Parteien zur Wahl (Vol. 5): die Nichtwähler

Bundestagswahl 2013 Keine Partei – aber bei der Bundestagswahl die prozentual grösste Gruppe. 40 Prozent gehen vermutlich nicht wählen. Was schiefgelaufen ist. Und was aktuell schief läuft

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Zur Not: Horst Schlemmer
Zur Not: Horst Schlemmer

Foto: Alexandra Beier/Getty Images

Stell dir vor, es ist Wahl, und keiner geht hin. Dass die Anzahl der Nichtwähler von Wahl zu Wahl ansteigt, wird gemeinhin eher weniger an die grosse Glocke gehängt. Grosse Ausnahme: der themenlose Pseudo-Wahlkampf 2013. Rechtzeitig zum Ende des Sommerlochs entdeckten Medien und Parteien auch die Nichtwähler. Frage: Woran liegts? An der nicht vorhandenen Politisierung? Oder eher an den abwesenden Alternativen? Das Dilemma in Zahlen: Gingen bei der legendären Willi-Wahl 1972 noch über 90 Prozent der Bundesbürger und Bundesbürgerinnen zur Urne, waren es 2009 gerade mal 70 Prozent. Dass dieser Wert 2013 deutlich unterboten wird und ein neuer Nichtwahl-Rekord ins Haus steht, gilt derzeit als ausgemacht. Wie viele Menschen genau sind von der herrschenden Politik so angeödet, dass sie sich den Gang zum Wahllokal schenken und lieber zu Hause bleiben? Das Boulebardblatt BILD nannte im Sommer dieses Jahres nannte die magische Zahl 15 Millionen. Davon überdurchschnittlich viel: schlecht ausgebildet, weiblich, jung, politisch frustriert und mit desolaten Zukunftsaussichten. Novum: Würden die Nichtwähler als Partei gewertet, wären sie mittlerweile die stärkste politische Kraft. Nicht nur in den Ländern, wo die Wahlabstinenz bereits stärker fortgeschritten ist, sondern – erstmals – ebenso im Bund.

Politik vs. Wähler

Zahlen und Trends, die auch von den grossen Instituten – wie beispielsweise der von forsa für die Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführten Untersuchung – bestätigt werden. Spitzenreiter bei der Wahlabstinenz: das untere, von der Politik zunehmend ausgegrenzte und abgehängte Drittel. Die Ursachen für den Verdruss muß man nicht lange suchen. Neben den rotgrünen Agenda-Gesetzen – ein Auslöser, der selbst von den berichtenden Medien nicht bestritten wird – kursieren vor allem drei allgemeine Erklärungsversuche: Alternativenmangel, Glaubwürdigkeitsverlust und Bürgerferne. Alle drei Punkte sind einerseits nebulös. Andererseits sind sie nicht ganz falsch. Kommen wir zu Punkt eins. Die Ursache Alternativenmangel lässt sich gleich auf mehreren Ebenen unterfüttern. Zum einen gleichen sich die Programmatiken fast bis zur Ununterscheidbarkeit – sofern solche überhaupt noch herausgekehrt werden. Alternativen unter derartigen Umständen? Eher Fehlanzeige. Existenzielle Entscheidungen – bekanntestes Beispiel: die Banken-Rettungsschirme 2008/2009 – werden seitens der herrschenden Politik ebenfalls immer öfter als „alternativlos“ deklariert. Auch Koalitionsaussagen nimmt man – Beispiel: Andrea Ypsilanti in Hessen – lediglich dann noch wörtlich, wenn sie den Big Playern im bundesdeutschen Polit-Betrieb (die nicht unbedingt über ein aus Wahlen resultierendes Mandat verfügen müssen) in den Kram passen. Bei der aktuell anstehenden Wahl hingegen geht so gut wie niemand davon aus, dass getätigte Koalitionsaussagen nach der Wahl in irgendeiner Form Bestand haben. So ist die Bühne für die argumentative Kärrnerarbeit in Sachen Schwarz-Grün längst eröffnet. Wobei weniger die Leitmedien überzeugt werden müssen, die die Variante Schwarz-Grün bereits seit längerem fleissig supporten. Sondern eher jener Teil der Altmitgliedschaft, den man für die Parteifolklore noch braucht und darum nicht komplett aus der Partei rausekeln will. Beispiel: Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie. In einem Mitte August erschienenen Spiegel-Essay sondierten sie, angeblich vorurteilsfrei, potenzielle Partner für grüne Koalitionen. Wobei – realistisch – lediglich eine Option Bestand hatte in den Augen der Autoren: die, welche ganz viel Öko garantiert und eine „neue Bürgerlichkeit“ gleichermassen. Kohle für das Spiegel-Glanzheft vorausgesetzt: Die in der Rechnung nicht vorkommenden Leser und Leserinnen aus dem prekarisierten unteren Gesellschaftsfünftel werden Cohn-Bendits Überlegungen sicher mit viel Genuss zur Kenntnis genommen haben.

Im Grunde leiten die beliebigen, durchsichtig aus taktischen Gründen gegebenen Koalitionsaussagen zum zweiten Grund für die grassierende Politikverdrossenheit über – dem Glaubwürdigkeitsverlust der herrschenden Politik. Unglaubwürdig geworden ist die Politik nicht nur bei den paar Highlight-Themen, welche in den Medien Furore machten – beispielsweise anlässlich der Bürgerproteste gegen Stuttgart 21 sowie die Atom-Endlagerung in Gorleben. Keine, unbefriedigende oder falsche Antworten gibt es auch in jenen Fällen, wo – Beispiele: NSU und NSA – massivste, zum Teil letale Übergriffe auf Bürgerrechte stattfanden. Gleitet die Demokratie in eine Postdemokratie ab? In der demokratische Einflussnahme lediglich noch an der Oberfläche stattfindet, in Wirklichkeit jedoch nicht legitimierte Inner Circles durchregieren? Dürfen Geheimdienste frei nach Gusto agieren? Aktuell sind diese Fragen noch offen. Einerseits gibt es Bürgerproteste, Medien, die unterschiedliche Meinungen artikulieren, zwei, drei Dutzend Parteien abseits der „systemrelevanten“ Big Four. Andererseits sind die Anzeichen für Konzentration, für eine politische Monopolbildung unübersehbar. CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne, die „Big Four“, präsentieren sich zunehmend als monolithischer Einheitsblock – als informelles Machtkartell mit der Tendenz, den Staat als Selbstbedienungsladen, als Eigentum zu behandeln. Ist das noch Parteienstaat? Oder bereits die erste Stufe zum Bonapartismus? Verstärkt wird der Faktor Glaubwürdigkeitsverlust durch die Art und Weise, wie Parteien ihre Kader generieren. Politik gilt, ähnlich wie in den USA, mehr und mehr als Karrieresprungbrett. Folge: Die politische Klasse hat mit Normalbürgern immer weniger zu tun – jargontechnisch, interessensmässig, mental, räumlich. In den Parlamenten sitzen fast nur noch Juristen, Staatsangestellte, Parteifunktionäre sowie sonstige Verwaltungstechnokraten – Berufsgruppen also, die nicht nur besonders staats-, gesetz- und bürokratienah sind, sondern schon aus existenziellen Gründen gar kein Interesse haben an einer allgemeinen Entkomplizierung politischer Prozeduren.

Wahlenthaltung – ein pädagogisches Problem?

Wie kommt man dem Missstand „Politikverdrossenheit“ am besten bei? Die SPD in ihrer Not will es mit Hausbesuchen versuchen. Da die Glaubwürdigkeit der Partei gen Null tendiert, ist es fraglich, ob diese helfen. Bei der Erklärung der aktuellsten Parteischaraden beispielsweise – der Kanzlerkandidat verteidigt Steuererhöhungen entgegen seiner inneren Überzeugung, der Parteivorsitzende stellt sie öffentlich als unnötig hin – dürfte selbst der dialektikgestählteste Sozialdemokrat in Erklärungsnöte geraten. Abgesehen davon: Dass die vergossenen Krokodilstränen echt sind, darf man getrost bezweifeln. Ein Fakt, der ebenso für diejenigen gilt, die das Nichtwähler-Thema gehypt haben: Welches Interesse etwa haben Spiegel, Zeit oder FAZ an einer erhöhten Wahlbeteiligung? Verbessert sie die Auflage ihrer Blätter? Wohl eher nicht. Weil die nichtwählenden Unterklassen einerseits abgehängt sind (und Parteistrategen je nach Farbe durchaus froh, wenn bestimmte Personengruppen der Wahl fernbleiben), andererseits das Thema auf die Agenda gesetzt ist, fahren Leitmedien und Öffentlich-Rechtliche die volkspädagogische Erziehungsschiene. Die Rezepte sind klassisch. Die Methode „Hintern versohlen“ (dem dummen, unmündigen Bürger nämlich, der seiner staatsbürgerlichen Veranwortung nicht nachkommt) war dabei Domäne der sonst so auf ihre liberale Note bedachten Zeit. Die Autoren Vincent Immanuel Herr und Martin Speer plädieren in einem Essay für die Einführung einer mit Geldbussen flankierten Wahlpflicht. Wie in der DDR – sonst gemeinhin als „Reich des Bösen“ und totalitär verdammt – war in den Augen der Verfasser nicht die Abwesenheit wählbarer Alternativen das Problem, sondern vielmehr die störrischen Bürger und Bürgerinnen, die dem von oben gesteckten Ziel nicht gerecht werden. Und die man nötigenfalls eben zu ihrem Glück zwingen müsse.

Dass pädagogisierendes Verständnisgeheuchel genauso schlimm ist wie die schwarze Pädagogik des Hamburger Traditionsblatts, stellte der erste Jauch-Talk nach der Sommerpause unter Beweis. Oberflächlich gesehen war die Jauch-Sendung auf Verständnis gebürstet. Dies suggerierte jedenfalls die Aufmacher-Schlagzeile: Denkzettel statt Stimmzettel – wozu noch wählen? – auch wenn die Wortzusammenstellung, die Jauchs PR-Abteilung da zusammengetextet hatte, schlimmster Nonsense war. In der Praxis allerdings war die Sendung der reinste Eklat. Die einzige authentische Nichtwählerin in der Runde, die Berliner Autorin Hanna Hünniger, wurde von Jauch und Rest-Gästen nach allen Regeln der Kunst übergangen, gedisst, in die antwortlose Leere laufen gelassen sowie zur stumm dasitzenden Staffage herabgewürdigt. Fazit: Das Verhalten der erfahrenen Talk-Profis gegenüber Hanninger war nicht einfach unhöflich, schäbig und menschlich gesehen unter aller Sau. Im Grunde war der Jauch-Talk ein unverhohlender, offener Affront an die zusehenden Nichtwähler – eine mit Spießerpathos grundierte Publikumsbeschimpfung, die sich Jauch im Namen der brav ihre Stimme abgebenden Normalbürger gegönnt hat. Über die Kernbotschaft des Talks wird sich der Nichtwähler sicher freuen: Wir verachten euch; ihr seid es uns nicht wert, dass wir mit euch reden.

Ist Talk immer so schlimm? Die Politik so moralinsauer, preussisch-korrekt, auf lediglich Output „könnende“ Polit-Alphatiere zugeschnitten? Oder so kompliziert, dass sie von Nicht-Profis gar nicht zu ergründen ist? Dass entsprechende Sendungen auch anders funktionieren können – anteilnehmend nämlich, spannend und durchaus mit einer Prise Humor, bewies Polit-Outsider Stefan Raab im Frühjahr mit seinem Talkformat Absolute Mehrheit. Anders war in Absolute Mehrheitnicht nur die unverkrampfte Art, mit der über politische Themen diskutiert wurde. Auch das Schema der Sendung – Kommunikation in Klartext, die Zuschauer sind per Votum integraler Bestandteil – war, von länger zurückliegenden Formatexperimenten einmal abgesehen, neu. Interessant waren die Raab-Talks indes auch aus einem anderen Grund. Im Unterschied zu Jauch, Will & Co. hatten nicht die Vertreter der Vier Unabkömmlichen die absolute politische Oberhohheit. Sondern vielmehr die, die gut argumentieren und für ihre Sache werben konnten. Im Publikums-Voting eine besonders gute Figur machten – von der FDP-Ausnahmeerscheinung Wolfgang Kubicki abgesehen – vor allem Teilnehmer der Linkspartei (Gregor Gysi, Klaus Ernst), der Piraten (Cornelia Otto), der AfD-Vorsitzende Bernd Lucke sowie der parteilose Deutsch-Rapper Sido. Stellt man in Rechnung, dass der ausstrahlende Privatsender (Pro Sieben) überdurchschnittlich von jenen Gruppen fequentiert wird, die laut Forsa-Studie zu den Nichtwählern tendieren, kommt man stark ins Grübeln darüber, inwieweit Wahlergebnisse die tatsächliche Meinungs-Realität repräsentieren.

Fazit: Nichtwählen bringt auch nix!

Wählen oder nichtwählen? Das Fazit der aufgeführten Impressionen ist widersprüchlich. Einerseits ist es ein recht interessantes Gedankenspiel, die Prozentergebnisse, die am Wahltag verkündet werden, durch zehn zu teilen, mit dem Faktor sechs malzunehmen und am Ende 40 Prozent hinzuzuaddieren für eine imaginäre Partei, die im Parlament nicht vertreten ist. Die Nichtwähler dazuaddiert, würde die forsa-Wahlerhebung vom 21. August etwa wie folgt aussehen: CDU/CSU: 25%; SPD: 13%; FDP: 4%; Grüne: 8%; Linke: 5%; Sonstige: 4%; Nichtwähler: 40%. Andererseits: Den vier systemrelevanten Parteien ist der Grad der Wahlbeteiligung relativ egal. Auf den Sitz oder Nicht-Sitz des Abgeordneten X oder der Abgeordneten Y hat die Höhe der Wahlbeteiligung keinen Einfluss. Ebensowenig auf die Zusammensetzung des Parlaments. Fazit hier: Nichtwählen bringt zweifellos nichts. Wie sähe es jedoch bei den Alternativen aus? Als aussichtsreich gehandelt wird derzeit nur eine. Von der Parteiprogrammatik her dürfte die Linkspartei den Interessen abgehängt-perspektivloser Nichtwähler zwar am ehesten entgegenkommen. Menschen, die sich am unteren Rand moderner, urbaner Milieus entlanghangeln, eventuell Öko sind, unpolitische Party-Feierer oder basisdemokratisch-anarchisch denkende Okkupy-Sympathisanten dürften sich mit dem Traditionssozialismus, den die Linke mit im Gepäck führt, indess eher schwer tun. Bliebe Partei zwei, die Piraten. Aufgrund der eher aufgesetzt wirkenden sozialen Programmatik zwar ebenfalls „einäugig“, dafür jedoch sehr sensibel beim Thema Bürgerrechte – einem Thema, wo eher bei der Linken noch das ein oder andere gehen dürfte. Ob die Piraten tatsächlich schwächeln oder ob ihre aktuelle Chancenlosigkeit eher von den Leitmedien herbeigeschrieben wurde, lässt sich schwer ausmachen. Ansonsten bleiben die Wutparteien am rechten Rand – inklusive der AfD, die im sozialen Bereich jedoch ebenfalls eher ein Law-and-Order-Profil entfalten dürfte.

Die Wahl 2013 macht es einem schwer. Nicht deswegen, weil gar keine wählbare Partei vorhanden wäre (für Hartgesottene stünden ja noch DKP und MLPD zur Verfügung). Sondern deswegen, weil keine reelle Alternative zum herrschenden Block in Sicht ist. Linkspartei ist gut und schön, die Piraten ganz nett – schön, dass es sie gibt und schön, dass sie durchhalten. Optimal allerdings wäre ein Zusammenschluss. Ein Bündnis, verstärkt durch Basisgruppen, NGOs, Gewerkschaftsverbände sowie Dissidenten aus den vier Systemparteien. Kurzum: eine deutsche Fünf-Sterne-Bewegung, oder eine bundesdeutsche Variante des griechischen Linksbündnisses SYRIZA. Möglich, dass bis zur Entwicklung einer vergleichbaren Alternative noch einige Jahre ins Land gehen. Gut möglich ist allerdings auch, dass eine entsprechende Wahlalternative die Notlösung Nicht-Wählen für viele obsolet machen würde. Aufgrund einer inhaltlich klar konturierten Alternative.

Richard Zietz bloggt bei freitag.de. Darüber hinaus betätigt er sich als kritischer Autor bei dem Online-Portal Wikipedia.

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Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

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