Richtig eklig

Neofaschismus Bürgerliche Medien begleiten rechte Mordaufrufe gegen die Vorsitzende einer Partei-Jugendorganisation derzeit mit moralisierendem Einerseits/Andererseits-Aufrechnen.

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»Spiegel«-Zentrale in Hamburg: Auch das »Stumgeschütz der Demokratie« wirkt an der Vorverurteilung einer mit Mord bedrohten Zwanzigjährigen mit

Was ist eine Mordwaffe schon gegen den Tweet einer 14jährigen? Der aktuell veröffentlichten bürgerlichen Berichterstattung zufolge sind Mordwaffen – beziehungsweise ihre Vorform in Form viral gehender Mordaufrufe – zwar keine geeigneten Mittel zur Klärung politischer Differenzen. Gleichzeitig wird die mediale Gewaltabstinenzregel auf das Bedenklichste relativiert – mittels der aufgeworfenen Frage, ob Sarah-Lee Heinrich, seit letztem Wochenende Vorsitzende der Grünen Jugend, die derzeit über sie hereinbrechenden Folgen doch nicht irgendwie verdient, zumindest jedoch selbst verschuldet hat. So jedenfalls der tonal zwischen redaktioneller Benimmnoten-Schulkonferenz und schlecht verbrämter Häme angesiedelte Tenor bei Welt, tagesschau.de, Tagesspiegel, Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), Spiegel, Berliner Zeitung, RTL News und dem Rest der sich für Moral zuständig erklärenden Großmedien-Landschaft. Die Welt geht in Sachen Heinrich-Jugendsünden gleich zweimal in medias res und offeriert ergänzend einen »Pro und Contra«-Beitrag unter der Frage: »Ist es legitim, der Grünen Sarah-Lee Heinrich alte Tweets vorzuwerfen?« Verfechter der – leider nur Abonnenten zugänglichen – Pro-Position: der auf besonders hohe Tugend-Standards quasi eingeschworene Ex-St.-Pauli-Nachrichten-Redakteur Henryk M. Broder.

Kurzum: Die veröffentlichte Meinung diskutiert gerade, ob und inwieweit laxe Tweets einer sich als links verstehenden Teenagerin aufzurechnen sind gegen die Morddrohungen von Nazis. Nun ist zweckgenau getimetes Moralisieren bürgerlicher Medien nichts Neues – sei es im Sommer, als es hieß, man solle die herzhaften, wenngleich situationstechnisch doch eher unpassenden Lacher eines CDU-Kanzlerkandidaten doch bittesehr nicht überbewerten, sei es, dass über Passagen in einem grünpolitischen Buch-Schnellschuss unbedingt wochenlang parliert werden mußte. Und sicher ist es vollkommen legitim, dass sich die Vierte Gewalt nunmehr den unbedachten Tweets einer Vierzehnjährigen widmet – nur ist es eben nicht nur legitim (im Sinn von: nicht verboten), sondern heuchlerisch und im konkreten Fall fahrlässigerweise faschistischen Mordbanden Legitimation verleihend. Ähnlich wie bereits bei der Sommerkampagne gegen Annelena Baerbock stoßen besonders zwei Dinge unangenehm auf. Zum einen der fast unterwürfige Ton, mit dem Heinrich und ihre Partei die vom Zaun gebrochene Schmutzkampagne parieren. Der zweite Part dieser leitmedialen Massenentgleisung wiegt allerdings schwerer – zumal er einem ähnlichen Muster folgt wie die im Sommer gefahrene Anti-Baerbock-Kampagne: die von allen aufgeführten Medien durchgezogene Informationsvorenthaltung bezüglich dem konkreten Inhalt von Heinrichs seinerzeitigen Teenie-Tweets.

Was genau wird vorenthalten? Im Grunde fast alles. Einerseits wird im Kolportagestil die Information preisgegeben, Heinrich habe ein Hakenkreuz-Pict mit einem herzhaften »Heil« gekontert – sicher nicht souverän in der Art, wie sagen wir mal der Bundespräsident oder auch Sigmar Gabriel reagiert hätten. Auch habe sie – ein weiterer Punkt auf der gemeinsamen Ankreideliste von Leitmedien und AfD-Groupies – in einem Interview etwas von »eklig-deutscher Mehrheitsgesellschaft« gesagt: sicher eine völlig abwegige Einschätzung, die Mordaufrufe in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Gemeinsam ist der selektiven Heinrich-Berichterstattung von Welt, tagesschau.de, Tagesspiegel, RND, Spiegel, Berliner Zeitung und RTL ein weiterer Punkt: Einerseits klagen alle an, dass die rechte Hetzmeute, welche die um ihr Leben fürchtende grüne Jugendvorsitzende zum kurzzeitigen Abtauchen genötigt hat, mit Fake News arbeitet – also mit aus dem Kontext gerissenen Zitat-Versatzstücken. Andererseits reißen Welt, tagesschau.de, Tagesspiegel, RND, Spiegel, Berliner Zeitung und RTL selbst Heinrichs Social-Media-Äußerungen systematisch aus dem Kontext: Der Unterschied dabei ist allein der, dass die Rechten den zeitlichen Kontext unter den Teppich kehren, die bürgerlichen Medien stattdessen den inhaltlichen verschweigen.

Wer – nun erst recht – neugierig wird auf die Verbrechen, die eine 14- oder 16jährige Jugendliche auf dem Kerbholz hat, hat mein vollstes Verständnis. Die gute Nachricht: Konzertierte, zweckgeleitete Medienkampagnen nehmen zwar meist den zu erwartenden schlimmen Gang. An irgendeiner Stelle jedoch – ein Hoch auf die bürgerliche Pressefreiheit – schert ein Organ aus der Reihe. In konkreten Fall ist das ZEIT online. Im Beitrag »Wie die Geier« seziert Autorin Judith Liere nicht nur die verdruckst-heuchlerische Doppelmoral, auf der sich die aktuelle Heinrich-Berichterstattung begründet. Liere informiert zudem, welche Äußerungen in welchem Kontext getätigt wurden. Wer es bereits ahnte (respektive NICHT der Meinung ist, ein grüngesinnter Teenager könne nur der Teufel in Person sein), wird wenigstens hier mit den nötigen Fakten zur »Debatte« ausgestattet. Die summa summarum die sind: die jugendliche Nunmehr-Grünjugend-Bundesvorsitzende hätte vor acht, sechs oder auch fünf Jahren souveräner reagieren können. Mehr als übliche Ausdrucksweise der Marke Schulhof-Antifa war da jedoch nicht.

Nachdem die Fakten nunmehr soweit auf dem Tisch sind, könnte man sich über den eigentlichen Skandal unterhalten: den Totalausfall der bürgerlich-öffentlichrechtlichen Leitmediarie in allen Fällen, wenn Linke betroffen sind oder sich in der bürgerlichen Arena politisch zu Wort melden. Man könnte sagen: Wenn die bürgerliche Gesellschaft schon so perfekt und unvergleichlich ist, wäre es eigentlich ein Leichtes, linke Spinner und Schlarafenland-Utopisten argumentativ zu widerlegen. Allerdings: Wie die Praxis vom Schah-Besuch 1967 bis hin zu den 2021-Kampagnen gegen die grüne Kanzlerkandidatin und das Gespenst RGR zeigen, wurde diese noble Form der Auseinandersetzung bislang eher selten praktiziert. Im Gegenteil: Wenn es gegen links ging, gab es stets zweierlei Wertigkeiten – nicht nur von Argumenten, sondern, wenn es hart auf hart kam, auch von Menschenleben. Anders gesagt: So wie die Hetze von BILD & Co. zum Mord an Benno Ohnesorg führte, führt die relativierende Berichterstattung der heutigen bürgerlichen Medien dazu, dass sich NSU 2.0, rechte Amokläufer wie der von Hanau oder Shitstormer wie im aktuellen Fall in Deutschland so recht wie zu Hause fühlen können.

Faktisch festzuhalten ist an der Stelle so zunächst eines: Es gibt nichts, wofür Sarah-Lee Heinrich sich zu entschuldigen hätte – es sei denn, jugendliche Naivität avanciert neuerdings zum Grund, Entschuldigungen in dreifacher Ausfertigung abzuliefern. Es gibt allerdings noch einen anderen Punkt: die Klosterschülerpensionats-Moral, welche uns die Erbpacht auf den Begriff »Demokratie« für sich reklamierenden Leitmedien im konkreten Fall nahelegen möchten. Sahra-Lee Heinrich hat – mit vierzehn, sechszehn! – Kraftausdrücke verwendet, möglicherweise auch nicht so abgewogen geurteilt, wie es vielleicht angebracht gewesen wäre. Wer daraus die Notwendigkeit einer ernsthaften politischen Entschuldigung ableiten will, kann das tun. Allerdings sollte er oder sie dann zwingend mit derselben moralischen Elle gemessen werden. Gemeint sind an der Stelle nicht nur sich echauffierend in Schale werfende Ex-Redakteure von Zeitschriften, die selbige seinerzeit mit, Pardon, Tittenbildern zugepflastert haben. Ich persönlich möchte gern wissen, ob sich Armin Laschet und Markus Söder NIE – aber auch wirklich: NIE !! – auf dem Schulhof geprügelt haben (falls ja: sofortige Entschuldigung!). Gleichfalls, ob Christian Lindner und Friedrich Merz NIE – aber auch wirklich: NIE !! – an einem Joint gezogen haben (von Merz zumindest gibt es Berichte, dass eventuell doch).

Auch Redakteure privater oder öffentlich-rechtlicher Medienanstalten sollten bei der Etablierung moralisch wünschenswerter Standards keinesfalls außen vor gelassen werden. Wer die Latte derart hoch hängt, dass er vermeint, laxe Sprüche mit Mordabsichten gegenrechnen zu können, gehört auf denselben unerbittlichen Prüfstand. Einen guten Anfang machen könnte da etwa Ex-Spiegel-Anchorman Stefan Aust, der in seiner Autobiografie (Seite 422 ff.) in etwas verklausulierter, ansonsten jedoch recht selbstgefälliger Form beschreibt, wie er sich in Honduras einen Fliegerplatz mit der Pistole freiräumen ließ, um rechtzeitig auf einer Redaktionskonferenz in Hamburg anzukommen. (Moralische Kompass-Hilfestellung: Aust war zu jenem Zeitpunkt bereits älter als sechzehn.)

Interessant bei dem Ganzen ist schließlich der politische Background. Eine deutlich links stehende Jugendorganisations-Vorsitzende dürfte im Anblick der ins Haus stehenden Ampel-Koalition eher ein Ärgernis sein. Zumindest für die Besitzstandswahrer, deren mediale Vertreter derzeit vor allem Christian Lindner und seine FDP hypen. Letzten Endes dürfte der aufgebauschte Skandal so einem ganz handfesten, praktischen Ziel dienen: Hermann aus ihrem Posten als Vorsitzende der Grünen Jugend herauszukicken. Dass bei der Kampagne gegen Heinrich das rechte Wutbürgertum in einer bislang so nicht gekannten Weise hofiert und somit legitimiert wird, lässt sich mit einem Begriff beziehungsweise einem alten Bonmot gut auf den Punkt bringen: Kollateralschaden, und: Wo gehobelt wird, da fallen eben Späne.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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