung entgegengesetzt.
Diese Überlegungen muß man auf die Musik übertragen, immerhin, was Ornamentik ist, läßt sich leicht sagen und der Bogen zur Mariachimusik spannen.
Auch von mir noch ein paar nachgereichte Worte.
Ich verstehe Deinen Ansatz und möchte Dir keinen Kulturchauvinismus unterstellen.
Ja, "Hochkultur" möchte ich auch einen hochproblematischen Begriff nennen und verwende ihn daher auch nur in Anführungszeichen. So weit ich sehe, bin ich mit dieser Ansicht auch nicht allein. Gleichwohl er in der Geschichtsschreibung aus einem retrospektiven Blickwinkel zur Markierung von Fortschritt verwendet wurde - etwa für die alten Kulturen des vorderen Orients mit der Einführung der Schriftlichkeit oder Rechtssystemen - ist er auch wesentlich historisch belastet. Belastet als Begriff der Distinktion, als wertende Betrachtung mit der Seefahrt und frühen Globalisierung entdeckter fremder Kulturen in Übersee sowie der Popularkultur. In den Kulturwissenschaften ist er nicht zu Unrecht problematisiert worden und heute, so weit ich sehe, zumindest in selbstverständlicher oder unreflektierter Form verschwunden. Zur Markierung von kulturellen Differenzen ist der Begriff "Hochkultur" unnötig. Bestehen würde ich aber auch nach wie vor darauf, dass Ästhetik von der Begriffsbildung her zwar in der abendländischen Kultursphäre beheimatet sein mag, sich aber keinesfalls auf diese beschränken lassen muss. Zu Funktionalität und vermeintlich vollkommen nichtfunktioneller - "absolut ästhetischer" - artifizieller Äußerung habe ich mich oben bereits geäußert. Kunst ist niemals weder das eine noch das andere in auch nur irgendeiner Kultursphäre absolut. So kann ich auch zu meinem ersten Kommentar hier zurückkehren und, mit Bezug zu sogenannter "E"- und "U"-Musik, statt einem Bestehen auf ästhetischer auf der einen und minderästhetischer Orientierung auf der anderen Seite nur vorschlagen, die Dinge zu trennen, ohne dass sogleich ein wertender Eindruck entsteht.