Paris im Aufstand

150 Jahre Sie setzte ein Fanal, ihre Protagonisten hingegen sind heute weitgehend unbekannt. Wer waren sie, was wollten sie? Ein historischer Abriss der Pariser Kommune

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Paris, 18. März 1871: Barrikade in der Chaussée Ménilmontant
Paris, 18. März 1871: Barrikade in der Chaussée Ménilmontant

Wikimedia: Barricade18March1871 (Public domain)

Zugegeben: Es war nicht alles schlecht. Das Empire, welches bürgerliche Linke und Monarchisten schließlich zu Grabe trugen, hatte bei den Massen einen einigermaßen soliden Rückhalt. Napoleon III, 1851 durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen, lieferte dem englischen Exilanten Karl Marx zwar Stoff für die vermutlich bekannteste seiner tagesaktuellen Streitschriften. Bei Arbeitern, Handwerkern, Bauern sowie dem allseits präsenten Kleinbürgertum indess kam der 18. Brumaire des Louis Bonaparte gar nicht mal so schlecht an. Für Versöhnung – oder jedenfalls: nicht allzuviel Aufruhr – sorgte der Regent vermittels einer wohldosierten Mixtur aus Repression, Modernisierung sowie sozialen Wohltaten. Die Zensur wurde in mehreren Schritten gelockert, die entstehende Arbeiterbewegung – wo möglich – in die ständisch-staatlichen Strukturen eingebunden, Exilanten kehrten zurück. Bereits ein Jahr nach Napoleons Coup Adolphe Thiers – ein ehemaliger 48er und bald eloquenter Wortführer auf dem nationalliberalen, rechtsbürgerlichen Flügel der Opposition.

Ein zentrales Projekt des »liberalen Empire« war die Modernisierung der Hauptstadt. Das Paris der verwinkelten Gassen und potenziellen Barrikaden sollte verschwinden zugunsten einer luftigen, nach modernen Architekturkritierien ausgerichteten Metropole. Der Mann, der dies in die Tat umsetzte, gilt bis heute als der Begründer des modernen Paris – Baron Haussmann. Zur Achillesferse gerieten dem Kaiser seine außenpolitischen Ambitionen. Die Installation seines Neffen Maximilian auf dem mexikanischen Thron scheiterte an der Hartnäckigkeit einer fernen, letztendlich jedoch siegreichen Volksrevolution. Die Hinrichtung des Prätendenten 1867 im zentralmexikanischen Querétaro mochte ein Zeichen an der Wand sein. Die finale Grube für den imperial gesinnten Volkskaiser schaufelte allerdings ein bis dato eher mäßig bekannter preußischer Gutsjunker. Otto Graf von Bismarck nämlich brauchte für sein Projekt eines deutschen Kaiserreichs unter preußischem Vorzeichen »Blut und Eisen« – sprich: einen zusätzlichen Krieg. Den Anlass zimmerte er mit der sogenannten Emser Depesche – ein wohlfabrizierte Falle, in die der nach Meriten gierende Napoleon denn auch trat. Am 19. Juli 1870 erklärte Frankreich Preußen den Krieg.

Vorspiel

Die Kommune – sprich: die bewaffnete Volksregierung der kleinen Leute – kam nicht über Nacht. Notwendiges Element ihrer Konstituierung war die Nationalgarde: bewaffnete Reservistenverbände, denen die Aufgabe zugeteilt war, gegen die auf die Hauptstadt zurückenden Deutschen den rückwärtigen Verteidigungskampf zu führen. Exakt dieser Ernstfall war seit der Niederlage von Sedan am 1. September 1870 gegeben. Nachdem der glücklose, bereits im Vorfeld eher als Getriebener denn als Treiber wirkende Kaiser sich mitsamt seiner Hauptarmee in deutsche Gefangenschaft begeben und kurz darauf als Monarch abgedankt hatte, löste sich das politische System quasi binnen Tagen auf. Die letzte Kabinettsanweisung des Imperators – »Wenn die Umstände es erfordern, wird die Kaiserin Sie um sich versammeln« – war zu dem Zeitpunkt bereits Makulatur; die Kaiserin floh Anfang September nach England. In Paris regierten fortan die Krisenkabinette – unterschiedliche Konstellationen aus Militärs, Monarchisten sowie Bürgerlichen.

Politisch war der Wechsel vom Hochsommer zum Herbst nachgerade dramatisch. Befürwortet und schließlich vom Zaum gebrochen hatte den Krieg die politische Rechte. Die Linke hingegen war – ebenfalls quasi gemäß ihrer Natur – pazifistisch und defaitistisch eingestellt. Nach der Niederlage änderte sich diese Grundanordnung rapide. Die bürgerlichen Kabinette – zusammengeführt in einer Regierung der nationalen Verteidigung und verfassungsrechtlich in einer hilfsweise improvisierten Grauzone aus Kaiserreich und Dritter Republik agierend – versuchten ihr Glück zunächst mit Beschönigung der militärischen Lage. Als nichts mehr zu beschönigen war und – nach dem Fiasko bei Sedan – die zweite Armee in deutsche Gefangenschaft geriet, schwenkten sie um auf Appelle an den Durchhaltewillen. Zunehmend unter Druck geriet diese Konstellation nunmehr seitens der radikalen, republikanischen Linken. Die Linie des Volkskriegs, der levée en masse, auf die dieses Spektrum im Anblick der Entwicklung umschwenkte, sollte nunmehr das Ticket abgeben hinein in die – wahlweise blau-weiß-rote oder rote – Republik.

Verschärft wurde die Situation durch die ab Ende September einsetzende Belagerung. Konkret bedeutete dies: Paris stand unter Artilleriebeschuss – ungeachtet des Festungsrings rund um die Stadt, der sich im Anblick des modernen Kriegs als stark unzulänglich erwies. In der Folge kulminierten Hunger und Not ebenso wie die militärischen Hasardpläne. Léon Gambetta, Kriegsminister und Parteigänger der bürgerlichen Linken, setzte sich via Fesselballon aus der umlagerten Hauptstadt ab. Der Plan: im Süden und Westen neue Armeen aus dem Boden stampfen. Richtig explosiv wurde die Stimmung durch die geschürten, am Ende stetig enttäuschten Illusionen – die, dass Entsatz unterwegs war, die einer stärkeren Volks-Partizipation, kurzum: die Republik. Der Rest war Mathematik. Die Nationalgarde mochte – wie sich bei Ausfallversuchen im September gezeigt hatte – militärisch nur bedingt verwendbar sein. Innerhalb der Stadt allerdings waren diese rund 300.000 Mann umfassende Reservearmee ein Machtfaktor, mit dem zu rechnen war. Wobei verstärkend hinzu kam, dass sich das ursprüngliche Konzept einer bürgerlich dominierten Garde unter der Hand umgekehrt hatte – mit dem Ergebnis, dass nunmehr eine hauptsächlich aus Arbeitern, Handwerkern und Kleinbürgern bestehende Formation mit der rückwärtigen Verteidigung der Hauptstadt betraut war.

Zwei Ereignisse stachen die Blase schließlich auf. Das eine war die Aufnahme von Vor-Friedensverhandlungen. Den Weg frei gemacht für diesen krassen Schwenk weg von der Durchhaltepropaganda der Monate zuvor hatte Ereignis Nummer zwei: die am 8. Februar erfolgte Wahl einer neuen Nationalversammlung. Deren Ausgang brachte Paris erst recht in Kollisionskurs mit dem Rest des Landes. Der – quasi über Nacht anvisierte – Frieden mußte in der Hauptstadt nicht nur wie Verrat erscheinen. Wahltechnisch verbrieft waren die politischen Kräfteverhältnisse im Land plötzlich weit nach rechts ausgeschlagen: Frankreichweit – und im Unterschied zu Paris – bescherte die ad-hoc gewählte, zunächst in Bordeaux, ab März in Versailles tagende Nationalversammlung den monarchistischen und rechtsbürgerlichen Richtungen eine komfortable Zwei-Drittel-Mehrheit. Das flache Land – dass vergleichsweise wenig gelitten hatte – war kriegsmüde. Die neue Regierung unter Adolphe Thiers und Jules Favre leitete unverzüglich Friedensverhandlungen mit den Deutschen ein. Wobei die Motivation, wie wir heute wissen, keineswegs eine ausschließlich außenpolitische war. Denn: Die Situation in der Hauptstadt entglitt der Regierung zunehmends.

Dass die rechte, aber friedenswillige Regierung derart schroff in Gegensatz geriet zu der linken, aber durchhalte-entschlossenen Stimmung in der Hauptstadt, hatte mit republikanischer Rhetorik zwar einiges, aber bei weitem nicht alles zu tun. Ebenso wie die Kabinette der nationalen Verteidigung zuvor ignorierte auch die Regierung Thiers/Favre den sozialen Sprengstoff, der sich im Verlauf der Belagerung aufgetürmt hatte. Die während der Belagerung angeordnete Aussetzung von Mietzahlungs- und Pfandhaus-Fristen wurde storniert, ein Maximum für Grundnahrungsmittel nicht einmal in Erwägung gezogen. Die Folgen: Zwangsräumungen, Obdachlosigkeit, soziale Abstürze. Vor dem Gegenteil einer sozialen Befriedungspolitik hatten die bürgerlichen Krisenkabinette ebenfalls über Monate zurückgeschreckt: die Entwaffnung der immer aufmüpfiger sich gebärdenden Nationalgarde(n). Ein weiterer Punkt, welcher die Gemüter zusätzlich erhitzte: Die Armierung der Stadt – Nationalgarde-Ausrüstung, Waffen, Kanonen – war großteils von jenen in Eigenleistung gestellt worden, die man nunmehr fallen zu lassen gedachte wie heiße Kartoffeln.

Wer waren eigentlich die Wortführer, die nunmehr auf den Plan traten und die in Versailles residierende Regierung herausforderten? Fakt ist, dass die Kommune weder bei Null startete noch von namenlosen Nobodys angeführt wurde. Nicht wenige hatten sich bereits in der Revolution von 1848 einen Namen gemacht. Herausragender Exponent der »Alt-Achtundvierziger« war Auguste Blanqui. Allerdings: Mit seinem Konzept klandestin operierender Kampfgruppen stand »der Alte« selbst in den Reihen derjenigen, welche die Große Revolution von anno 1793 als Referenz nahmen, keinesfalls unumstritten da. Ein schwelender Konfliktpunkt etwa: die vom Chef untersagte Zusammenarbeit mit Marxens’ Internationale – ein Verbot, dass selbst Aktivisten aus seinem engeren Kreis nicht sonderlich ernst nahmen. Zwei seiner wichtigsten Parteigänger – »Achtundvierziger« wie Blanqui und aufgrund anhaltender politischer Verfolgung schon lange aus ihren bürgerlichen Existenzen herauskatapultiert – waren der scharfzüngige, zu ideologischer Zuspitzung neigende Félix Pyat und der eher umsichtig agierende Volksdeputierte Charles Delescluze.

Sowohl Pyat als auch Delescluze standen den Sozialistischen Demokraten nahe – einer heterogenen politischen Großgruppe, die sich aus Blanqui-Anhängern, Neojakobinern und Hébertisten zusammensetzte. Große Gemeinsamkeit war die Bezugnahme auf die radikale Phase der großen Revolution – speziell die von den Sanscoulotten dominierte Pariser Stadtregierung. Die favorisierten Lösungen entsprachen denen der Periode 1792 bis 1795 – Maximum, Volksherrschaft, Wohlfahrtsausschluss. Historisch jünger waren die Referenzen der zweiten Großgruppe. Im wesentlichen gingen sie auf den Frühsozialisten und Marx-Kontrahenten Pierre-Joseph Proudhon zurück. Das utopische, stark vom Bild genossenschaftlich sich organisierender Arbeiter-Föderationen bestimmte Element in Proudhons Werk fand vor allem bei Handwerkern sowie Beschäftigten in Kleinbetrieben und Manufakturen starken Anklang – ebenso bei der entstehenden Gewerkschaftsbewegung.

Eher informell eine Rolle spielte schließlich eine dritte Fraktionierung – die Anhänger von Karl Marx, Friedrich Engels und ihrer in London residierenden Internationale. Die beiden Altvorderen des wissenschaftlichen Sozialismus hatten die Ereignisse in Frankreich zwar fest im Blick. In Bezug auf die Ereignisse in der brodelnden französischen Hauptstadt waren ihnen jedoch weitgehend die Hände gebunden. Seit Oktober jagte dort ein politischer Umkalibrierungsversuch den nächsten. Der letzte scheiterte im Januar. Eine bedingte Intervention glückte den Anhängern der Internationalen Anfang März: die Verhinderung von Attacken auf die bayrisch-preußischen Korps, welche den Westteil der Hauptstadt – nach dem Vorfriedensschluss – vom 1. bis zum 3. März einer symbolischen Besetzung unterzogen. Ergebnis: Das Terrain der biwakierenden und paradierenden Deutschen wurde lediglich mit Barrikaden abgeriegelt, ein vorausschaubares Blutbad auf diese Weise verhindert.

Mimikry und Grandezza blieben im Vorfeld der Kommune ebenfalls nicht aus. Der Exilant Blanqui, der in der Hauptstadt aufgetaucht war, um die Optionen für revolutionäre Gymnastik auszuloten, wurde am 9. März verhaftet und an einem geheimen Ort festgesetzt. Als Austauschobjekt für einen anvisierten Geiseltausch (darunter: der Pariser Erzbischof) blieb »der Alte« allerdings auch in den Folgemonaten ein präsenter Faktor. Ähnliches galt für einen weiteren berühmten Freiheitskämpfer – den Italiener Giuseppe Garibaldi. Ob Garibaldi, der mit einem italienischen Bataillon am Deutsch-Französischen Krieg teilgenommen hatte und im Februar in die Nationalversammlung gewählt wurde, die Zeichen der Zeit richtig erkannte, darf allerdings bezweifelt werden. Fortune hatte er mit seinem französischen Abenteuer nicht: Nachdem er in der Nationalversammlung die Forderung aufstellte, das zuvor abgetretene Nizza wieder an Italien zurückzugeben, waren die Grenzen des parlamentarisch Sagbaren definitiv überschritten. Garibaldi wurde aus der französischen Nationalversammlung ausgeschlossen und zog sich daraufhin zurück ins italienische Exil.

Die Konfusionen und teils unklaren Fronten im linken Lager korrespondierten mit einer ebenso großen im konservativ dominierten bürgerlichen Lager. Die Mehrheitsfraktion aus Rechtsbürgerlichen, Legitimisten (Bourbonen-Anhänger), Orleanisten und Bonapartisten paralysierte sich gegenseitig – Historikern zufolge der maßgebliche Grund, dass die frischgebackene Republik nicht bald in eine neue Form von Monarchie überkippte. Dass Thiers und sein neuer Außenminister Favre die revolutionären Umtriebe in der Hauptstadt beenden wollten, scheint rückblickend zwar ausgemacht. Ebenso plausibel ist allerdings die Annahme, dass auch sie von der Dynamik der Ereignisse überrollt wurden. Aus Regierungswarte betrachtet verfestigte sich zunehmend das Bild, dass die Entwaffnung der aufmüpfigen Nationalgarde dringlichste Aufgabe war. Die große Frage war nur: wie? Die Lösung – vorgeschlagen von örtlichen Armee-Kommandeuren, klang einerseits waghalsig, dafür jedoch simpel und irgendwie praktikabel: Nehmen wir ihnen einfach die Kanonen weg.

Eingebetteter Medieninhalt

Barrikaden im April 1871: Ecke Place de l’Hôtel-de-Ville und Rue de Rivoli

Kommune

Was sich am Frühmorgen des 18. März 1871 anbahnte, ähnelt in gewisser Weise der Durchführung der Operation Market Garden, wie wir sie aus dem Film Die Brücke von Arnheim kennen: Die Pläne sind hochambitioniert. Lediglich die nicht zum Wunschdenken passenden Details wurden allesamt auf Ignore gestellt. Die Pläne für den 18. März: Man nehme die – absehbar noch loyalen – Regimenter der regulären Armee, verstärke sie mit als zuverlässig eingeschätzten bürgerlichen Nationalgarde-Einheiten und nehme den aufmüpfigen Milizen die Kanonen-Arsenale auf den Höhen von Montmartre und Belleville weg. Als fragwürdig an dieser Rechnung erwiesen sich am Ende fast alle Elemente: die Anzahl der benötigten Soldaten, die Anzahl der als zuverlässig eingeschätzten Nationalgarde-Einheiten, die Länge der Wege, das Ausmaß des zu erwartenden Widerstands, die Geringschätzung des benötigten Equipments und schließlich die nicht für nötig erachtete Verproviantierung der losgeschickten Truppen.

Der Fehlschlag lässt folgerichtigerweise nicht auf sich warten. Die ausrückenden Einheiten erreichen am Morgen zwar ihre Ziele. Beim Abtransportieren der Beute – Fuhrwerke für die schweren Kanonen waren nicht eingeplant, weswegen sich Armeeangehörige selbst einspannen müssen – werden die Stoßtrupps zunehmend mit den alarmierten Nachbarschaften konfrontiert. Glocken läuten, die Situation wird heikel; schließlich fallen Schüsse. Georges Clemenceau, später Präsident der Republik und zu dem Zeitpunkt Bürgermeister des Stadtteils Montmarte, versucht zu deeskalieren und einen Abzug der Armee zu erwirken. Nebenbei erstversorgt er die ersten Schussverletzungen. Ebenfalls vor Ort: Louise Michel – eine Frau mit komplizierter Vergangenheit und Aktivistin der örtlichen Kommitees. Wollt ihr auf uns schießen? Kommt – ihr habt heute bestimmt noch nichts gegessen. Die Fraternisierung schreitet rapide voran; das Gros der Einheiten richtet die Gewehrläufe schließlich demonstrativ nach unten. Ein befehlshabender General, der den Ernst der Lage nicht erkennt und das Feuern hinein in die Menge befiehlt, wird erst festgesetzt und am Nachmittag schließlich von empörten Kommunarden exekutiert – zusammen mit einem weiteren, der sich in die Menge gemischt und dort Notizen gemacht hatte.

Binnen eines Tages führt die fehlgeschlagene Aktion zur Machtergreifung der Nationalgarde in der gesamten Stadt sowie zur Flucht der bürgerlichen Regierung nach Versailles. Thiers organisiert, so gut es geht, den geordneten Rückzug – speziell den der loyal gebliebenen Armeeeinheiten. Wie soll es weitergehen? Die Geschehnisse der folgenden Tage sind auf beiden Seiten von Improvisation geprägt. Hauptfrage: Warum hat die Garde nicht nachgesetzt, die Regierung in Versailles entmachtet und im Gefolge eine gesamtfranzösische Republik mit sozialen Vorzeichen proklamiert? Fakt ist: Die Pariser Kommune stand keinesfalls allein. Der Aufstand in Paris wird flankiert von kleineren in einigen anderen französischen Städten – Lyon, Toulouse, Marseille. Die zutreffende Antwort lautet: Auch die Aufständischen müssen sich zuerst sortieren. Ein Nachsetzversuch wird zwar gestartet. Allerdings erst zwei Wochen später, als sich die militärischen Kräfteverhältnisse zu Ungunsten der Kommune entwickelt haben.

Die Hauptaktivitäten in Paris richten sich auf das Ziel des Aufstandes selbst: die Konstituierung einer basisdemokratischen Republik neuen Zuschnitts – der Kommune, oder: Kommune von Paris. Das Zentralkommitee der aufständischen Garde hat schnell klargestellt, dass es nicht selbst die Macht auszuüben gedenkt. Vielmehr will es diese möglichst schnell an eine gewählte Körperschaft abgeben. Die Wahl zum Rat der Kommune findet am 26. März statt. Dessen Mitglieder – sie konstituieren sich als Stadtregierung im Hôtel de Ville – sind von außen betrachtet No-Names: Arbeiter, Handwerker, Journalisten, Rechtsanwälte; Platz im Rat findet selbst der ein oder andere Unternehmer. Summa summarum – und aller Fluktuation, die in der Folge kaum ausbleibt – ist der Kommunerat eher kleinbürgerlich geprägt als proletarisch. Neben Altgedienten finden in ihm viele Newcomer Platz. Auf Seiten der Sozialistischen Demokraten sind dies etwa Leute wie Raoul Rigault. Als Journalist hat er sich der 25jährige Ex-Schauspieler bereits in den Vorjahren regelmäßig mit der Obrigkeit angelegt. Rigault wird bald zum Polizeichef der Kommune aufsteigen. Wo ein Robespierre, ist auch ein Saint-Just meist nicht weit. Zum engen Kampfgenossen von Rigault avanciert Théophile Ferré, Begründer des Wachsamkeitsausschusses von Montmartre. Auch Ferré ist nicht gerade als Mann mäßigender Worte bekannt. Dem ehemaligen Polizeipräfekten hatte er im Vorfeld der Erhebung folgende Prophezeiung mit auf den Weg gegeben: »Ich werde Ihren Kopf noch auf die Pike stecken.«

Nichtsdestotrotz: Rigault und Ferré sind auch bei den Jakobinern eher Exoten als Normalfall. Hervorstechend ist diese Doppel-Personalie insofern, als dass vor allem Rigault und Ferré einen Neben-String der Kommune – den Austausch Blanquis – beharrlich verfolgen und am Ende in die Exekution von rund 70 teils prominenten Geiseln mehr oder weniger verstrickt sind. Im Rat sitzen auch die Proudhonisten. Einer ihrer einflussreichsten Vertreter ist der Journalist Jules Vallès. Weitere Vertreter dieser Richtung: Eugène Varlin, ein altgedienter Syndikalist, der Metallgraveur Albert Theisz sowie der aus Österreich-Ungarn kommende Arzt Léo Frankel. Konflikte zwischen der – jakobinischen – Mehrheit und der – proudhonistischen – Minderheit sind vorprogrammiert. Lange keine Einigkeit herstellen lässt sich über die Frage, ob ein Wohlfahrtsausschluss vonnöten ist. Grundkonzepte, wo sich die Meinungen scheiden: Soll erst die Macht im Staat gesichert werden? Oder aber: ein föderatives gesellschaftliches Gegenmodell entstehen? Die Zentralisten werden sich am Ende durchsetzen – allerdings zu einem Zeitpunkt, als die Rückeroberung der Hauptstadt bereits unmittelbar bevorsteht.

Lediglich eine inoffizielle Stimme findet in der Kommune die Hälfte der Pariser Bevölkerung – die Frauen. Nichtsdestotrotz beteiligen sich Frauen auch in aktiver Position in nicht unerklecklicher Anzahl. Hervor sticht die bereits aufgeführte Aktivistin Louise Michel. Zusammen mit der jungen Russin Elisabeth Dmitrieff, einer Abgesandten von Karl Marx und Freundin von dessen Tochter Jenny, begründet sie das Sanitätskorps der Kommune. Ebenfalls mit von der Partie ist Dmitrieff bei der Begründung der union des femmes – der größten Frauenvereinigung innerhalb der Kommune. Weitere Aktivistinnen dort sind Nathalie Le Meli, Paule Mink, Béatrice Excoffon, Sophie Poirier und Anne Jaclard. Auch bei den organisierten Kommune-Frauen war – so die Publizistin Antje Schruppeine Frage bereits heiß umstritten: ob die Frauenbefreiung hinter der der Arbeiterklasse zurückzustehen habe. Oder: ob sie vielmehr gleichzeitig, parallel anzugehen sei. Wie auch immer: Nicht hoch genug zu veranschlagen ist die Bandbreite der Unterstützung, welche Frauen innerhalb der Kommune leisteten. Das Spektrum reichte von Erziehungsarbeit über logistische Unterstützung bis hin zu direkter und indirekter Beteiligung an den Kämpfen.

Die Beschlüsse der Kommune sind – für ihre Zeit – radikal. Das allgemeine Wahlrecht wird proklamiert – unabhängig vom Vermögen, allerdings nur für Männer. Bei den sozialen Beschlüssen stechen – neben den erwartbaren Zahlungsfrist-Aussetzungen sowie der Festlegung des Maximums – vor allem die in Sachen allgemeiner Schulpflicht sowie Trennung von Staat und Kirche hervor. Die Umverteilung indess erfolgt eher in gemäßigter Form: Neben der Kirche als traditionellen Erbfeind der französischen Linken trifft es vor allem das Eigentum geflohener Anhänger des alten Regimes. Für die Finanzen der Kommune ist ein weiterer Deputierter aus den Reihen der proudhonistischen Minderheit zuständig: François Jourde. Mit Diplomatie sowie sanftem Druck eist er bei der Bank von Frankreich zwar erkleckliche Finanzspitzen frei. Der Löwenanteil der Bank-Kredite fließt allerdings an die Gegenseite – die Versailler Regierung. Unangetastet lässt die Kommune schließlich auch deren rund drei Milliarden Franc werten Einlagen und Depote.

Heterogen aufgestellt ist auch die Prominenz ihrer Zeit. Zum Kulturdeputierten der Kommune avanciert der Bolide der sozialrealistischen Malerei – Gustave Courbet. Mitte Mai, kurz vor Rückeroberung der Hauptstadt, wird er den Abriss der Vendôme-Säule in die Wege leiten – einem Symbol des verhassten Imperialismus, dass die Kommune im Zuge ihres letzten Kampfs schließlich schleifen wird. Bei den Literaten halten sich die Sympathien die Wage. Während Altrealist und Alt-48er Victor Hugo unmißverständlich seine Sympathien für das Pariser Volksexperiment kundtut (und aus Protest wegen der Behandlung Garibaldis sein Nationalversammlungs-Mandat niederlegt), liefert ein junger Nachwuchsschriftsteller eingebettete Front-Berichterstattung auf der Seite der Versailler. Sein Name: Émile Zola. Ein eher linksbürgerliches Profil wird Zola erst im Lauf der Folgejahrzehnte schärfen – mit sozialkritischen Romanen und schließlich dem Artikel J'accuse (»Ich klage an«) im Zug der Dreyfuß-Affaire.

Showdown

Die Regierung in Versailles ist unterdess nicht untätig geblieben. Was Thiers, Favre, ihr Kabinett und ihre Rumpf-Armeeführung brauchen, ist eine neue, zuverlässige Armee. Der frischgebackene Regierungschef denkt gar nicht daran, mit der insurgenten Kommune ins Vernehmen zu kommen. Sein Plan ist von Anfang an die militärische Rückeroberung der entglittenen Hauptstadt. Die Armee dazu kann Thiers allerdings nur von den Preußen bekommen. Mit denen stehen sich Thiers und Favre, sein Hauptverhandlungsführer, zwischenzeitlich prächtig. Bismarck, Haupt-Akteur auf deutscher Seite, hat zu wiederholten Gelegenheiten zum Ausdruck gebracht, dass die rote Pariser Stadtregierung keinesfalls in seinem Interesse liegt. So verhandelt Thiers Armeekorp für Armeekorps aus preußischer Kriegsgefangenschaft heraus, lässt neue Verbände aufstellen. Ergebnis: Bereits Anfang April sieht die Lage für die Versailler keinesfalls mehr verloren aus.

Die Kommune agiert militärisch eher zögerlich. Anfang April wird schließlich der Ausfall, auf den die jakobinische Mehrheit drängt, gewagt. Unter dem Befehl von Émile Eudes und Gustave Flourens setzen sich drei Kolonnen in Richtung Versailles in Bewegung. Der günstige Moment allerdings ist da bereits perdu. Die Nationalgarde-Einheiten werden von Artilleriefeuer aufgerieben und zurückgedrängt; auch der Kampf gegen geschlossene militärische Formationen ist nicht unbedingt ihre Sache. Einige leisten den Versaillern erbitterten Widerstand. Gefangene werden bereits zu diesem Zeitpunkt nicht gemacht. Émile Duval, Befehlshaber der Südflanke, wird bei dem Örtchen Châtillon festgenommen und noch vor der Ankunft in Versailles füsiliert. Flourens wurde bereits einen Tag zuvor nach seiner Gefangennahme erschossen. Ähnlich ergeht es zahlreichen weiteren Kommunarden, die sich ergeben haben. Der Rest – diejenigen, die Glück haben und die erste Wut der Bürgerlichen überleben – wird zusammengekettet und in provisorische Gefangenen-Sammelstellen verfrachtet.

Mit ihren Militärs hat die Kommune notorisch kein Glück. Fähige Befehlshaber stehen ihr zwar durchaus zur Verfügung – die beiden Exil-Polen Jaroslaw Dombrowski und Walery Wroblewski etwa, oder auch Gustave Cluseret, der es im US-Bürgerkrieg bis zum Brigadegeneral schaffte. Doch Cluseret versinkt im Strudel von Bestechungsvorwürfen sowie dem Anwurf des Verrats. Sein Nachfolger wird Louis Rossel – ein Berufsoffizier aus der alten, bonapartistischen Armee. Wie Cluseret will auch Rossel die Nationalgarde professionalisieren. Doch Rossel, der mit den Zivilen im Kommunerat in ähnlich unfruchtbare Auseinandersetzungen gerät wie vor ihm Wroblewski und Cluseret, kann das Ruder ebenfalls nicht herumreißen. Von Ende April bis Anfang Mai Kriegsminister, wird er schließlich inhaftiert – erst von der Kommune, später dann den Versaillern. Am Ende bleibt von den Militärs Dombrowski. Er fällt am 23. Mai während der Barrikadenkämpfe in Montmartre.

Der mißglückte Ausfall vom Aprilanfang verschlechtert die militärische Lage der Kommunarden erheblich. Das Netz der Versailler Regierung zieht sich enger und enger um die Hauptstadt zusammen. Die Festungen im Norden und Osten sind von den Preußen besetzt, die im Westen und Süden – wie sich zeigen wird – auf Dauer nicht zu halten. Allerdings: Die Mär, dass eine Fünfte Kolonne den Versaillern die Stadttore geöffnet hat, ist wohl nicht viel mehr als eben eine Mär. Wie auch immer: Am 21. Mai beginnt das Schlusskapitel der Kommune – la semaine sanglante, die blutige Woche. Bis zum Ende des ersten Tags arbeiten sich die Truppen der Bürgerlichen bis an die Ränder des eigentlichen Stadtzentrums vor, besetzen die westlichen, bürgerlich bis großbürgerlich geprägten Stadtteile.

Mit dem Vorstoß auf das Zentrum beginnt das Abschlussdrama – der Barrikadenkampf. Eine starke, angelegt nach allen Regeln städtischer Kriegskunst, befindet sich etwa am Place de la Concorde. In der Stadt entstehen hunderte dieser Sorte –mal hastig improvisiert, mal sachverständig erbaut unter der Ägide der kommuneeigenen Militärkommission. Was folgt, ist Häuserkampf – Block für Block, Straße für Straße, Quartier für Quartier. Im Westen ging die Rückeroberung zügig vonstatten. In der Mitte stagniert sie. Zumal die Kommune ihre Ankündigung wahr macht und strategisch wichtige Gebäude in Brand setzt – darunter: den Justizpalast, den Louvre sowie den symbolträchtigen Tuilerienpalast. Was wiederum der Feindbildpropaganda der Versailler Regierung Vorschub leistet. Deren Gazetten und Pamphlete machen hierfür vor allem sogenannte Petroleusen verantwortlich – enthemmte Flintenweiber aus den Abgründen der Gosse, welche vor keiner Zerstörung zurückschrecken.

Zerstören – und eine wahre Blutspur hinter sich lassen – wird vor allem die vorrückende Armee. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge kamen bei den Kämpfen der letzten Maiwoche 10.000 bis 30.000 Kommunard(inn)en gewaltsam ums Leben – gegenüber weniger als 1000 auf der Gegenseite. Kein Einlenken zeigt in Anbetracht der Umstände der Kommune-Rat. Im Anblick der summarischen, vor Ort vorgenommenen Exekutionen bietet sich eh nur der Untergang mit Schrecken – das glorreiche Exempel quasi für die Nachwelt. Den Kommune-Polizeichef Raul Rigault ereilt der Exekutions-Tod am Rand des Quartier Latin, nach hart ausgetragenen Kämpfen rund um das Panthéon. Seinen – vermutlich – letzten Plan, die Erschießung des Pariser Erzbischofs Georges Darboy und weiterer prominenter Geiseln, setzt sein Kampfgefährte Théophile Ferré in die Tat um. Allerdings: Letztlicher Auslöser für die Geisel-Exekution dürfte weniger Ferrés Unterschrift gewesen sein als vielmehr die Erbitterung örtlicher Nationalgarde-Einheiten, welche in den zurückliegenden Kämpfen stark dezimiert worden waren. Wie auch immer: Darboy sowie ein halbes Dutzend weiterer Gefangener werden am 24. Mai im Militärgefängnis La Grande-Roquette erschossen.

Das Finale spielt sich in den Vierteln im Osten der Stadt ab – den von Industrie geprägten Stadtteilen Belleville, Menilmontant, Buttes-Chaumont und La Villette. Der verbliebene Rest des Kommune-Rats kommt noch einmal zusammen, überlegt – und verwirft – letzte Vermittlungsoptionen zwecks Einstellung der Kämpfe. In Angesicht des nahenden Untergangs findet die Kommune schließlich einen letzten Koordinator. Koordinator der Herzen ist Charles Delescluze – wahrscheinlich – nicht; seiner letzten Aufgabe widmet er sich allerdings mit beispielloser Hingabe. Als letzter Leiter der Kriegskommission inspiziert er die Kämpfe im Osten der Stadt. Lebend zuletzt gesehen wurde er in der Nähe einer Barrikade am Boulevard Voltaire – nicht weit entfernt von den Gebäuden des heutigen Rockpalastes Bataclan, der am 13. November 2015 das Ziel eines islamistischen Terroranschlags wurde.

Das letzte Kapitel der Kommune spielt sich am östlichen Stadtrand ab – zwischen den Gräbern des Friedhofs Père Lachaise. Regen hat eingesetzt; bei den noch überlebenden Insurgent(inn)en wird die Munition knapp. Pardon wird weder gegeben noch erwartet. Entsprechend verfahren auch die Truppen der Bürgerlichen. Aufgegriffene Kommunarden – oder auch nur Verdächtige mit Schusswaffenspuren an den Händen – werden entweder auf der Stelle erschossen, bajonettiert oder sonstwie ums Leben gebracht – oder aber von Standgerichten unmittelbar hinter der eigentlichen Kampflinie. Ob Männer, Frauen, Kinder oder Alte – im Anblick der Heftigkeit der Kämpfe und im Einverständnis mit ihren Befehlshabern, machen die Eroberer nur noch wenig Unterschiede. Besonders brutal gebährdet sich während der Kämpfe ein Kavalleriebefehlshaber, der sich bereits in Napoleons Mexiko-Krieg einen Namen gemacht hat und sich bald in den nordafrikanischen Kolonialkriegen weitere Meriten verdienen wird: Gaston de Galliffet. Die letzten Kommunarden – offizielle Zahl: 147 – werden an der Mur des Fédérés exekutiert, der Friedhofsmauer im Nordosten des Anliegens.

Eingebetteter Medieninhalt

Tote Nationalgardisten. Genauer Aufnahmeort und Todesdatum: nicht bekannt

Nachspiel

Nach dem Gemetzel in der letzten Maiwoche sind die Kämpfe beendet. Die Abrechnung mit der insurgenten Kommune allerdings zieht sich über Monate, Jahre. An die Stelle wahlloser ad-hoc-Hinrichtungen treten bald Militärgerichte. Zehntausende sind während der Kämpfe umgekommen, hunderte werden in den Wochen danach füsiliert. Hinzu kommen Schauprozesse. Einige Anführer – vermeintliche wie echte – werden in Abwesenheit zum Tod verurteilt, andere – wie beispielsweise Delescluze – quasi sicherheitshalber, obwohl sie bereits tot sind. Im Herbst macht das bürgerliche Frankreich den – vermeintlichen – Anführern den Prozess. Darunter: der Sicherheitsdeputierte Théophile Ferré und der Berufssodat Louis Rossel. Ferrés Ende ist ausgemacht; dem Soldaten hingegen, der sich der Kommune aus patriotischen Gründen angeschlossen hat, werden Goldene Brücken angeboten – Exil oder etwas in der Art. Rossel lehnt ab. Zusammen mit Ferré und einem weiteren Kommunerats-Mitglied endet er am 29. November 1871 vor dem Erschießungs-Peleton.

Die Überlebenden können sich – vielleicht – glücklicher schätzen. Am glücklichsten sind die dran, die entkommen konnten. Felix Pyat, der eloquente Blanqui-Anhänger, hat sich bereits vor der Rückeroberung in Richtung England aus dem Staub gemacht. Auch Elisabeth Dmitrieff gelingt die Flucht; sie folgt einem Mann in ein wenig spektakuläres, politikfreies Leben in Russland. Weniger Glück hat der Maler Gustave Courbet. Weil der französische Staat ihm horrornde Wiedergutmachungszahlungen wegen der zerstörten Vendômesäule auferlegt, flieht er nach seiner Haftentlassung 1873 in die Schweiz. Finanziell auf die Beine kommen wird er nicht mehr. Überwacht und in stetigem Kampf gegen die Geldsorgen stirbt er 1877.

Noch weniger Glück haben die, die nicht hingerichtet, aber zu langjährigen Freiheitsstrafen oder Deportation verurteilt werden. Besonders gefürchtet: die an der südamerikanischen Atlantikküste gelegene Strafkolonie Cayenne, genannt auch die »trockene Guillotine«. Zu den Deportierten zählen auch Louise Michel sowie der ehemalige Finanzdeputierte François Jourde. In Neukaledonien, am anderen Ende der Welt, macht sie sich die ehemalige Lehrerin bald einen Ruf als Anwältin der heimischen Südseebewohner. Jourde sowie dem Pamphletist und ehemaligen Figaro-Herausgeber Henri Rochefort gelingt 1874 die Flucht. Beide flüchten nach London; ebenso wie ihre Mitdeportierte Michel kehren sie nach der Amnestie 1880 nach Frankreich zurück.

Besiegelt wird der Sieg über die insubordinenten Pariser Einwohner(innen) durch den Bau einer Kirche. Oben, auf den Höhen von Montmartre, wo der Blick schweift über die Stadt (und bald auch ein weiteres Wahrzeichen, den Eifelturm), entsteht Sacre Coeur, die weiße Kirche. Adolphe Thiers Glück bleibt mittelprächtig. Als Präsident der Republik wird er bereits 1873 vom greisen General Mac-Mahon abgelöst, dem glücklosen Kriegs-Oberkommandierenden und Oberbefehlshaber des Feldzugs gegen die Hauptstadt. Bestattet ist Adolphe Thiers in der Division 55 auf dem Friedhof Père Lachaise – rund einen Kilometer entfernt von jener Mauer, an der die letzten Kommunarden erschossen und in einem Massengrab verscharrt wurden. Die Gruselgeschichte von der blutrünstigen Kommune gerät bald zum abschreckenden Medienereignis. Ein beliebtes Thema ist sie übrigens nicht nur in zeitgenössischen französischen Medien. Die BILD-Zeitung ihrer Epoche, die Gartenlaube, pinselte auch für die deutschen Leserinnen und Leser ein entsprechend horrorndes Bild.

Ende der Siebziger dämmert dem französischen Bürgertum, dass das jüngste Kapitel seiner bewegten Geschichte langsam ad acta gelegt werden muß. Die noch lebenden Kommunard(inn)en werden schließlich vermittels einer Generalamnestie 1880 begnadigt. Darunter: Louise Michel, politisch mittlerweile bei den Anarchisten beheimatet. Michel kehrt nach Frankreich zurück – unbeugbar, aktivistisch wie eh und je. Aus ihrer Feder stammt der erste große Erfahrungsbericht – 1895 veröffentlicht unter dem Titel La Commune. Michel stirbt 1905. Andere Karrieren verlaufen wechselhaft. Henri Rochefort, auch er ein Wortführer der blanquistischen Fraktion, wird in den Neunzigerjahren Parteigänger des Rechtspopulisten Boulanger sowie der Anti-Dreyfussards. Der Linksrepublikaner Léon Gambetta schließlich, der im Krieg die levée en masse auf die Beine stellen wollte und während der Kommune zeitweilig kaltgestellt war, macht Karriere in einer neuen Partei: den Radikalen. Als Minister protegiert er Gaston de Galliffet – ebenjenen schneidigen Kavallerieanführer, der sich gegenüber der Kommune mit besonderer Brutalität hervortat.

Zum – vermutlich – prominentesten Überlebenden avancierte Georges Clemenceau. Der ehemalige Bürgermeister von Montmartre macht ebenfalls Karriere bei den Radikalen. Im Ersten Weltkrieg sowie den Jahren darauf wird er als Präsident der Republik die Geschicke Frankreichs lenken. Seine Lehre aus der Geschichte: vae victis – Wehe den Besiegten. Weswegen Frankreich – gegenüber dem deutschen Erbfeind – nie mehr in eine solche Situation geraten darf. Noch bleibender ins Gedächtnis der Nachwelt gebeamt hat sich allerdings ein einfacher Teilnehmer der Kommune: der Transportarbeiter Eugène Pottier. Sein unter dem Eindruck der Ereignisse verfasstes Lied wurde als Internationale weltbekannt.

Die Kommune? Zeitnah wie scharfsichtig haben die beiden Alten im Londoner Exil sie auskommentiert – Marx und Engels. Verfasst im Auftrag der Internationale, erscheint Marx’ Streitschrift Der Bürgerkrieg in Frankreich unmittelbar nach der Niederschlagung des Aufstands. Fehler und Irrtümer? Marx übergeht sie mit milden, verständnisvollen Worten. Der Text ist, wie stets bei seinen tagesaktuellen Streitschriften, geschliffene, feingegossene Munition. In ihrer ätzenden Verachtung der Sieger vom Mai 1871 ist sie das wohl vernichtendste Zeugnis, welches ein Zeitgenosse der französischen Bourgoisie ausgestellt hat. Eine Einschätzung, die sich nicht mehr ändern wird – obwohl das bekannte Bonmot von Friedrich Engels, demzufolge die Kommune das Exempel sei für die kommende Diktatur des Proletatiats, erst zwanzig Jahre später publiziert wird.

Systematischer rückt ein deutscher Sozialdemokrat der Kommune auf den Leib – Karl Kautsky. Terrorismus und Kommunismus, sein 1919 publizierter Vergleich zwischen dem Staat Lenins und der Kommune ist abwägend, gründlich, systematisch; bis heute zählt Kautskys Kommune-Abhandlung zu den scharfsinnigsten Analysen, welche zur Geschichte des Pariser Aufstands gefertigt wurden. Die politische Linke unterdess hat den Pariser Aufstand bis auf den heutigen Tag nicht vergessen. Partei-gebundene wie sonstige Linke gedenken der Toten alljährlich an der mur de federé – der Gedenkstätte der namenlosen Kommune-Toten auf dem Friedhof Père Lachaise. Auch in der bürgerlichen Geschichtsschreibung behielten à la longue die regierungskritischen Töne die Oberhand. Der Exilant und ehemalige stern-Kolumnist Sebastian Haffner etwa charakterisierte die Kommune als im Grunde durch und durch sozialdemokratisch. Das Blutbad, so Haffner in seiner 1987 erschienenen Textesammlung Von Bismarck zu Hitler, sei letztlich Ergebnis einer in die Barbarei umgekippten Hybris des französischen Bürgertums – und in der Tragweite daher ähnlich zu bewerten wie die Niederschlagung der Novemberrevolution 1918/19 unter Zuhilfenahme rechter Freikorps.

Ein Showdown, ein vermeidbarer am Ende gar? Ähnliche Schlüsse wie Haffner legt auch die wohl zeitaktuellste Abhandlung nahe, die derzeit auf dem Buchmarkt zu haben ist: 72 Tage, verfasst von dem FAZ-Journalisten und Historiker Thankmar von Münchhausen. Bliebe die Frage, was die Erinnerung an möglichen geschichtlichen Lehren bereithält. War die Pariser Kommune solitär? War sie ein letztes Aufbegehren der notorisch unruhigen Pariser Volksmassen? Oder handelte es sich bei ihr um die Vorbotin einer weltumspannenden Proletarier-Revolution – was inbesondere die Kommunisten nie müde wurden zu behaupten? Man muß die Frage nicht zwingend in der entweder–oder-Form beantworten. Man kann beide Strings sogar verneinen – etwa mit dem Hinweis, dass es in der französischen Hauptstadt seither neue Aufstände, Erhebungen, Rebellionen gegeben hat – die Befreiung von der NS-Besetzung 1944 etwa, der Pariser Mai oder, aktuell, die Revolte der Gelbwesten. Wobei im 20. Jahrhundert neue Tonlagen hinzukamen – etwa die Stimmen der kolonialisierten Subalternen oder die ihrer an den Rand gedrängten Nachfahren.

Verfügt Paris über ein Aufruhr-, ein Widerstands-Gen? Auch diese Möglichkeit wird – zumindest in den Zeiten zwischen den Aufständen – weiter erörtert und auf ihre Plausibilität geprüft werden. Interessant ist so letztlich das Bild, welches die Ereignisse vor 150 Jahren in den Köpfen hinterlassen hat. Anders gefragt: Was macht die bis heute anhaltende Faszination der Pariser Kommune aus? Betrachtet man das Bild genauer, wird dem Zuschauer und der Zuschauerin klar, dass es eine beiderseitige Wirkung entfaltet. Das Gedenken bedeutet letztlich, dass wir das Opfer, die Leidenschaft und die Bemühung nicht vergessen haben, dass wir den Kommunard(inn)en dafür Respekt zollen. Profan gesprochen geht es dabei simpel darum, dass der Aufstand nicht vergessen wurde. Der Spiegel funktioniert allerdings ebenso in die umgekehrte Richtung: Wir, die Nachgeborenen und Gedenkenden sind es letztlich nämlich, die die Kommune als Referenz nehmen – als Erinnerung daran, dass das Ziehen einer Haltelinie, das Markieren eines Rubicons möglich ist.

Wie auch immer man es sieht: Es bleibt – bei aller Schauerlichkeit – ein schönes Bild, ein erhabenes Bild. Vielleicht ist das der tiefere Sinn – und der Grund für Jubiläen, die lediglich Anlass sind, einen selbstvergewissernden Blick zurück in die Vergangenheit zu werfen.

Literatur:

Thankmar von Münchhausen: 72 Tage. Die Pariser Kommune 1871 – die erste »Diktatur des Proletariats«. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015. 518 Seiten. ISBN 978-3-421-04440-2.

Dokumentation:

Die Verdammten der Pariser Kommune. TV-Doku von Raphaël Meyssan. Frankreich 2019, 88 Minuten. Präsent in der arte-Mediathek.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden