Parteien zur Wahl (Vol. 4): Die Grünen

Bundestagswahl 2013 Für einige Unentwegte sind sie noch immer das Prinzip Hoffnung. Warum das schon einmal nicht geklappt hat und auch diesmal nicht klappen wird, beschreibt dieser Beitrag.

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Wer zum Teufel redet über die Grünen? Sie waren, sie sind da, und vermutlich werden sie uns ein paar weitere Jahre begleiten. „Gekommen um zu bleiben“, wie das gleichnamige Stück der Band Wir sind Helden. Ob die in Berlin-Kreuzberg lebende Bandsängerin Judith Holofernes ihr Kreuz bei Grün machen wird (oder vielleicht doch eher bei Piraten-Orange), wissen wir nicht. Der depressive Schleier, der sich ihren Auslassungen gegenüber der Süddeutschen 2010 zufolge über Deutschland gelegt hat, ist allerdings ein original grünes Gewächs. Grünpflanzen haben ihre Zeiten – Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Bündnis 90/Die Grünen sind zwar stark in den Bundestagswahlkampf gestartet. Highlights: Basisdemokratische Ur-Wahl der beiden Spitzenkandidaten, Forderung eines höheren Spitzensteuersatzes sowie das nicht gänzlich falsche Argument, die eigentlichen Erfinder des Atomausstiegs zu sein. Wahrnehmungstechnisch gesehen allerdings dröppelt die Partei seit dem Frühjahr vor sich hin. Die Steuerdiskussion war ein Strohfeuer. Dass Rot-Grün die Wahl stemmen kann, gilt mittlerweile als das unwahrscheinlichste unter den Szenarien. Da das wahrscheinlichste eine Koalition unter Führung der CDU – sprich: Angela Merkel – ist, lautet die interessante Frage in Bezug auf die einstigen Öko-Rebellen ganz lapidar: Kommt es im Herbst zu Schwarz-Grün oder nicht?

Modernisierer oder Partei der verrohenden Mittelschicht?

Grüne Träume, grüne Machtpolitik. Die Feststellung, dass die Grünen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, ist mittlerweile ein Allgemeinplatz. Da in Deutschland ein ungeschriebenes Gesetz existiert mit der Regel „Politische Entscheidungen werden immer in der Mitte getroffen“, sind auch die Vertreter der grünen Aufsteigerschichten längst zum Business als usual übergegangen. Dort, wo sich die Leitmedien Gute Nacht sagen, wird Politik stets als Machtpolitik dekliniert, als machiavellistisches Spiel der Ränke und Ranküne nach dem Motto: Wer trickst wen am besten aus? Wer Anne Will, Günther Jauch oder andere Performance-Profis des offiziellen Polit-Betriebes für eine Quelle der Orientierung hält, wird das normal finden. Die alte Botschaft von Thomas Hobbes: Der Mensch an sich ist schlecht, gute Führer verhindern das Schlimmste, und ansonsten heisst es eisern auf die Selbstheilungskräfte der Märke vertrauen. Weltverbesserung war gestern: Als Partei der alten sozialen Bewegungen haben sich die Grünen nicht nur zähneknirschend in diesem Spiel eingerichtet. Seit 20 Jahren spielen sie die Karte Machtpolitik so virtuos, dass sich selbst Angela Merkel eine Scheibe von den Ökos abschneiden kann.

Haben die Grünen nichts geleistet? Geht auf ihr Konto nicht die weitgehende Abschaffung der auf Blut & Rasse basierenden Staatsbürgerschafts-Kriterien? Ein neues Einwanderungsgesetz, Gleichstellungsinitiativen, die Homo-Ehe? Haben nicht die Grünen erst Deutschland zivilisiert – zu einem Land gemacht, für das man sich nicht zwangsläufig schämen muss? Salopp gefragt: Ist die entspannte Stimmung in den Public-View-Zonen bei großen Sportereignissen nicht auch ein bißchen das Werk von Leuten wie Jürgen Trittin, Renate Künast und Cem Özdemir? Die wahre Antwort, so viel Ehrlichkeit muss sein: möglicherweise Ja. Allerdings: Reflektiert man die Rolle der Grünen im kritischen Rückblick, wird man sich des Eindrucks nur schwer erwehren können, dass selbst die unzweifelbaren Errungenschaften der rot-grünen Ära vergiftete Früchte sind. Ein solcher Rückblick ist mittlerweile auch in Buchform erschienen. Der Titel lautet: Rot-Grün an der Macht.Autor ist Edgar Wolfrum, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg. Wolfrum nimmt nicht nur gegenüber seinem Betrachtungsgegenstand, der rot-grünen Koalition 1999 bis 2005, eine sehr emphatische und über weite Strecken offen sympathisierende Position ein. Als Schüler des massgebenden Historikers der Berliner Republik, Heinrich August Winkler, macht er sich dessen positive Sicht eines Landes, das nach langen Irrungen und Wirrungen wohlbehalten im Westen angekommen ist, weitgehend zu eigen. Winklers Grundthese, dass die Entscheidungssituationen der neueren deutschen Geschichte alternativlos waren, die Zeit jedoch für ein Happy End gesorgt hat, überträgt Wolfrum auf seine Analyse der rot-grünen Ära. Fazit: Zu Schröders & Fischers Zeiten war Politik hochspannend. Wesentliche Entscheidungen wurden auf den Weg gebracht. Letzten Endes haben sie – bei aller Kritik, die man haben kann – das Land zum Positiven verändert.

Trotz dem unangebrachten Pathos: Als Informationsquelle ist Wolfrums Buch auch für diejenigen aufschlussreich und lesenswert, die mit Rot-Grün eher den massivsten Sozialabbau in der deutschen Nachkriegsgeschichte verbinden. Detailgenau beschreibt Rot-Grün an der Macht die einzelnen Wegetappen. Zeigt auf, dass der Sozialkahlschlag von Rot-Grün weitaus mehr bedeutete, als die gängigen Stichworte „Hartz-IV“ und „Agenda 2010“ nahelegen. Bereits die Hartz-Gesetze (neben IV auch I, II und III) beinhalteten eine bis dato nicht gekannte Zerschlagung sozialer Sicherungsstandards. Rot-Grün an der Macht etablierte Leih- und Zeitarbeit. Ebenso Regelungen für geringfügige Beschäftigungen. Schröder, Fischer & Gefolgschaft lockerten den Kündigungsschutz, die Verbindlichkeit von Tarifregelungen, erhöhten die Zumutbarkeitsregelungen für Arbeitslose und setzten – als bekannteste Einzelmaßnahme – das vormalige Arbeitslosengeld auf Sozialhilfeniveau. Flankiert durch den PR-Slogan Fordern und Fördern setzte Rot-Grün ein bis dato unbekanntes Programm zur Kontrolle und Schikanierung von Arbeitslosen um – flankiert von einem Behörden-Neusprech, dessen Begrifflichkeiten direkt aus Orwells Animal Farm zu stammen schienen. Organisatorisch modelte Rot-Grün eine träg-bürokratische Bundesbehörde zu einem neuen bürokratischen Monster um – Sachbearbeiter wurden zu Fallberatern, Sozialhilfeempfänger zu Kunden und das Amt zum Center. Vervollständigt wurde dieser in der Geschichte der BRD einmalige Abbau sozialer Standards von weiteren Agenda-Gesetzen: dem Abbau von Leistungen im gesundheitlichen Bereich, der Erhöhung von Beiträgen für Kranken- und Rentenversicherung, der sogenannten Riester-Rente (sprich: Ersetzung der bisherigen Rentenversicherung durch eine schnell Negativ-Schlagzeilen machende stattlich-private Ergänzungsversicherung) sowie weiteren Gesetzen, die der Flexibilisierung – sprich: allgemeinen Deregulierung der Lebensverhältnisse – dienten.

Propagandistischer Begleittenor der rot-grünen Deregulierungsorgie war das Lied von der sogenannten Ich-AG – ein Euphemismus für die Tatsache, dass Rot-Grün die Lebensrisiken breiter Bevölkerungsschichten privatisierte. Wolfrums Buch ist allerdings auch aus einem anderen Grund lesenswert. Zum einen deswegen, weil es zeigt, dass SPD und Grüne bereits 1999 mit sozialen Kuschelparolen auf Stimmenfang gingen und die Kohl-CDU als Partei der sozialen Kälte geisselten. Noch interessanter sind allerdings die kleinen Unterschiede im Detail. Während die Schröder-SPD zweimal in Kollision geriet mit ihrer Parteibasis – einmal anlässlich der beiden Kriegseinsätze im Kosovo 1999 und in Afghanistan 2001/2002 und einmal ganz harsch anlässlich der Agenda 2010 –, gab es bei den Ökopaxen lediglich anlässlich der Kriegseinsätze innerparteilichen Trouble. Die Agenda-Gesetze hingegen winkte die grüne Parteibasis, anders als die SPD, fast en passant durch. Katrin Göring-Eckardt, die sich nach der Urwahl als „soziale“ Spitzenkandidatin zu profilieren versuchte, hängte sich in Sachen Hartz & Co. besonders aus dem Fenster. Vor der Verabschiedung charakterisierte die neuen Gesetze euphemisch als„Frühling der Erneuerung“. Ernsthafter grüner Gegenwind gegen Agenda & Hartz war allerdings weit und breit nicht zu verzeichnen. Sebst linksgrüne Ikonen wie dem Berliner Abgeordneten Hans-Christian Ströbele war die Macht letztendlich wichtiger als das Schicksal des deregulierten unteren Bevölkerungsdrittels.

Ökospiesser an die Macht?

Der Rest der grünen Erfolgsgeschichte ist bekannt: Während die SPD seit den Agenda-Gesetzen keinen Boden mehr unter die Füsse bekommt, feierten die Grünen ihren zweiten Frühling. Grund: die Reaktor-Katastrophe von Fukushima sowie die Bürgerproteste rund um Stuttgart 21. Den Atomausstieg setzte zwar Bundeskanzlerin Merkel durch. Stuttgart 21 schliesslich wird gebaut – trotz rot-grüner Landesregierung, die sich in der Opposition dagegen ausgesprochen hat. Wirklich geschadet hat die Taktik „Viel schwätzen, wenig tun“ den Grünen trotzdem nicht. Im Gegenteil. Viel spricht für eine vordergründig banal erscheinende Beobachtung – die Tatsache, dass sich der Sozialtypus des Ökospiessers erst nach der rot-grünen Regierungsära zu voller Blüte entfaltet hat. Kennzeichen: Ersetzung von politischer Interessenvertretung durch einen nicht hinterfragbaren Ethik-Kanon ähnlich wie bei Religionen, Mülltrennung (ungeachtet der Tatsache, dass das ökologisch korrekt sezierte Restgut später wieder zusammengekippt und erneut „getrennt“ wird), Bionade, bienenschlanke Kampf-Kinderwagen & Fahrradhelm, bildungs- und einkommensbasiertes Ab- und Ausgrenzungsgehabe, Wohnung im Grünen, Neigung zu Privatschulen (vor allem für den eigenen Nachwuchs), hinzukommend penetrantes Moralisieren und Spassbremsentum (eine Tatsache, von der vor allem Raucher sowie Leute, die nicht denken, dass um zehn Uhr die Party vorbei ist, ein Lied singen können). Die Titelgeschichten über die neue Bürgerlichkeit sind mittlerweile Legion. Ebenso bekannt ist, dass ein Grossteil dieses neuen Milieus aus Bildungsbürgern, gut verdienenden Angestellten, Staatsbediensteten, Yuppies und sonstigen Gentrifizierungsgewinnern mit den Grünen sympathisiert.

Wie wirkt sich diese Tatsache im Hinblick auf das Wahlprogramm der kandidierenden Preferenzpartei aus? Einerseits haben die Grünen mit ihrer Spitzensteuersatz-Forderung für Unruhe gesorgt in ihren großstädtischen Stammwähler-Wohlstandsquartieren. Frage so: War die Forderung nach einem höheren Spitzensteuersatz mutig? Eine neue soziale Komponente im sozial lange vernachlässigten grünen Profil? Oder haben sich die Grünen damit selbst in den politischen Orkus geschossen? Die simple Wahrheit: vermutlich weder das eine noch das andere. Die Forderung, den Spitzensteuersatz für Einkommen über 80.000 Euro im Jahr auf 49 Prozent zu erhöhen, ist vermutlich nichts weiter als ein politischer Bluff – eine grünenspezifische Form der Sozialdemagogie, um Wähler aus dem Reservoir der SPD und der Linken abzugreifen. Von der Materie her lässt sich die Steuerforderung in fast jeder Hinsicht kritisieren. Erstens fokussiert die grüne Forderung die oberen Bereiche des Mittelstandes – Segmente, wo sicher was zu holen ist, jedoch deutlich unterhalb des Bereichs des großen Geldes liegend, der für die auseinanderklaffende Schere zwischen arm und reich ursächlich verantwortlich ist (und von den in sozialpopulistischen Bereichen wildernden Grünen in geradezu auffälliger Weise geschont wird). Zweitens: eine Vereinfachung des von keinem Mensch mehr zu durchblickenden deutschen Steuersystems ist in der grünen Agenda offensichtlich nicht vorgesehen – die übliche Arroganz der Systempartei gegenüber dem Teil der Wahlkundschaft, den man als „Ich-AG“ der deutschen Bürokratiemühle zum Frass vorgeworfen hat. Drittens stellt sich die Frage, wofür die Grünen die steuerlichen Mehreinnahmen überhaupt verwenden wollen. Da zu befürchten ist, dass ein Großteil dieser hypothetischen Kohle im Sumpf von Schuldentilgung, EU-Fördermitteln und Öko-Subventionen versickern würde, liegt man nicht verkehrt, wenn man in diesem einen Punkt sogar für Ökospiesser ein gewisses Verständnis aufbringt.

Möglich, sogar wahrscheinlich, dass nach der Wahl nicht so heiß gegessen wird. Für Schwarz-Grün (oder Schwarz-Rot) spricht schließlich auch der Nicht-Wahlkampf, der bis in den August hinein geführt wurde. Sicher – irgendwelche Punkte, Forderungen und Absichtserklärungen stehen in den Wahlprogrammen aller vier Systemparteien. Hauptmerkmal des Bundestagswahlkampfs 2013 ist allerdings, dass niemand weiss, für was irgendeine der konkurrierenden Formationen letztlich steht. Die politische Abstinenz der CDU ist erklärbar. Die Union setzt auf den Merkel-Effekt, auf die Kanzlerin als Hüterin des Geldes und große Mediatorin. Die FDP wird eine marktradikale Profilierung tunlichst vermeiden und – nach dem Motto: Dabei sein ist alles – auf die obligatorische stille Hilfe in Form von Zweitstimmen setzen. Die SPD steckt in der selbstverschuldeten Klemme und hat sich damit irgendwo auch abgefunden. Die Grünen schliesslich brauchen kein Programm. Jeder weiss, dass die grünen Wahlprogramm-Punkte nach dem 23. September Verhandlungsmasse sind. Der wichtigste Punkt: Keine der vier aufgeführten Parteien erweckt auch nur von weitem den Eindruck, die beiden Haupt-Brandherde, die in dieser Gesellschaft schwelen, in irgendeiner Form anzugehen: a) die Krise der EU und ihrer Institutionen mitsamt der damit verbundenen Demokratiekrise und dem daraus folgenden Legitimierungs-Defizit der Politik generell, b) die durch das obere eine Prozent vorangetriebene Polarisierung der Gesellschaft.

Fazit: lieber nicht

Das Fazit kann bei den Grünen kurz ausfallen. Kreuz bei den Grünen bringt nichts. Dem unteren Drittel der Gesellschaft haben die Grünen nichts zu sagen. Programmatisch ist die Partei derzeit beliebig. Motto, wie bei der FDP: Dabei sein ist alles. Unmittelbar profitieren werden von der Partei lediglich Teile des oben skizzierten Yuppie-Milieus sowie Staatsbedienstete. Letzteren können die Grünen zumindest Wichtigkeit versprechen sowie neue Aufgaben: Ein weiteres Ausmäandern staatlicher Bürokratien, gern auch europaweit, ist mit den Grünen so gut wie sicher. Ansonsten ist die Partei nur für diejenigen wählbar, die gesundheitlich-ästhetisch fragwürdige Wärmedämm-Haussanierungen für eine Errungenschaft halten und die Gentrifizierung ganzer Stadtviertel mit mörderhohen Mieten im Gefolge für die Verwirklichung einer gesellschaftlichen Utopie. Betroffen von dieser Politik ist übrigens auch das Gros derjenigen, denen im Zug von Rot-Grün ein paar bürgerliche Freiheiten neu gewährt wurden. Fazit so: lieber nicht.

Richard Zietz bloggt bei freitag.de. Darüber hinaus betätigt er sich als kritischer Autor bei dem Online-Portal Wikipedia.

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Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

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