Piratenpartei in freiem Fall

Piraten Wenig »Meuterei auf der Bounty«, viel »Titanic«: Die Piraten befinden sich im freien Fall. Letzte Woche schmissen vier weitere Promis. Ist die Partei am Ende?

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Piratenpartei in freiem Fall

Foto: Adam Berry/AFP/Getty Images

Wer ist schuld am Dilemma der Piraten? Dumme Frage – immer die anderen. Ob im »Real Life« vor laufender Kamera oder via Tastatur in der virtuellen Welt der Social Medias: In Sachen Shitstorm sind die Piraten bekanntlich Meister, vor denen alle anderen in Ehrfurcht niederzuknien haben. Allerdings: Was seit Anfang des Jahres vor sich geht, ist selbst für seefeste Beobachter_innen eine harte Buddel Rum. Piraten-Jahresticker 2014: eine umstrittene Aktion änlässlich des Neonazi- Jahreskalendertermins »Bombardement von Dresden«, monatelange Dauerechauffierung in den Mainstream-Medien nebst zugehörigen Busen-Bildstrecken, politischer Streik der Technik-Truppe, massig Austritte auf dem eher bürgerlich-»urpiratig« orientierten Parteiflügel im März, desaströse 1,4 Prozent bei den Europawahlen. Letzte Woche dann gleich vier Abgänge – wobei diesmal der linke Flügel Blut ließ. Klarmachen zum Zukunft-Entern? Pustekuchen. Selbst in der Kombüse stehen die Wetten schlecht. Und auch die Ratingagenturen von den Leitmedien vergeben derzeit nur ein vergrätztes CCC. Im Klartext gesprochen: Die Piratenpartei steht, wie es aussieht, kurz vor ihrer Selbstzerlegung.

Eingefleischte Systemoppositionelle – genauer: die großteils in innerer Emigration befindliche APO zu Großer Koalition und Biedermeier-Grünen – mögen sich an den Kopf fassen und fragen: Sind die noch bei Trost? Haut man so eine Oppositionsbewegung auf den Kopp? Andere reagieren resigniert, gleichgültig oder – das World Wide Web hat die Hemmschwellen erfolgreich abgesenkt – mit ranzigem Zynismus. Haben wir es nicht gewußt, dass es so nichts werden kann? Ein-Punkt-Partei. Nur Liquid Feedback, Copyleft und Transparency-Rumgenöle – das konnte ja nur schiefgehn. Die abgeklärt-routinierten Praktiker aus dem herrschenden Politikapparat sehen’s pragmatisch und zeigen sich an Resteverwertung durchaus interessiert. Fallweise winkt die Einladung zur Mitarbeit in einer der Etablierten – wie etwa für den letzte Woche ausgetretenen Christopher Lauer, der prompt eindeutige Avancen von den Grünen bekam. Aperçu: Ihr Mandat, sofern vorhanden, wollen übrigens so gut wie alle behalten, die ihrer Partei »Adios!« gesagt haben. Was sich durchaus mit Hartz-IV-Druck erklären lässt: Wer heutzutage noch einen Job hat, gibt ihn nicht ohne dringende Anlässe auf.

Grillparty bei den Mediens

Lage: bescheiden. Zukunft: ungewiß. Welche Passagen in die Wikipedia-Artikel zur Partei, zu Lauer und all den anderen derzeit zu- und umgeschrieben werden müssen, ist noch unklar. Vor der nächsten Kaperfahrt (sofern es eine gibt) wäre auf jeden Fall etwas völlig Piratenungewohntes fällig: Ursachenforschung. Die erprobten Experten von ARD, ZDF & Spiegel – also diejenigen, die schon manche Partei kommen und gehen sahen – melden auch bei diesem Stück bundesdeutscher Parteiengeschichte ihr obligatorisches Deutungsmonopol an. Den etablierten Medien zufolge liest sich das Märchen von den Piraten nach wie vor ungefähr so: Es war einmal ein Internet. Das wurde von den etablierten Parteien sträflicherweise links liegen gelassen. Dann zog eine Truppe dieser Internetnutzer – keiner wußte, woher sie kamen – in die Parlamente. Ähnlich wie vor 35 Jahren die Grünen. Die waren interessant, neu, und wir haben entsprechend berichtet. Leider will auch diese Truppe nicht einsehen, dass man sich für die parlamentarische Arbeit anpassen muß, Kompromisse machen muß. Die Geschichten mit neu, interessant und so haben wir gern gebracht; wir haben sogar noch 2, 3 von der Sorte auf Lager. Irgendwann ist jedoch Schluss mit Welpenschutz. Und wenn diese Piraten ihre Lektion nicht lernen, dann können wir auch anders – wie damals bei den Grünen oder der agendaunwilligen SPD. Wie das endet: siehe Beck, siehe Ypsilanti.

Allerdings: Aller sexy Tit(t)elbilder ungeachtet beginnt die Geschichte der schlechten Piratenpresse nicht mit Anne Helm und der antifaschistisch gemeinten, vielleicht jedoch nicht in Vollendung gelungenen »Bombergate«-Aktion vom 13. Februar. Getreu dem unausgesprochenen Motto, dass »die Neuen« nunmehr in der staatsbürgerlichen Pflicht stehen, hatte sich der Wind der Berichterstattung bereits viel früher gewendet. Genauer: zwei Jahre zuvor – unmittelbar nach dem ebenso unerwarteten wie prozentual grandiosen Einzug in den Berliner Senat im September 2011. Die urbanen, netzaffinen, gut ausgebildeten, beschäftigungstechnisch jedoch teils im prekären Bereich rumwurstelnden Teile der jüngeren und mittelalten Generation plötzlich dabei, die Parlamente zu entern – dieser Realitätsschock mußte den Etablierten tief in die Knochen gefahren sein. Die gescheiterte grüne OB-Kandidatin Renate Künast war vom Piratenerfolg gar derart angefressen, dass sie die Newcomer als – immerhin nicht ganz hoffnungslosen – Fall für die politische Resozialisierung klassifizierte. Politik als Quarantänestation – manche Epigonen der alternativlosen Sachzwangspolitik sind in ihrer Offenherzigkeit so offenherzig, dass man als Demokrat Alpträume kriegt.

Ansonsten konnte die neue Fraktion im Senat so hart ihren Bewährungsauflagen nachkommen, wie sie wollte. Ob Anfrage von Christopher Lauer zur massenhaften Mobilfunküberwachung im Bezirk Kreuzberg–Friedrichshain oder der von Martin Delius vorwärtsgepowerte Untersuchungsausschuss zum Endlosflughafen FBB: Piratentechnisch dominierte in der Berichterstattung fortan vor allem der StringPleiten, Pech und Pannen. Hierbei gingen die Medien zweigleisig vor. Zum einen vermittelten sie weiterhin das Bild einer interessanten, politisch jedoch ziemlich puberbären Subkultur (typisch hierfür: diese Geschichte 2012 in der eher konservativ ausgerichteten Zeitschrift Cicero). Zweiter Schwerpunkt war die stetig auf ein ausreichendes Skandalisierungslevel hochgekochte Besorgnis über Personen und Ereignisse. Ob zu viel Basisdemokratie oder Liebe zur falschen Person: Über Politik und Privatleben der Piraten hatten fortan die Medien die Deutungshoheit. Allgemeine Message ans Publikum draußen im Land: Mit denen wird das eher nichts.

Ein besonderes Highlight dieser Form personalisierter Skandalberichterstattung war die mediale Schmutzkampagne gegen den Schauspieler und zeitweiligen Parteigeschäftsführer Johannes Ponader. Ponaders Makel, in den Augen seiner Kritiker: Bezug von Leistungen der Bundesagentur für Arbeit. Die Overture in Sachen »Hartz-IV-Pirat« fand am 17. Mai 2012 im Talk von Markus Lanz statt. Im Monat darauf gab der Focus Butter bei die Fische. Meldung: »Johannes Ponader hat Ärger mit der Arbeitsagentur«. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung? Ein weiterer Focus-Beitrag vom selben Monat griff eine Stellungnahme von Heinrich Alt auf, einem Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit. Ponaders politisches Engagement, so Alt, sei nichts weiter als Selbstverwirklichung auf Kosten der Steuerzahler. Zwei Monate später durfte Spiegel Online endlich Ergebnisse vermelden: die Parteibasis sei, so das Nachrichtenmagazin, über Ponader »empört«. SPON-Mitarbeiterin Annett Meiritz schaffte es in ihrem Beitrag, einerseits die Piratenbasis zu kritisieren, welche Ponander wegen einer Crowdfounding-Aktion in eigener Sache »gegrillt« habe, andererseits Ponader selbst, der kritische Berichterstattung über sein Lebensmodell, so der Bericht, kategorisch als Verleumdungskampagne abtäte. Ausgeglichenes Fazit bei SPON: »Das Projekt Bundestagswahl könnte unter diesen Voraussetzungen schneller vom Tisch sein als gedacht.«

Piraten-Flügel

Wie der piratenkritische SPON-Artikel im August 2012 andeutete, waren es keinesfalls nur die bösen Medien, welche den Parteigeschäftsführer ins politische Nirvana katapultierten (und damit faktisch auch die Forderung nach einer gesetzlich garantierten Grundabsicherung). Die Piraten selbst waren es, die vorauseilenden Gehorsam geübt und gemäß dem besorgten Motto »Das geht nun wirklich nicht« einen ihrer Hauptleute den Wölfen zum Fraß hingeworfen hatten. Dank & Anerkennung gab es dafür bekanntlich nicht. Im Gegenteil – die Piratenflaute ging mit der »Causa Ponader« erst richtig los. Wie die Ereignisse anderthalb Jahre später zeigten, hat der Anbiederungsversuch an die eingeschliffenen deutschen Arbeitslager-Reflexe nicht nur nichts genützt. Die um vier Windbö-Stufen heftigere »Bombergate«-Kampagne 2014 zerlegte die Partei letztlich auch aus dem Grund, weil es die unterschiedlichen Piratenflügel über die Jahre versäumt hatten, ein belastbares Agreement zu entwickeln für den Umgang miteinander. Ein Agreement, das ungefähr besagt, wie man im Fall unterschiedlicher Flügel-Schwerpunkte so miteinander zusammenarbeitet, dass einen der politische Gegner nicht in alle Einzelteile zerlegt.

Flügel? Die Legende, dass die Piraten eine Ein-Punkt-Partei sind, wird von den Medien zwar tapfer weiter kolportiert. In der Realität jedoch hat sich das Spektrum der Partei längst in unterschiedliche Strömungen aussortiert. Die drei wesentlichen: eine gemäßigt-sozialliberale, eine nerdig-kernpiratige und eine feministisch-linke. Hauptinitiator der sozialliberalen Strömung ist der Kölner Landtagsabgeordnete und Diplom-Informatiker Daniel Schwerd. In seinem Blog veröffentlichte Schwerd im Februar einen Text zur Positionierung. Im Piratenwiki gibts eine Unterstützerliste mit über 200 Unterschriften. Eine weitere Plattform der Sozialliberalen ist das im Dezember 2012 gegründete Frankfurter Kollegium. Die eher links orientierte Parteiströmung unterhält zwischenzeitlich ebenfalls eine Seite im Web. Die Mitgliederliste der Progressiven Plattform liest sich fast wie ein Who’s Who der Gesamtpartei – von der zwischenzeitlich ausgetretenen Ex-Managerin und Wikileaks-Unterstützerin Anke Domscheit-Berg über den Sozialliberalen Schwerd bis hin zu der Berliner »Bombergate«-Aktivistin Anne Helm ist fast alles präsent, was gegenwärtig in der Partei Rang und Namen hat – oder bis vor kurzem noch hatte.

Dritte Strömung sind die sogenannten Ur- oder Kernpiraten. Hauptanliegen: Kaprizierung auf die ursprünglichen Parteithemen – also Datenschutz, Urheberrecht & Freies Wissen. Auch diese Strömung wartet zwischenzeitlich mit einer eigenen Plattform auf, der Gruppe42. Auffällig bei der parteiinternen Aussortierung: die Anzahl prominenter Parteimitglieder, die sich offenbar nicht eindeutig festlegen möchte und gleich bei mehreren Strömungsplattformen mitmischt: Daniel Schwerd etwa, Mitinitiator der Sozialliberalen und gleichzeitig bei den Progressiven mit dabei. Oder Julia Reda, Spitzenkandidatin auf der Europawahl-Liste der Partei und eigentlich eine profilierte Linke – zusätzlich jedoch eingeschrieben auf der Plattform der Kernthemen-Befürworter.

Ist das nicht alles ein bißchen sehr flexibel – hastig zusammengelötet nach dem Motto Dabeisein ist alles? Der Eindruck, dass das Rampenlicht der Öffentlichkeit Partei wie Mitglieder in politisch-persönliche Hyperventilation versetzt hat, lässt sich kaum noch von der Hand weisen. Nichtsdestotrotz sind die Piraten selbst bei alldem seltsam nebulös geblieben. Nicht Fisch, nicht Fleisch. Ungehagen – ja. Aber mit was? Auch oberflächlichen Beobachtern fällt auf, dass innerhalb der Piratenpartei recht unterschiedliche Lebenswelten miteinander koexistieren. Und, vielleicht wichtiger: unterschiedliche Formen und Agreggatzustände des Unbehagens an den aktuellen politischen Zuständen. Die unterschiedlichen Schwerpunkte sind da vielleicht nicht mal das Problem. Betrachtet man den Zustand der Partei von außen, liegt es möglicherweise eher an der Unfähigkeit oder auch dem Unwillen, die einzelnen Teile zu einer gemeinsamen, realitätsbelastbaren Summe zusammenzufügen.

Ein (gemeinsames) Selbstverständnis müßte her. Was sind wir? Wo kommen wir her? Wo wollen wir (zusammen) hin? Entgegen steht diesem (potenziellen) Ziel vor allem ein Punkt: der leidenschaftliche Hang zu Mimikry und großer (leider auch gesellschaftlich relevanzloser) Geste. Motto: heute die große, Selbstverständnis und/oder Reputierlichkeit der jeweiligen Peergroup betonende Aktion, nächste Woche der dazugehörige Shitstorm, im Monat darauf blanker Opportunismus – inklusive Interview bei jedem, der bereit ist, ein Mikro hinzuhalten. Anders gesagt: Irgendwie hat man den Eindruck, dass die Piraten ihre diversen »#-gates« durchaus delektierlich finden. Zum (vorläufigen) Parteitiefpunkt (und möglicherweise dem Parteiende) führte dieser gleichzeitig hochwaghalsige wie naive Politikstil bei jener Aktion, die derzeit wohl von der überwiegenden Mehrheit als der Einstieg in den endgültigen Abstieg gesehen wird – dem quer durch die Medien kolportierten »Bombergate«-Foto von Anne Helm und der Femen-Aktivistin Mercedes Reichstein.

»Bombergate«

Was war geschehen? Am 13. Februar posierten die Europawahlkandidatinnen Anne Helm und Mercedes Reichstein im Femen-Stil vor Dresdener Domkulisse, um auf die Okkupation des Bombardement-Jahrestags durch die internationale Rechtsextremisten-Szene hinzuweisen. Einerseits war die Aktion durchaus eingebettet – in die antifaschistischen Gegenaktivitäten zu dem alljährlichen Naziaufmarsch in der Stadt. Sinnigerweise zog die Aktion eine Medienechauffierung nach sich, die jene zum »Hartz-IV-Piraten« Ponader weitaus übertraf. Im Spotlight stand nicht mehr der widerwärtige Geschichtsrelativismus, den NPD & Co. anlässlich dieses Jahrestags aufleben zu lassen versuchen. Vielmehr stürzte sich die Presse wie die Geier auf die mutmaßliche Identität der beiden mutmaßlichen Demonstrantinnen. »Nackt-Aktivistin«, »nackte Brüste«, »nackter Oberkörper«, »Verhöhnung«: Getreu dem Motto, dass Voyeurismus plus Empörung das Erfolgsgeheimnis des Boulevards ist, rappten BILD und andere Yellow-Press-Epigonen anzügliche Vokabeln aneinander, als seien Dutschke, APO & Kommune 1 gerade eben aus der Gruft hervorgekrochen.

Der nicht ganz so boulevardeske Teil gab sich parteibesorgt. Der Berliner Kurier prophezeite düster: »›Bombergate‹: Jetzt versenken sich Berlins Piraten selbst«. Helm selbst bestätigte ihre Beteiligung schließlich in der Jungle World – nicht ohne im Publikationsorgan der antideutschen Linken eine politische Begründung mitzuliefern. Die tageszeitung fasste den Stand der Affaire ein paar Tage später in einem Zwischenstands-Beitrag zusammen. Im folgenden zerfledderte das mediale »Bombergate« die Partei mehr und mehr. Die Fakten im Zeitraffer: Nachdem sich der Bundesvorstand der Partei grundsätzlich (wenn auch nicht unbedingt in der Form) mit dem Anliegen der beiden – zwischenzeitlich mit Belästigungen bis hin zu Mordrohungen überzogenenen – Aktivistinnen solidarisch erklärt hatte, konterten einige Landesverbände – darunter Niedersachsen, NRW, Bayern, Thüringen und Hessen – mit explizit ablehnenden Statements. Zusätzlichen Drive bekam der »Bombergate«-Streit durch einen Streik der Technik-Administatoren. Forderung: eine »Diskussionskultur ohne Mobbing, Drohung und Hetzjagden«.

Eskalation, next Step: Eine Reihe Parteipromis, vorwiegend vom sozialliberalen Flügel, steckten auf und verließen die Partei: Heiko Müller, Matthias Schrade, Sebastian Nerz, Klaus Peukert, Cornelia Otto und Udo Vetter. Die Auseinandersetzung um das sogenannte »Bombergate« mänderte in der Folge mehr und mehr in die einschlägigen Blogs und Online-Medien aus – etwa den »Carta«-Blog des Journalisten Wolfgang Michal (»Bombergate, Antifa, Orgastreik – Was ist bei den Piraten los?«). Flankierend kommentiert wurde die zugrunde liegende Richtungsauseinandersetzung von parteinahen Vielbloggern wie beispielsweise Don Alphonso oder Martin Kompa. Beiträge zur Debatte: »Der Antideutsche versteht nur die harte Hand«, »Das Antifaproblem der Piraten« oder auch, etwas klamaukiger gestimmt: »Der Streit um Helms Klamauk«.

Piratennahe Medien wie das Magazin Telepolis wiesen ebenfalls auf den maladen Gesamtzustand der Partei hin. Dass der Einzug ins Europarlament grandios verpatzt wurde, fiel bei der Intensität, mit der die Piraten ihre Selbstzerlegung in Szene setzten, fast gar nicht mehr auf. Ein Wunder, dass der Bundesparteitag am 28./29. Juni in Halle kaum noch jemanden interessierte – außer die Beteiligten selbst? Immerhin versendete er zumindest sprachlich die totale Netzkompetenz. Erst mal mit eindeutiger URL (PIRATENBPT.DE), darüber hinaus mit erklärtem »Approval Voting«, einem geupdateten »Awareless-Team« und nicht zuletzt klaren, auch für Außenstehende verständlichen Twitter-Ansagen: »Dem @FlorensD vielen Dank für die gute Zusamenarbeit und alles Gute für die Zukunft (http://t.co/0rucH0qxJ2) about 1 Woche ago«. Weitere Höhepunkte des an Tiefpunkten reichen Parteitags: Anke Domscheit-Berg bekundete auf großer Bühne ihren mentalen Abschied von der Partei, Christopher Lauer gab – das letzte Mal? – den Fischer. Endspiel im September: die zweite große Austrittswelle – Lauer, Domscheit-Berg sowie drei weitere Epigonen vom linken, antifanahen Parteiflügel: Anne Helm, Simon Weiß und der ehemalige Berliner Fraktionsvorsitzende Oliver Höffinghoff.

Das Ende?

Das große Ab- und Aufrechnen geht weiterhin seinen zu erwartenden Gang. Wer ist schuld? Sind die Piraten eine Partei für »unpolitische Karnickelzüchter«, wie Antifa-Aktivist Höffinghoff im linksparteinahen Neuen Deutschland posthum kundtat? Oder hat die Antifa die Partei in den Abgrund gezogen – wie es Teile des sozialliberalen Flügels kolportieren? Hängt es allgemein an der personenbezogenen Kultur des Flamens und Unter-der-Gürtellinie-Angreifens, wie Links-Pirat Fabio Reinhardt in seinem Blog beklagt? Oder trägt das Partei-Niederschreiben der staatsnah gestimmten, tendenziell neoliberal ausgerichteten Leitmedien einen Großteil der Verantwortung? Alles richtig – ja. Zum Teil. Jedes Moment liefert einen Aspekt. Im Hinblick auf die Gesamtlinke (wo zumindest die Linkspartei nicht unfroh war, parlamentarische Sparringspartner zu kriegen) muß auch die Leseart Karnickelzüchter versus Antifa kritisch hinterfragt werden. Richtig ist, dass die »Bombergate«-Aktion in einem antifaschistischen Kontext stand. Dass sie die Macht der Bilder aufgebrochen hat und ein widerhakiges, widerständiges Gegenbild zum deutschnationalen Wir-sind-wieder-wer-Mainstream geliefert hat. Insofern war die Aktion von Helm und Reichstein nicht nur zivilcouragiert (auch wenn das Outing so sicher nicht geplant war). Sie hat – seien wir nicht geizig – das linke Widerstandsbild des Jahres 2014 geliefert.

Das ist die eine Seite. Die andere: Zahlenmäßig etwas bedeutsamer Einzug gehalten hat bei den Piraten nicht »die« Linke in ihrer vielfältigen Allgemeinheit, sondern vielmehr zwei ganz spezielle Fraktionen: die Queer- und Gender-Linke sowie die antideutsch orientierte Antifa 2.0. Letztere hat in den Piraten sogar einen eigenen Ableger – die Pirantifa. Vom Theoriemix her sind beide Strömungen eng aneinander gebaut. So gibt es im Wiki der Pirantifa eine Unvereinbarkeitserklärung bezüglich Rassismus, Sexismus, Homophobie, Ableitismus, Transphobie, andere Diskriminierungsformen sowie damit verbundene strukturelle und körperliche Gewalt. Zusätzlich Probleme schaffen könnte die bekannt stark auf westlichen Menschenrechtsimperialismus setzende Orientierung der antideutschen Strömung im weiterschwelenden Ukraine-Konflikt. »Bombergate«-Mitaktivistin Reichstein etwa beteiligte sich im Februar an einer Aktion vor der Russischen Botschaft – und soll dort irgendwas Brennbares im harmloseren Bereich geworfen haben (Docht, Flasche, aber kein Benzin). Anlass: Protest gegen die Unterdrückung von Schwulen in Russland.

Das Bestreben, sich als Semipromi im Dunstkreis der Partei stärker zu profilieren, kann vorhandene Krisen zusätzlich verkomplizieren. Respektive dazu beitragen, dass in der Fülle unterschiedlicher Mediengewitter jeglicher Überblick und jegliche politische Message abhanden kommt. Beispiel: die im März ebenfalls aus der Partei ausgetretene Ex-Bundesvorstands-Beisitzerin, Bloggerin und Buchautorin Julia Schramm. Schramm, personell mit den Linken um Höffinghoff und Reinhardt eng verbunden, eskalierte die »Bombergate«-Affäre durch wohl nicht ganz in Vollendung überlegte Twitter-Kommentare wie »Sauerkraut, Kartoffelbrei – Bomber Harris, Feuer frei«. Nun ist Schramm, die in ihrer politischen Laufbahn von Jungliberalen über Postfeminismus und Feminismus bis hin zu den Antideutschen fast alles mitgenommen hat, sicher kein Einzelfall. Das Beispiel der umstrittenen Klick-mich-Bestsellerautorin zeigt allerdings, wohin es führt, wenn persönliche Profilierungsbedürfnisse die Regie übernehmen und das politische Anliegen zum stylishen Medienattribut wird.

Die gute Nachricht: Viele der Fragen, die politische Programmatik und Bündnisfähigkeit der Piraten betreffen, sind derzeit hypothetischer Natur. Die Partei ist raus. Und alle – außer den unmittelbar Involvierten vielleicht – merken: Karnickelzüchter, antideutscher Jeunesse-dorée-Kreuzzug mit Verhaltens- und Sprachpolizei-Ambitionen oder, Variante drei, Medien-Egomanie, bis der Arzt kommt – diese drei Alternativen allein können es nicht ganz sein. Simple Frage, die den Rest der Repubik interessiert: Kommt da noch was?

Oder muß man sie abschreiben, die deutsche Piratenpartei? Mit der – für einige – sicher schlimmsten Höchststrafe:Nie mehr Medien, Talkshow und Blitzlichtgewitter.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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