Ukraine-Konflikt – Infos dringend gesucht

Vierte Gewalt. Seit Anfang Mai ist die Ukraine-Berichterstattung in den Funkstille-Modus umgeschlagen. Doch es gibt Abhilfe: russische Medien etwa, oder »Vice News«. Ein Überblick.

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28. April 2014: Volksmiliz und prorussische Zivilisten vor einem besetzten Gebäude in Kostjantyniwka. Foto: PositiveSky. Quelle: Wikipedia / Wikimedia Commons. Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported.

Die Berichterstattung ist umgeschlagen. Bis Anfang Mai war der Ukraine-Konflikt in allen Medien präsent. Die Berichterstattung war einerseits zwar einseitig auf die prowestlichen Akteure fokussiert, von der Menge her allerdings geradezu extensiv. Mit dem Wonnemonat kam die Funkstille. Derzeitige Lage an der Nachrichten-Front: Infos spärlich und nur noch zu punktuellen Anlässen; inhaltlich kapriziert fast ausschließlich auf die Sphäre diplomatischer Zusammenkünfte und Verlautbarungen. Ausnahmen gab es im Wesentlichen zwei: a) die (im Tenor wie zu erwarten negativ gestimmte, kritische) Berichterstattung über das umstrittene Referendum in den östlichen Separatisten-Hochburgen am 11. Mai, b) entsprechend positiv getönt, diejenige über die Präsidentschaftswahlen vierzehn Tage darauf. Grosses Loch hingegen: der aktuell stattfindende Krieg.

Die Frage, ob der Berichterstattungs-GAU in Sachen Odessa Auslöser war oder bereits Bestandteil der derzeitigen Nachrichten-Zurückhaltung, ist müßig; valide beantworten kann (oder will) sie derzeit niemand. Fakt allerdings ist: Nach der Nachrichtenüberflutung hat sich Nachrichtenleere eingestellt. Der – von der westlichen Politik wesentlich mitverursachte – Bürgerkrieg in den östlichen Regionen der Ukraine ist fast völlig vom hiesigen Radar verschwunden. Ebenso die Lage in den ebenfalls stark russlandaffinen Schwarzmeerregionen im Süden oder, generell, die aktuelle Situation im Land. Da der Konflikt weiterschwelt und auch eine neuerliche Eskalation keineswegs auszuschließen ist, lautet die gute Frage: Wo informiert man sich? Konkret: Wo finden sich Nachrichten, News, Hintergrundberichte, Reportagen und Artikel zur Lage in der Ostukraine, zum aktuellen Bürgerkrieg? Zur laufenden Militäroperation, zu involvierten Milizen, zur Situation von Zivilbevölkerung und Kriegsflüchtlingen? Wo werden offizielle Versionen noch hinterfragt? Ein Job ist in Deutschland derzeit deutlich vakant – die vielzitierte vierte Gewalt. Wer nimmt ihn ein, zumindest provisorisch? Die Antwort: russische Medien, ein investigatives US-amerikanisches Onlinemagazin und, wie zu erwarten – weitere Quellen aus dem großen World Wide Web.

Russische Medien: RT, RIA Novosti & Co.

Die Sprach- beziehungsweise Schriftgrenze ist im Ukraine-Konflikt leider auch eine Infogrenze. Selbst Googles Online-Übersetzungshilfe kann da nur allergröbste Lücken schließen. Negativ aus wirkte sich diese Barriere bereits im Hinblick auf die kritische Aufarbeitung der Katastrophe von Odessa am 2. Mai. Auch die deutschsprachige Blogosphäre bot in Sachen Odessa erst mehr Vermutungen und Gerüchte als gesicherte Infos. Allerdings änderte sich das schnell. Grund: die russischen Medien, die den Ereignissen ausführlichen Platz einräumten. Als wichtiger, auch im Ausland nutzbarer Informationsservice kristallisierten sich in der Situation die Breaking News von RT (vormals: Russia Today) heraus. Sicher sind Informationen aus russischen Quellen ebenfalls »gefärbt«, einseitig. Angesichts der Totschweigetaktik der hiesigen Medien lieferte RT – insbesondere das englischsprachige Programm – allerdings einen wertvollen Konterpart. Zahlreiche Clips und Sendungsausschnitte stehen zwischenzeitlich im Netz, etwa bei YouTube. Beispielsweise dieser Film, welcher die Aufmunitionierung proukrainischer Demonstranten im Vorfeld der Brandschatzung des Gewerkschaftshauses zeigt, oder dieser, welcher das Sich-Hochschaukeln der Gewalt dokumentiert.

Zwischenzeitlich ist die Katastophe von Odessa (hier ein weiterer Film von o1.ua über den Sturm auf das Gewerkschaftshaus) – auch dank weiterer russischer Medien – gut dokumentiert. Wie sieht es mit dem aktuellen Bürgerkrieg in der Ostukraine aus, respektive den beiden Volksrepubliken von Donezk und Slawiansk aka Neurussland? Alternative Infos liefert hier beispielsweise die deutschsprachige Website von RIA Novosti. Die staatliche bzw. staatsgelenkte russische Nachrichtenagentur bietet nicht nur einen brauchbaren Allgemeinnachrichten-Mix aus russischer Blickwarte, sondern auch Ticker-News und Artikel zum aktuellen Stand der Kämpfe. Meldung Pfingstsonntag, 8. Juni: Raketenwerferbeschuss auf Slawiansk, die östliche der beiden Separatistenhochburgen. Die Berichterstattung beschränkt sich nicht auf die Kämpfe allein. Allzu schönfärberische Propaganda westlicher oder ukrainischer Medien konterkarriert die Nachrichtendienst-Site mit alternativen Berichten – beispielsweise über die Festsetzung russischer Journalisten durch den ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU.

Als ergänzendes Medium aufzuführen wäre schließlich noch radio Stimme Russlands – Russlands Version der Deutschen Welle und seit 2013 zusammengeschlossen mit RIA Novosti. Die deutschsprachige Webseite des Senders liefert einen etwas breiteren Medienmix als die naturgemäß trockener daherkommende Nachrichtenagentur. Kurzmeldung, ebenfalls von Pfingstsonntag, 8. Juni: die Zahl der Flüchtlinge aus der Ostukraine ist mitterweile bei 10.000 angelangt. Ein grundsätzlicher Nachteil der aufgeführten russischen Medien ist, dass Hintergrundberichte jenseits tagesaktueller Ereignisse stark zu kurz kommen. Frage: Was gibt es noch? Eine Alternative – der 180°-Schwenk zum, wenn man so will, Klassenfeind. Leben, Sterben, Livebilder, echtes Pathos und echter Krieg? Willkommen bei der Vorort-Berichterstattung von Vice News – einrm zukunftsträchtigen Format, von dem man sicher noch einiges hören wird.

US-Medien: Vice, HBO & Co.

Bis in den Mai hinein garantierten die deutschsprachigen Medien zwar eine gewisse informelle Grundversorgung. Abgesehen von der vielfach kritisierten Einseitigkeit zeigen diese jedoch einen stark gefilterten und entsprechend »flachen« Blick auf das Geschehen. Vor-Ort-Bilder sind in der Regel statisch und pseudo-objektiviert; oftmals erfolgt die Info nicht vom Ort des Geschehens, sondern aus der sicheren Distanz von TV-Studios oder Hotels. Sicher auch eine Frage von Stil, von Konventionen, von Routinen und branchenüblichen Prozederes; der Zuschauer soll Abstand behalten können, nicht zu sehr verschreckt oder verstört werden. Es geht auch anders. Dass hiesige TV-Bilder lediglich einen vagen Abklatsch dokumentieren von dem, was sich tatsächlich ereignet, zeigen die (in der Regel englischsprachigen) Vor-Ort-Features des US-amerikanischen Livestyle-Magazins Vice News – einem Ableger des stark auf Jugendkultur-Themen versierten Vice Magazins.

Krieg & Rock’n’Roll – oder eher: Bilder gegen die Gleichgültigkeit? Sicher – Ästhetik ist immer auch Geschmackssache. Wie auch immer: Die Vice-Reportagen von den Euromaidan-Ereignissen November 2013 bis Februar 2014 setzten in Sachen Dokumentation Maßstäbe. Sie waren anders, berichteten nicht nur, sondern zeigten, wie dieser Volksaufstand schmeckte, sich anfühlte, roch. Live-Korrespondenten mit Schußweste und Helm vor Ort, bewegte (statt statische) Bilder, Tränen, echtes Pathos und viel Hoffnung: Die Vice-Bilder vom Maidan vermitteln – unabhängig davon, wie man die Ereignisse bewertet – ein Bild davon, wie sie in natura aussieht: die Feinmechanik eines Volksaufstands, mitten in Europa. Ein Bild sozusagen über das, worüber wir reden, wenn wir über die Ukraine reden. Features, teils auch vom amerikanischen Kabelsender HBO ausgestrahlt (und, für empfindlichere Gemüter, an der Stelle mit dem Hinweis »Achtung, grafische Darstellungen von Gewalt« versehen): »The Fight for Ukraine: Last Days of the Revolution« (ein 26minütiger Zusammenschnitt über die dramatischen Auseinandersetzungen Mitte Februar). Zwei weitere Berichte mit viel Live-Statements beleuchten recht gut den Kontrast zwischen dem zivilgesellschaftlichen Impetus vieler Maidan-Demonstranten, der ausgelösten Dynamik und schließlich dem, was am Ende herausgekommen ist: »Ukraine Burning« und »Ukraine Rising« (hier Part 1).

Am Ball blieb Vice auch nach dem Maidan-Ereignissen. Ausbeute unter anderem: 45 meist kürzere Features unter dem Obertitel »Russian Roulette«. »Dispatch Forty-Five« berichtet von den Kämpfen in der Umgebung von Slawiansk Ende Mai. »Dispatch Forty-Four« ist ein Vor-Ort-Feature von den Kämpfen rund um den Flughafen von Donezk. Aufgenommen am gleichen Tag wie »45«, zeigt es, dass in die Kämpfe mittlerweile ein unübersichtliches Gemisch aus Milizen, Hilfskräften und (vermutlich) Söldner unterschiedlichster Couleur involviert ist. Ein Großteil der Videos stammt von dem Dokumentarfilmer und Produzenten Simon Ostrovsky – einem Journalisten, der für seine innovative, teils auch waghalsige Vorgehensweise bekannt ist. Ostrovsky berichtete von unterschiedlichen Schauplätzen (hier ein Bericht aus der Region Slawiansk von Ende April). Durch die Medien ging seine zeitweilige Arretierung durch den Rebellenführer der Region, Wjatscheslaw Ponomarjow im unmittelbaren Anschluss an eine Pressekonferenz, in der Ostrovsky Ponomarjow befragte. Fazit: Einerseits ist die Vice-Berichterstattung sicherlich mit kritischem Auge zu sehen. Andererseits zeigt sie etwas, was momentan nur wenige tun: die Bilder zu einem Konflikt, der – leider – mehr ist als ein abstraktes Kontinuum. Sondern vielmehr Menschen betrifft, die von ihm – auf eine sehr unmittelbare, existenzielle Art – in Mitleidenschaft gezogen werden.

Der Rest

Was gibt es noch? Das grundsätzliche Problem ist durch die erfolgte Info-Auswahl bereits angerissen. Hundert (oder wenigstens zu neunzig) Prozent vertrauenswürdige Berichterstattung aus der Ukraine ist momentan schwer zu haben. Nicht zuletzt hat dies natürlich auch strukturelle Gründe. Genauer gesagt: monetäre. So lange Sender, Zeitungen, Magazine oder Online-Medien nicht entsprechende Prioritäten setzen und in fundiertes Berichterstattungs-Know-How investieren (anstatt die obligatorische Hofberichterstattung oder Kommentierung), wird die Ukraine – ebenso wie jeder andere Konfliktort – letztlich eine terra icognita bleiben. Die Blogsphäre kann solches nur schwer leisten. Es bleiben somit lediglich die gut – oder jedenfalls: besser – Informierten, die, welche thematisch sozusagen am Ball sind. Einer davon ist der Linke-MdB Andrej Hunko. Als Wahlbeobachter verschaffte er sich in der Ukraine selbst ein Bild – und ist, als einer der profiliertesten Linke-Akteure zu diesem Konflikt im Bundestag, speziell von Seiten der Grünen, immer wieder Anfeindungen ausgesetzt. Infotechnisch: Hunkos Webseite und Facebook-Seite sind auch in Sachen Ukraine immer mal wieder für den ein oder anderen Info-Link gut.

Fazit: Einerseits fährt man mit den beschriebenen Info-Alternativen – russischen Medien oder auch Seiten wie Vice – nicht schlecht. Andererseits zeigen diese allerdings auf, wie sensibel, wie angreifbar Gegenöffentlichkeit im Konfliktfall ist. Aktuelles Plus: Obama, Putin, Merkel – alle scheinen derzeit, mehr oder weniger, um Konfliktbeilegung bemüht. Was aber, wenn plötzlich nicht? Wenn es hängt, wirklich eskaliert? Fazit so: Auch soziale Medien – so gut sie funktionieren mögen – bieten letztlich keine Garantie, dass der Informationsfluss immer funktioniert. Russische Medien etwa: Wer sagt, dass sie in einer stark eskalierten Situation nicht geblockt würden? Abschließende Erkenntnis so: Auch die besten Medien liefern letztlich nur Anregungen, Impulse, Input. Die wirkliche Veränderung muß – wie sonst überall auch – im echten Leben erfolgen.

VIERTE GEWALT:

RT

RIA Novosti

Vice News

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Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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