Ukraine: Lustration, Lynchjustiz, Krawalle

Lustration Der rechte Straßenterror in der Ukraine ist seit dem Herbst spürbar angestiegen. Neueste Kampagne: sogenannte Müll-Lustrationen. Das Echo im Westen: Augen zu und durch.

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Aktivisten des Rechten Sektors auf dem Maidan in Kiew, April 2014. Foto: Aimaina Hikari. Quelle: Wikipedia / Wikimedia Commons. Lizenz: Creative Commons – Namensnennung unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert.

Es kann mit einer alltäglichen Straßenszene beginnen. Wie in diesem Video – aufgenommen Anfang September dieses Jahres in Odessa: Ein Mann geht in ein Gebäude, wird am Portal von einer Gruppe Jugendlicher abgepasst. Die Szene wirkt ebenso bedrohlich wie beiläufig. Das Opfer wird von den Tätern zu einer nahegelegenen Bank abgeführt und dort einem »Verhör« unterzogen. Die Täter filmen die Prozedur mit zwei Kameras. Ihr Opfer: Oleg Rudenko. Rudenkos Job – oder Verbrechen, je nach Sichtweise: Er ist Beamter, angestellt bei der Sozialversicherung. Der Vorwurf, belegt durch einige Fotokopien, welche die Jugendlichen ihm vorhalten: Korruption. Das erpresste Straßenverhör ist nur das Vorspiel. Die Dramaturgie steigert sich unvermittelt-rasant wie in einem Action-Film. Die Gruppe drangsaliert Rudenko in Richtung eines nahegelegenen Müllcontainers. Die Täter packen ihn zu mehreren, schmeißen den sich wehrenden Mann schließlich in den Container, verschließen diesen und trommeln – in diesem Fall eher beiläufig – mit der Faust auf den Deckel. Das Ende: Rudenko steigt aus der Mülltonne. Mit trotzigem Gang, sichtlich seine Würde zu wahren versuchend, setzt er seine Besorgungen fort. Die Täter filmen den Abgang bis zu seiner – erneuten – Ankunft bei der Behörde.

»Müll-Lustration« als Volkssport

Was im Fall Rudenko beiläufig wirkt, fast normal, hat sich zu einem neuen Selbstläufer des rechtsnationalistischen Straßenterrors »made in Ukraine« ausgewachsen: sogenannte Müll-Lustrationen. Vermeintliche oder wirkliche Funktionsträger des alten Regimes werden von rechten Aktivisten oder einer aufgeputschten Menge mißhandelt, öffentlich gedemütigt und – fast zwingender Abschluss des Reinigungsrituals – in Müllcontainer gesteckt. Zum Sich-Verstecken sehen die Täter keinen Anlass. Allein bei YouTube sind Dutzende dieser Vorfälle dokumentiert; Russia Today hat – Videoaufzeichnungen können nur schwer lügen – in diesem Beitrag die bekannteren zusammengestellt. Selbst ein Twitter-Hashtag hat die Kampagne zwischenzeitlich hervorgebracht. Menschenhatz in Zeiten des Internets: live gefilmt – eine Stunde später schon online zu sehen.

Manche der dokumentierten Aktionen erscheinen eher unspektakulär – wie etwa die auf den den Volksdeputierten Hrushevskoho, ebenfalls im September (zu sehen in der zweiten Hälfte dieses TV-Features). Bei anderen findet das Reinigungszeremoniell in Form größerer Massenaufläufe statt. Öffentliche Demütigung, rituelle Mißhandlung, maximale Erniedrigung vor laufender Kamera – manche der im folgenden verlinkten Videoszenen sind nur schwer zu ertragen. Etwa in diesem Video einer Müll-Lustration in Dnepropetrovsk, bei der – mittels Überkippen von Holzspan- und Bauschutt-Abfällen sowie Fäkalien – die Erniedrigung bis ins Detail zelebriert wird. Finale der Mißhandlung auch hier: Trommeln beziehungsweise Treten gegen den Müllcontainer; zusätzlich werden (durch Schüsse?) knallende Containererschütterungen ausgelöst, als der mit Bauzement überdeckte Mann versucht, den Container zu verlassen. Im zweiten Teil dieser Lustrationsaktion wird eine Frau (möglicherweise die Ehefrau des ersten Opfers, oder auch eine Kollegin) abgeführt und in den Müllcontainer verfrachtet. Eine weitere Frau, die sich für die erste einsetzt, bleibt verschont, wird von der Menge lediglich abgedrängt. Nach der Prozedur kommt der finale Triumph. Der Mob verfolgt – und filmt – seine mit Unrat bedeckten Opfer noch bis zu ihrem Wagen.

Ebenso wie tagsüber kann es auch nachts passieren – etwa dem unabhängigen Volksdeputierten Viktor Pilishin in Kiew am 26. September. Im Video dieser besonders brutal verlaufenden Müll-Lustration wird Pilishin nicht nur in einen Container voller Flaschen, Fäkalien und Fast-Food-Straßenabfall gesteckt. Gesicht und Körper zeigen deutliche Spuren von Schlägen sowie sonstigen körperlichen Malträtierungen. Am Ende kann sich Pilishin in Richtung einer hinzustoßenden Polizeistreife retten. Anzeige, Festnahme der Täter eventuell? Eine vergebliche Hoffnung. Die Polizei versucht – immerhin, ist man versucht zu sagen – zu schlichten, zu deeskalieren. Ein normaler Vorfall. Besser: Ausdruck einer neuen ukrainischen »Normalität«. In der der rechte Straßenterror mehr und mehr den Takt angibt – die Richtung, in die sich die ukrainische Gesellschaft entwickelt.

Unpolitische Aktionen, lediglich Frustrationsventil einer bürgerkriegsgeplagten Gesellschaft? Keinesfalls. Die Kampagne hat System und Richtung. Zu sehen beispielsweise anlässlich der – mit Ausschreitungen sowie physischen Attacken auf Polizeikräfte und Bürger einhergegangenen – Belagerung des ukrainischen Parlaments in Kiew durch militante Aktivisten des Rechten Sektors am 14. Oktober. Dokumentiert sind ist Rabiat-Aufmarsch der ukrainischen Rechtsextremen in diesem TV-Feature. »Highlights«: ein vermummter rechter Aktivist, der mit einem an eine Fahrradkette gebundenen, Morgenstern-ähnlichen Gegenstand auf Polizisten eindrischt. Zusätzliches Druckmittel der vermummten und/oder gleich im Militärlook aufgelaufenen Prawyj-Sektor-Aktivisten: angespitzte Holzspieße, welche der Polizeikette entgegengehalten werden. Anlass der Demonstration: die Forderung, die ukrainischen SS-Verbände aus dem Zweiten Weltkrieg als Patrioten anzuerkennen. Eine weitere Forderung, im Hintergrund deutlich zu hören: Lu-stra-ti-a, Lu-stra-ti-a! Kurz, knackig; die neue Losung der nationalistischen Ultras.

Das neue Lustrationsgesetz

Hintergrund der handgreiflichen rechten Müllcontainer-Kampagne ist das neue ukrainische Lustrationsgesetz. Wikipedia zufolge bedeutet Lustration die Entfernung politisch belasteter Anhänger eines alten Regimes aus dem öffentlichen Dienst – je nach Sichtweise also eine rituell vollzogene, als »Neuanfang« konzipierte politische »Reinigung«, wie sie schon die alten Römer kannten, oder aber eine knallharte politische Säuberung – Berufsverbot und existenzieller Ruin inklusive. Bezugnehmend auf entsprechende Gesetze in den ehemaligen Ostblockstaaten, war bereits während des Maidan-Umsturzes die Forderung nach Lustration aufgetaucht. Konkretes Anliegen: Die »neue« ukrainische Demokratie sollte von belasteten sowie sonstwie fragwürdigen Parteigängern des alten Janukowitsch-Systems »gereinigt« werden. Nach dem Umsturz formierten sich die – teils dem Bürgerrechts-Flügel der Maidan-Bewegung entstammenden – Lustrationsbefürworter in unterschiedlichen Initiativen, Plattformen und Parteien. Beispiel: die Charkiver Menschenrechtsgruppe, die auch ein entsprechendes Positionspapier verfasste.

War die Janukowitsch-Regierung nicht demokratisch gewählt? Spielt keine Rolle mehr. Das neue Lustrationsgesetz, welches seit dem 16. Oktober Gültigkeit hat, wurde noch im September, also vor den Parlamentswahlen, verabschiedet. Im Unterschied etwa zu den Neunziger-Jahre-Vorbildern in ehemaligen Ostblockländern oder auch dem – öffentliche Anprangerung vermeidenden und darüber hinaus lediglich in Ansätzen durchgesetzten – Lustrationsgesetz der orangenen Vor-Vorgängerregierung Jutschenko sind vom neuen Gesetz potenziell bis zu einer Million (!!) Menschen betroffen – also jeder 50. Bürger der Ukraine. Mit Ausschluss aus dem öffentlichen Dienst sind nicht nur hohe Regierungs-Funktionsträger der Regierung Janukowitsch bedroht, Mitglieder der Partei der Regionen oder der Kommunistischen Partei der Ukraine. Mit Berufsverbot bis zu zehn Jahren müssen auch einfache Beamte rechnen.

Besonders umstritten, da den Kreis der Lustrationsbetroffenen extrem ausweitend: die Einbeziehung aller Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die während der Maidan-Erhebung November 2013 bis Februar 2014 weiterhin ihrer Arbeit (!!) nachgegangen sind. Für Unmut sorgen darüber hinaus auch die Persilscheine in Bezug auf die eigene politische Vergangenheit. Die hat sich die stramm nationalukrainisch orientierte Parlamentsmehrheit vorsorglich mit in die neue Gesetzgebung mit eingebaut: Explizit nicht unter das Lustrationsgesetz fallen nämlich Mandatsträger der unterschiedlichen Parteien. Darüber hinaus sind auch politische Ablasshändel möglich: Entziehen kann man sich einer Lustration etwa durch »freiwilligen« Dienst am Vaterland – beispielsweise als Soldat an der ostukrainischen Front. Fazit in Kurzform: Das verabschiedete Gesetz ist unverhältnismäßig, in der Anwendung selektiv, bürgerrechtlich verheerend, politisch kurzsichtig und in der Auswirkung spaltend statt versöhnend. Grund zur Freude haben lediglich die rechten Aktivisten.

Trotz der vom Rechten Sektor angetriebenen Kampagne ist das Lustrationsgesetz auch in der Ukraine selbst eine hochumstrittene, polarisierende Angelegenheit. Zahlreiche Staatsbedienstete gaben bereits an, notfalls Klagen anzustrengen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der ukrainische Generalstaatsanwalt Witalij Jarema charakterisierte das neue Gesetz schlicht als verfassungswidrig. Auch mit der EU könnte Ärger ins Haus stehen. Die Venedig-Kommission bemäkelte die Umsetzung als mangelhaft und mahnte Nachbesserungen an. Kritik kommt auch von ukrainischen sowie internationalen Bürgerrechtlern. Der Journalist Sergej Dus etwa kritisierte das Vorhaben bereits im August als völlig unverhältnismäßig und fehlgeleitet. In der Summe stelle es eine Maßnahme dar, die das sowieso gespaltene Land nicht eine, sondern noch weiter Zwietracht und Hass säe. Darüber hinaus charakterisierte er das Gesetz als typische Maßnahme einer politischen Säuberung. Dus’ Prognose: »Die politische Führung wird beginnen für sich eine Ausnahme nach der anderen zu machen, um Probleme zu vermeiden. Die Lustration wird sich im Ergebnis in ein Instrument des Drucks auf die politischen Konkurrenten verwandeln.«

Regierung unter Druck der Rechten

Ein Argument der Gesetzesbefürworter: Man stehe unter dem Druck der Straße. Das neue Gesetz sei lediglich ein Ventil, um die um sich greifenden »wilden« Lustrationen zu beenden. Allerdings zeigt bereits die Kampagnen-Chronologie, dass die Argumentation nicht stimmt. Übergriffe hatte es zwar auch bereits direkt nach der Maidan-Machtübernahme gegeben. Bekanntestes Beispiel: die mitgefilmte Mißhandlung eines TV-Direktors durch Parlamentsangehörige der Swoboda-Partei. Die Lustrationskampagne allerdings bekam erst im September und Oktober richtig Drive. Die zeitliche Kausalwirkung läßt sich dabei eindeutig herstellen. Die »wilden« Aktionen erfolgten erst kurz vor sowie nach der Gesetzesverabschiedung – zu einem Zeitpunkt also, als klar war, dass ein entsprechendes Gesetz kommen würde. Ob man letzteres als Maßnahme auslegt, um Schlimmeres zu verhindern oder aber als Nährboden, auf dem der Lynchjustiz-Furor erst richtig gedeihen konnte, ist letztlich müßig. Im ersten Fall hat die Regierung von Jazenjuk und Poroschenko dem aufgebauten Straßendruck von Prawyj Sektor, Swoboda & Co. bereitwillig nachgegeben, im zweiten Fall diesem – kalkuliert oder fahrlässig – den Boden bereitet.

Dass der Druck der Rechtsradikalen auf die rechtsneoliberal-oligarchengeprägte Regierung stärker wird, zeigt nicht nur der anhaltende Bürgerkriegs im Osten des Landes. Angesichts einer versuchten Bürgermeister-Absetzung in Poroschenkos Heimatstadt Vinnytsia charakterisierte das Online-Magazin Telepolis die Situation bereits als einen zweiten Maidan – ein Maidan, der diesmal allerdings unter klar rechten Vorzeichen stehe. Das Muster, unter dem sich der wachsende Druck der Rechtsextremen aufbaut, ist stets das Gleiche: Absetzung demokratisch gewählter Entscheidungsträger – notfalls mit rabiaten, handgreiflichen Methoden, Kanalisation des Volkszorns, der Vorwurf, nicht patriotisch, »ukrainisch« genug zu sein, der Vorwurf des Verrats. Auch Friedensbefürworter und Menschenrechtler sind längst nicht mehr sicher. Beispiele: die Drangsalierung von zwei Friedensaktivistinnen, die in Kiew eine Friedenskundgebung organisiert haben, oder – hier im Bild – die Tumulte in Vinnytsia vor einigen Wochen.

Dass die Amalgamierung von konservativer Regierung und den offen faschistischen Milizen, Parteien und Gruppierungen in geradezu rasantem Ausmaß voranschreitet, zeigt nicht nur der Einfluss von letzteren auf die kämpfenden Truppen der Nationalgarde im Osten des Landes. Markantestes Beispiel für den zunehmenden Interessengleichklang zwischen Rechtskonservativen und Rechtsradikalen war die Beförderung eines Kommandeurs des berüchtigten rechtsextremen Asow-Bataillons zum Polizeichef der Oblast Kiew Anfang November. Den Posten zugeschanzt hatte Innenministers Arsen Awakow – ein Parteigänger von Jazenjuks und Timoschenkos Vaterlandspartei. Ein Vorfall, der selbst von Welt und F.A.Z. als derart gravierend eingeschätzt wurde, dass – sonst bekanntlich eher die Ausnahme – eine kritische Berichterstattung erfolgte.

Deutsches Schweigen oder: Von der Mülltrennung zur Müll-Lustration?

Liest man von diesen Vorfällen in deutschen Leitmedien? Ist das Abgleiten der – angeblich – demokratischen, westlich orientierten Ukraine in Zustände wie zu Vietnamkriegszeiten ein Thema im Spiegel, in der Zeit oder der FAZ? Werden die ARD-Zuschauer informiert über Lynchjustiz, Übergriffe, rechte Krawalle oder die schlimmste Säuberungskampagne in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges? Die wahre Antwort lautet nach wie vor: Eher friert die Hölle zu. Ob Spiegel, Zeit, Welt, BILD oder ihre Kollegen von ARD und ZDF: Unbeleckt von Zuschauerkritik wie auch der (bekanntlich nur via Leak an die Öffentlichkeit gelangte) Kritik des Rundfunkrats setzen die deutschen Leitmedien ihre einseitige Ukraine-Berichterstattung fort, als sei nichts geschehen. Altes wie neues Motto: Berichtet wird lediglich das, was politisch opportun ist. Lediglich Zeit Online (also eine dem Online-Bereich des Freitag vergleichbare Plattform für redaktionsunabhängige Beiträge) lieferte in Form eines kritischen Berichtes von Simone Brunner einen Gegenpunkt zur allseitig praktizierten Vertuschungs-Berichterstattung.

Nichtsdestotrotz gibt es Bewegungen im Detail. Neben unabhängigen Journalisten wie dem ND-Autor Kai Ehlers warteten auch Portale mit nicht-mainstreamhaften Ukraine-Infos – wie etwa Ukraine Crisis und Ukraine-Nachrichten – mit kritischen Berichten auf. Innerhalb der bislang vorwiegend maidanfreundlichen Szene der Osteuropa-NGOs subsummiert sich anscheinend mehr und mehr Frustration über das Fortschreiten der ukrainischen Entwicklung. Selbst die – in Sachen Pro-Maidan bislang durch ihre fast bedingungslose Unterstützung aufgefallene – Heinrich-Böll-Stiftung wartet aktuell mit einem deutlich lustrationskritischen Beitrag auf. Autor: Andreas Stein, Betreiber des unabhängigen Ukraine-Portals Ukraine-Nachrichten. Stein kommt zwar zu einem insgesamt differenzierten Bild der Kampagne. Ähnlich wie Sergej Dus wertet allerdings auch er das Gesetz als stark überzogen und die Gesetzgeber mit in das verstrickt, was sie vorgeblich bekämpfen wollen.

Setzt sich die Böll-Stiftung partiell ab von ihrer kritiklosen Unterstützung des aktuellen Regimes? Oder sind die massiven Menschenrechtsverletzungen für eine Stiftung, die sich – zumindest nominell – den Menschenrechten verpflichtet sieht, einfach nicht mehr tragbar? Letztlich ist die Frage müßig. Betrachtet man die massive Präsenz von »Böll’ern« an dem gegen »Aufruf der 60« und »Friedenswinter« lancierten Gegenaufruf, kann das – nunmehr im eigenen Bürgerrechts-Milieu aufkommende – Unbehagen keine anderen Folgen haben, als dass die Stiftungsoffiziellen ihre sich an den extremeren Positionen von EU und NATO entlanghangelnde Nibelungentreue einer Praxisrevision unterziehen. Geschieht dies nicht, wäre auch die Grünen-Stiftung in Sachen Glaubwürdigkeit restlos verbrannt – für eine Institution, die wissenschaftliche Objektivität sowie eine gewisse Distanz zum Tagesgeschäft für sich reklamiert, der denkbar größte GAU.

Der Weg dahin dürfte allerdings kein leichter werden. In Sachen Ukraine-Konflikt nämlich hat sich die Grüne Partei zwischenzeitlich in eine Position hereinmanövriert, die in vielerlei Hinsicht dem Revanchismus der Vertriebenenverbände in den Sechziger und Siebziger-Jahren ähnelt. Ob Bundestagsdebatte zur Ukraine-Krise oder markige Statements in Talkshows: In Sachen Russland präsentiert sich die Ökopartei zwischenzeitlich als die eskalationsfreudigste Stahlhelm-Truppe der deutschen Parteienlandschaft – AfD inklusive. Einer der entschiedensten Anti-Russland-Propagandisten ist der grüne EU-Parlamentsabgeordnete Werner Schulz. Nach heftigen Angriffen auf Dietmar Bartsch im Anti-Linkspartei-in-Thüringen-Lustrationstalk von Maybritt Illner am 23. Oktober (Videoaufzeichnung bei YouTube; ab ungefähr Minute 12:00) leugnete Schulz erneut auf das Entschiedenste die Beteiligung faschistischer Kräfte. Schulz auf einen entsprechenden Hinweis von Bartsch – so tuend, als habe Bartsch mit der Erwähnung von Faschisten einen schlimmen Faux-Pas begangen: »Oi joi joi joi …« Nach einer weiteren Bekräftigung seiner Verharmlosung (»Die letzten waren dort vor fünfzig Jahren zu sehen») und einem Hinweis seitens Bartsch auf die Joseph-Goebbels-Schule der Swoboda-Partei: »Ja, ja, ja, ja. Das sind vielleicht Nationalisten, und das ist schlimm genug. Aber Faschisten?«

Auch abseits der besonders ostexpansionsfreudigen EU-Parlamentarierriege – auf der Grünen Bundesdelegiertenkonferenz im November – waren Swoboda und Rechter Sektor kein Thema. Ebenso wenig das Verfrachten von Menschen in Müllcontainer. Der Jung-Grüne Johannes Steen hielt – gewandet in den rebellisch-unangepassten Look antideutscher Antifas – eine von fuchtelnden Armbewegungen unterstrichene Anti-Putin-Suada. Rebecca Harms, bekannt als eine der flammendsten Befürworterinnen des aktuellen Maidan-Regimes – zog mit einer beschörenden »Wir dürfen jetzt nicht nachgeben«-Rede nach. Die aktuelle Menschenrechtslage in der Ukraine, die Machenschaften des Rechten Sektors? Die laufende Lustrationskampagne sowie das zeitgleich verabschiedete Gesetz? Kurzum – der demokratische Gehalt von dem, für das man sich so enerviert einsetzt? Für Harms, Steen und den Rest der anwesenden Parteipromi-Riege offensichtlich Themen, die beim Systemwechsel in der Ukraine sowie der damit verbundenen EU-Hinterhoferweiterung nur unnötig stören.

Wer Harms Engagement in Sachen Maidan näher kennt, wird sich vielleicht an einen Artikel von ihr zurückerinnern. In einem tagebuchförmigen Reisebericht vom Juli dieses Jahres beschreibt Harms nicht nur zahlreiche Treffen mit kleinen und großen Entscheidungsträgern. In dem subjektivierenden, stark mit Pathos aufgeladenen Bericht findet sich auch ein Absatz über ein Treffen mit Initiativen für ein Lustrationsgesetz (!) sowie Vertretern der Kleinpartei Wolja, die ein solches ebenfalls propagiert. Harms Eindruck von einem ihrer Wolja-Gesprächspartner, Zitat: »Er ist inzwischen in der Regierung Jazenjuk Beauftragter für Lustration. Er hat meine Appelle, dass man nicht nur kritisieren kann, sondern auch Verantwortung übernehmen müsse, sehr ernst genommen.«

Harms in einem weiteren Abschnitt zu einer Konferenz von einschlägig aktiven Bürgerrechtsaktivisten in Charkiv: »Unter den Delegierten bei diesem Treffen ist unstrittig, dass es ohne Lustration, Aufklärung und Transparenz keine wirkliche Reform, Korruptionsbekämpfung oder Bürgernähe in der öffentlichen Verwaltung geben kann. Es werden verschiedene Modelle diskutiert, die ich nicht alle verstehe. Es gibt Vorschläge für individuelle und präventive Lustration. Es gibt freiwillige Lustration. Und wenn alles nichts helfe, werde auch die Reifenlustration empfohlen. Alte Reifen würden dann vor dem Haus der belasteten Person abgeladen. Man wolle gegen eine befürchtete dauerhafte Blockade der Lustration durch Kiew jetzt regionale Regeln durchsetzen, von unten nach oben. Die Initiativen wollen Ergebnisse regionaler und lokaler Lustrationsverfahren zwischen Städten und Regionen austauschen. Es müsse verhindert werden, dass ein Bewerber für ein öffentliches Amt, der in einer Stadt scheitere in einer anderen wieder auftauche. Kein Karussell mehr, heiße die Devise.«

Um eine eigene Bewertung gefragt, gibt sich die grüne EU-Parlamentarierin diplomatisch. Harms’ Resummée – vielleicht hat sich seit dem Sommer dieses Jahres da ja einiges getan: »Um eine Bewertung gefragt, empfehle ich, Erfahrungen aus anderen Ländern zu prüfen. Und ich warne vor Selbstjustiz. Dagegen hilft allerdings am besten ein landesweites Gesetz, das auch die Zustimmung bei den Bürgern in allen Regionen findet.«

Eine Antwort, die die Opfer des rechten Terrors in der Ukraine sicher trösten wird. Und in einem Deutschland, dass sich zwischenzeitlich selbst an den Rand einer McCarthy-artigen Hysterie manövriert hat, sicher nicht stört.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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