Hier ist sie, meine Meinung!

Ukrainekrieg / dF(C) Der »Freitag« eruiert via Umfrage die werte Meinung der Leser(innen) zum Ukrainekrieg. Als Ex-Communarde will ich mich da nicht lumpen lassen.

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Über Zietz-Artikeln ist gemeinhin immer ein Bild. So auch hier. Auslegen kann es sich jede(r), wie er oder sie will.

Meine Meinung zum Ukrainekrieg ist nicht allzu kompliziert. Grob lautet sie: Alles, was dazu dient, die russische Armee aus den von ihr überfallenen Territorien wieder hinauszugeleiten, kann per se nicht verkehrt sein. Eingebaut aus gegebenem Anlass der Disclaimer, dass dabei ausnahmsweise mal nicht ausschließlich deutsche Befindlichkeiten im Vordergrund stehen, sondern vielmehr die existenziellen Nöte der durch Putins Krieg Drangsalierten. Sicher, Sicherheitsinteressen gilt es dabei ebenfalls mit abzuwägen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des atomaren Klaviersonaten-Programms, welches der Kreml-Diktator und seine Kamarilla auf routinierte Weise abspielen. Meinungen kann man viele haben; verantwortungsethisch gesehen erscheinen mir derzeit zwei Positionen, die in der (deutschen) Gesellschaft derzeit mit ungefähr hälftigem Stimmungsanteil diskutiert werden, gleichermaßen mit Stringenz behaftet und daher eine brauchbare Diskussionsbasis abgebend:

– der Aufruf von Schwarzer & Co. deswegen, weil Kriegsbeteiligung – auch solche indirekter Natur – kein Pappenstiel ist und die Folgen der getroffenen Maßnahmen auf unterschiedliche Weise zurückschlagen können,

– der von Fücks & Co.: weil seit Februar absehbar ist, dass die russischen Imperialgelüste mehr oder weniger auf den gesamten Kontinent abzielen und die nächsten von Putin voraussichtlich aufgemachten Fässer bereits jetzt klar erkennbar sind. Stichworte, die Aufzählung ist unvollständig: Transnistrien, Baltikum sowie die durch die autoritären trojanischen Pferde Türkei und Ungarn angezettelten Verwerfungen im westlichen Binnengebäude.

Im Rahmen dieses Szenarios – bei dem es bei allem anderen auch darum geht, die deutsche Gesellschaft halbwegs zusammenzuhalten und last but not least zu verhindern, dass die Wirtschaft in schwere, nicht mehr wirklich verkraftbare Turbulenzen gerät – finde ich die vom Bundeskanzler verfolgte Linie der vorsichtigen, möglichst risikodosierten Ukraine-Unterstützung realitäts-like und im Großen und Ganzen angemessen. Man kann da sicher anderer Meinung sein und mit guten Gründen ein »zu viel« oder auch ein »zu wenig« konstatieren. Allerdings: Verglichen mit dem Whataboutismus, welcher von rechts bis »klassisch-links« in fast buchstabengleicher Eintracht zum Vortrag gebracht wird (zugegeben: bei den einen mit mehr Bismarck als bei den anderen), fallen die – derzeit etwa fifty–fifty verlaufenden – Meinungsdifferenzen in der bundesdeutschen Realwelt nachgerade gesittet aus: Welzer liest Melnyk bei Will die Leviten, Wagenknecht geht mit großer Wertschätzung des Moderators aus dem Lanz-Talk und Yücel – nunja, Diven gab es zu allen Zeiten.

Übergreifend ließen sich in dem ganzen Szenario eine Reihe höchst diskutierenswerter Nebenaspekte ausmachen: der Kollateralschaden an Meinungsfreiheit etwa, der – eher unter dem großen Aufmerksamkeitsradar verlaufend – als neudeutsche Unduldsamkeit immer mehr zu landestypischem Lifestyle wird. Mit Gewinn diskutieren ließe sich auch die zunehmende faschistische Gefahr: der Umstand, dass die von Le Pen, Erdogan, Modi, Orban, Bolsonaro und Trump angeführte Allianz der Autoritären die freiheitliche Substanz der westlichen Demokratien zunehmend in den Schwitzkasten nimmt. Diskutieren ließe sich über Appeasement, einen neuen Churchill, vielleicht einen neuen Léon Blum. Last but not least schließlich auch darüber, dass ein Teil der noch verbliebenen Linken auf ausdrucksstarke Weise unter Beweis stellt, dass seit 1930 – also der Hochphase des ultralinken Abschnitts der deutschen KP – kein neuer Gedanke mehr diese Behausung durchlüftet hat. Etwa, wenn in dF-Kommentarform vor allem der Verbalradikalismus der damaligen Komintern – selbstverfreilich als Argumentationshilfe im Sinn von Putins Angriffskrieg – in Stellung gebracht wird: »Der Faschismus an der Macht, Genossen, ist ... die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.«

Obwohl bei besagter Zitatgabe sicher die Leninbüste auf der Vitrine gewackelt hat: Verglichen mit Internetkommentar-schreibenden deutschen Friedensfreunden war selbst der »Worschd« auf geradezu ketzerische Weise einsichtig. Als Dimitroff Stalin ins Gesicht sagte, dass die (ultralinke, für den Aufstieg des Hitler-Faschismus nicht unmaßgeblich mitverantwortliche) Theorie vom Sozialfaschismus ein Katastrophengenerator erstrangiger Güte sei, entgegnete dieser nicht: »So, Georgi, dann machen wir dir mal einen Schauprozess», sondern – überraschenderweise – eher sowas wie »Okay, dann mach’ mal«. Heraus kam der wohl ruhmreichste Abschnitt der weltkommunistischen Geschichte: die Phase der breit aufgestellten Volksfronten – ein Ding, dass derartig zum Erfolgsseller geriet, dass der französische KP-Führer Thorez eine Abordnung bremsender Apparatschiks aus Moskau nolens volens aus der Pariser Parteizentrale herauskomplimentierte. Die Volksfronten waren nicht nur wirkungsmächtige Eigenläufer (auch dort, wo sie gegen die faschistische Übermacht unterlagen wie in Spanien). Sie schufen das Prestige und den Massenzulauf, die zu den Resistance-Bewegungen am Ende des Zweiten Weltkriegs und schließlich zu massenhaft verankerten eurokommunistischen Parteien der Nachkriegsära führten.

Die Kontrastierung mit erfolgreicheren Perioden der linken Geschichte ist an der Stelle auch deshalb von Belang, weil für das – sich hauptsächlich durch Linkspartei-Schlagzeilen, Trollen sowie einen in Permanzenz übergriffigen Grundtenor Gehör verschaffende – Milieu der Sowjetnostalgiker, Putinversteher, Verschwörungsapologeten und Freizeit-Machiavellis Faschismus respektive die Gefahr eines solchen ganz offenbar keine Entität ist. So wird zwar in Dauerschleife über angebliche wie wirkliche Untaten des »Wertewestens« geschimpft sowie, im Gegenzug, die im Grunde geradezu unbändige Friedensliebe von Putin-Russland hervorgehoben. Dass letzteres seine innere Opposition brutalstmöglich stranguliert, seit Jahren sämtliche rechtspopulistische Bewegungen im Westen supportet, globusweit Konflikte erst zur Eskalation bringt und im Anschluss »einfriert« und, last but not least, mit der rechtsextremen Wagner-Gruppe sowie der Tschetschenischen Legion Truppenteile in der Ukraine stehen hat, die den teils unterstellten, wenn auch in Ansätzen nicht unproblematischen Faschismus des Asov-Bataillions mühelos toppen – geschenkt. Die Mär, dass der russische Bär lediglich einen »antifaschistisch« zu verstehenden Frühjahrsputz durchführt, wird unentwegt weiter nachgeplappert und verbreitet.

Auch sonst hat es sich dieses Milieu in einer Parallelweit bequem gemacht, die nicht umsonst starke inhaltliche Schnittmengen mit den politisch-gesellschaftlichen Gedankengebäuden der AfD hat. Wenn auch von anderen Ausgangspunkten als die Rechten haben sich Teile der »klassisch-links« oder auch »altlinks« titulierten Milieus in eine Position hineinbegeben, welche die Faktenlage mit ihren Widersprüchen mittlerweile vollständig durch eine widerspruchsbereinigte ideologische Wagenburg ersetzt hat: Nicht Russland hat die Ukraine angegriffen – die Ukraine hat (eigentlich) Russland angegriffen. Nicht Putin respektive sein Militär haben Kriegsverbrechen begangen; in Wirklichkeit waren es die mit dem »Wertewesten« fraternisierenden Ukrainer, die – eine Unverfrorenheit sondergleichen – ihre staatliche Verfasstheit selbst bestimmen wollen. Und die als Wiedergutmachung eigentlich nur noch eines tun können: sich auf Gnade und Ungnade und mit allen Folgen, die da wohl billig sind, den als »antifaschistisch« deklarierten russischen »Befreiern« zu unterwerfen.

Die ständigen Tiraden gegen Werte – anscheinend etwas völlig Verabscheuungswürdiges – nähren nicht nur den Verdacht, dass hier im Grunde dem Nihilismus das Wort geredet wird, also dem Trollen in seiner ursächlichsten, basalsten Bedeutung. Rein praktisch nährt der – teils von der Empörung über Masken und Impfungen bruchlos zu Empörung über wehrhafte Ukrainer(innen) hinübergeswitchte – Sound der hardcore-linken Putin-Versteher eine nicht ganz unbegründete Frage: die nach dem Zeitpunkt, an dem dieses in der Zeitschleife ungefähr anno 1980 steckengebliebene Segment sich offen (vielleicht unter »nationalbolschewistischer« Flagge) in Richtung politische Rechte davonmacht. Meine persönliche Vermutung fällt da leider nicht sonderlich ermutigend aus: meiner Einschätzung nach dürfte als Motivationshilfe für diese Form Seitenwechsel nicht mehr viel mehr vonnöten sein als ein vernünftiges sozialpolitisches Angebot von Herr Höcke. – Soweit meine »Meinung extended«. Leider wäre sie unvollständig, wenn nicht dem thematisch gebührend Raum geboten würde, was Art, tonale Konsistenz und auch Ausmaß dieser Form Putinliebe nicht unmaßgeblich befördert hat: die Entwicklung der freitaglichen Formen der Leser(innen)beteiligung, respektive die von Verlag und dF-Redaktion als »work in progress« durchgeführte Liquidierung eines einst durchaus vorzeigbaren journalistischen Formats.

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Als ich in einem meiner letzten Kommentare anno November 2021 vermerkte, dass die taz weitaus transparenter mit den Widersprüchen in ihrem Online-Kommentarbereich umgeht (Anlass war die Pandemiefrage), dürfte sich die redaktionelle Erfreutheit über meinen Einwand in Grenzen gehalten haben. Sachlich indess war am inhaltlichen Kern meines Hinweises kaum zu rütteln. Unabhängig nämlich davon, wie man das (transparente) Agieren der taz und das (geheimniskrämerische und nach dem »Top-to-Bottom«-Prinzip verfahrende) Gebahren des Freitag bezüglich ihrer jeweiligen Communities bewertet, ist das Faktum nicht wegzuwischen, dass die taz ihre Form der Leserkommunikation (bezüglich Corona) erklärt hat und der Freitag die seinige zu den Modalitäten der Ukrainekrieg-Diskussion eben nicht. Die in der Vorosterwoche einsetzende und bis aktuell durchgezogene Kommentarfunktion-Einschränkungen wurden nicht nur bis heute (!!) mit keinem Ton erklärt. Zumindest ein Redaktionsmitglied kolportierte zu diesem Thema eine Aussage, die nachprüfbar nicht richtig sein kann – es sei denn, man will partout glauben, dass mit der Aussage zur österlichen Unterbesetzung ein bis Ostern 2023 reichendes Brückentage-Intervall gemeint war.

Ungeachtet der – bereits andernorts kritisierten – Tatsache, dass der Freitag seine Foristen wie unmündige Kinder behandelt, habe ich bis heute keine abschließende Meinung zur Teil-Schließung der Kommentarfunktionen. Anders gesagt: Angesichts des tonal sich in der Holzhammer-Liga bewegenden Verschwörungsschwurbels, welcher den On-Freitag seit Beginn der Coronakrise flutet, kann ich ein gewisses Verständnis für redaktionsseitig reißende Geduldsfäden nicht verhehlen. Wenn redaktionelle Autoren – sinnbildlich gesprochen – bereits deswegen Gefahr laufen, als fachlich oder menschlich miese Nummer hingestellt zu werden, weil sie sich eines moderaten Argumentvortrags befleißigen, ist ganz sicher der Wurm drin. Trotz des Umstands, dass Redaktionsbeiträge immer wieder auf eine Weise attackiert werden, wo man als Außenstehender denkt: eigentlich müßten die Attackierer X oder Y die Füße küssen; die formulieren im Grunde nur das, was eigentlich auch deren Anliegen ist, halte ich die Ursachenerklärung »Geduldsfaden-Riss« für nicht rückstandsfrei schlüssig. Nicht nur wegen dem stoischen Schweigen zu den Kommentarfunktion-Schließungen. Sondern auch, weil zwei Freitag-Freie die Ursache partout da verorten möchten, wo in allergrößten Zügen sachbezogen und argumentbasiert diskutiert wird: bei jenem verbliebenen, anzahlstechnisch in einstelliger Größe aufgestellten Forist(inn)en-Fähnlein, das weiterhin gegen die russischen Windmühlen anargumentiert (Belege: hier, hier und gern auch den Gesamtthread im Zusammenhang).

Der Umstand, dass regelmäßige Freitag-Publizist(inn)en sicher keine redaktionell randständige Einzelmeinung vertreten, führt mich persönlich zu einer ganz anderen Hypothese: Ist es eventuell möglich, dass die mit Alternativfakten und persönlichen Schmähungen garnierten Pro-Russland-Kommentare ein renomméetechisch vielleicht etwas peinliches, grundsätzlich jedoch durchaus erwünschtes Community-Resultat sind – quasi als Beweis, dass der vielzitierte Volksmund anders tickt als der politische Mainstream? Oder benötigt die Redaktion die Brachialtöne im Forumsteil, um sich distinguativ ein Mehrwertgefühl zu verschaffen gegenüber einer Community, die sich offensichtlich noch nicht mal auszudrücken in der Lage ist? Beides halte ich nicht für gänzlich ausgeschlossen, möchte an der Stelle allerdings das Metier der Hegelplatz-Astrologie verlassen. Richtig erklärbar sind die augenblicklichen Zustände im freitaglichen »On«-Bereich nur, wenn man den Weg dahin genauer betrachtet. Meiner Meinung nach ist das derzeitige Community-Bild so auch eher Endprodukt eines Prozesses. Einer Entwicklung, die entscheidend damit zu tun hat, dass Redaktion und Verlag dem zarten Pflänzlein »Community« zielstrebig und über Eingriffsetappen, die sich über die kompletten 2010er-Jahre erstrecken, das Wasser abgegraben haben.

Eine Beobachtung aus diesem Prozess ist zumindest von meiner Seite aus erfahrungsgehärtet: (communityseitiges) Engagement wird bestraft, liebedienerisches Anpassen hingegen wird belohnt (wenn auch meist in eher temporärer als beständiger Form). Die Dokumente aus der Anfangszeit sowie dem »Mittelalter« der Freitag-Community, welche dies belegen, sind Legion. Man muß nicht gleich die Messlatte von diesem 2009 entstandenen YT-Werbemovie anlegen. Aus der Zeit 2010 bis 2012 rühren unterschiedlichste Aktivitäten: von Real-Life-Treffen mit Jakob Augstein und Jan Kasper Kosok bis hin zu dFC-Texten wie etwa diesem, diesem, diesem, diesem All-in-all-Bundle und schließlich diesen Gedanken von Verleger Augstein himself. Mit anderen Worten: Sowohl Bereitschaft zum Engagement als auch Blogger(innen) in nicht unerklecklicher Zahl hat es durchaus einmal gegeben. Peu à peu in die Binsen gegangen ist dieser Aufbruch durch einen Prozess systemisch praktizierter Vernachlässigung und Demotivierung. Die Folge: Immer mehr substanziell aktive Commundard(innen) zogen sich aus dem Freitag zurück. Für die, die dabeiblieben sowie die, die neu hinkamen, bekam zunehmend eine Überlebensregel praktisches Gewicht: Engagement lohnt sich nicht. Besser fährt man, wenn man sich auf unverbindliche Weise durch die Weltgeschichte kommentiert (gern auch in kräftigerer Form) und/oder sich auf diesen noblen Seiten anderweitig einen schönen Tag macht.

Die soziale Umgruppierung – in sich nicht ausschließlich, aber doch deutlich eine Auswirkung der veränderten Haltung von Redaktion/Verlag zu »ihrer« Community – hat nicht nur besagte Interessensverlagerungen gebracht. Auch das politische Spektrum hat sich, verglichen mit 2014/2015, deutlich eingeengt. Auch wenn sicherlich Ausnahmen von der Regel zu konstatieren sind, war der Haupttrend doch der: die eher linksliberal respektive freiheitlich-links Orientierten gingen, die Wagenknechtianer und Coronaskeptiker kamen und dominierten fortan. Qualitätstechnisch bedeutete diese Entwicklung ebenfalls einen markanten Bruch. Den Rückzug an traten nämlich eher die Nicht-ganz-Pflegeleichten, die Kreativen, diejenigen mit eigenen Vorstellungen und die, die nicht gleich bei jeder Ansage von oben strammstehen. Geblieben sind eben die, die sich – auf welche Weise auch immer – gut anpassen konnten, sensibel waren für potenzielle Schwingungen in der Redaktion. Und eben die, die auf »minimal risk« setzten und sich auf die Kommentarspalten kaprizierten. Die Folge: zunehmend einförmige Kost im Community-Teil. Was bereits verfahrenstechnisch komplett logisch ist: Wenn ich bereits kommunikationspolitisch an redaktionellen Wänden abpralle, lasse ich ambitioniertere Beitrag lieber ganz.

Bis 2020, als die COVID-Krise die Reste des einstigen Linksliberalismus mit einkassierte (jedenfalls in seiner gesamtgesellschaftlich verantwortungsvollen Variante), war der Community-Teil des Freitag bereits weitgehend kaputt, politisch wie qualitativ entkernt. Der Trend hin zur kommentarfreudigen, im Blog-Bereich dafür durch substanzielle Abstinenz glänzenden »Leicht-Infanterie« ist seither noch krasser geworden. Der Slot mit den empfohlenen Blogs ist mittlerweile rückretardiert zum potemkinschen Dorf respektive der Simulation von Leser(innen)journalismus; die Chance, im Frühjahr auf teils dieselben Beiträge zu stoßen wie im Winter, ist mittlerweile nicht mehr sarkastische Polemik, sondern triste Realität. Last but not least nährte sich das Versprechen eines linksliberalen Leser(innen)journalismus von einem damit verbundenen Aufstiegsversprechen – zwar nicht explizit, aber durchaus auf stark implizite Weise. De facto indess haben Redaktion und Verlag vor dem Aufstieg in die Liga der Autor(inn)en, wo auch bezahlte Aufträge vergeben werden, Wälle errichtet von einer Höhe, denengegenüber ein Boulevard-Massenblatt wie BILD richtiggehend egalitär wirkt. Beleg: die drei maßgeblichen Ex-Blogger(innen), die zwischenzeitlich in die Liga der freien Freitag-Autor(innen) wechseln durfen, heften sich – man braucht keinesfalls investigativ zu sein, um das herauszufinden – allesamt Berufserfahrung im Bereich Unternehmensberatung ans Revers. Klaro – anders links sein geht schließlich auch schlecht, oder?

Fazit: Legal, rechtmäßig und allseits bekannten gutbürgerlichen Gepflogenheiten entsprechend ist das alles sicher. Allerdings: Wenn eine »linke« Zeitung sich auf diese Mechanismen der Personal- oder Nachwuchsrekrutierung versteift und das sogar nahezu aussschließlich, ergo in Form eines Musters, praktiziert, sind wir beim Klassismus in seiner lupenreinsten Form angelangt. Sicher ließe sich auch hier gegenargumentieren – mit dem Nutzwert etwa, konkret: der von rund 13.000 auf IVW-geprüfte rund 25.000 gestiegenen Auflage. Allerdings hängt dieses Argument in meinen Augen schief. So ist es meiner Meinung nach alles andere als ausgemacht, dass diese Auflagesteigerung ursächlich auf die Kujonierung der Freitag-Community zurückzuführen ist. Eher würde man erwarten, dass die netzaffine (ansonsten auch mit allerlei Online-Angeboten umgarnte) Print-Leserschaft durchaus auch gute Artikel im Community-Teil goutieren würde. Ebenso schwer nachvollziehbar ist, dass diese den »Russland vor, noch ein Tor«-Kommentarspaltensound in besonderer Weise schätzt. Lange Rede kurzer Sinn: Auch wenn meiner Einschätzung nach der »point of no return« bereits überschritten ist, will ich an der Stelle doch einige Punkte formulieren, die für eine Reaktivierung des einst propagierten Leserjournalismus essentiell wären:

– Arbeit ist was wert! Das gilt auch für die Bloggerinnen und Blogger bei der Freitag. Als allererstes erforderlich wäre darum, dass Redaktion und Verlag den Code of Fairness, welchen Freitag-Verleger Jakob Augstein bei freischreiber unterzeichnet hat, explizit auf die bei der Freitag publizierenden Bloggerinnen und Blogger ausweiten. Konkret zu veranlassen wären darüber hinaus:

– eine verbriefte Clearingstelle, an die Bloggerinnen und Blogger sich im Konfliktfall wenden können. Festzuhalten wäre darüber hinaus eine grundsätzliche Auskunftspflicht bezüglich redaktionellen Entscheidungen (was moderierte, abgelehnte oder nicht empfohlene Blogs anbelangt: zumindest auf Nachfrage das Anliefern von Gründen).

– Eine klar formulierte und institutionell auch garantierte »Road Map«, unter welchen Bedingungen Bloggerinnen und Blogger honorierte Auftragsartikel schreiben können. Meines Erachtens wäre das ein Ausgangspunkt, um überhaupt über sowas wie Leserformate (wieder) ins Gespräch zu kommen. Die gegenwärtig gehandhabte Auswahlpraxis nach dem Rotary-Club-Prinzip (die Redaktion kommt bei Bedarf auf einzelne Blogger zu) hat mit einer wirklichen Verschienung von Print- und Online-Teil jedenfalls so viel zu tun wie der sprichwörtliche Fisch mit dem Fahrradfahren.

– Aufgabe des bislang praktizierten Prinzips stringent gehandhabter Kommunikaktionsknappheit und damit verbundenem Im-Unklaren-Lassen der Gegenübers zugunsten einer stärker auf Augenhöhe befindlichen und auch kommunikativ zufriedenstellenden Zusammenarbeit mit Community-Aktiven.

Schließen wollte ich diesen Beitrag ursprünglich mit einer kleinen Auslese von dF-Artikeln, welche mich in diesem Frühjahr besonders zum Schmunzeln gebracht haben. Allerdings ist richtig: Wer fordert, sollte auch Gegenleistungen erbringen. Da am Ende des Tunnels gemeinhin immer ein Lichtlein zu erblicken ist und bei der dF-Community zumindest das formale Grundgerüst bislang nicht ganz abgebaut wurde, will ich es hiermit belassen und meine Gedanken – etwa zum Zusammenhang zwischen freiwilligem Masken-Weitertragen und autoritären Charakterdisponitäten respektive Long-Covid-Schäden sowie Satirikern, die Diktatoren-Bashing betreiben – für mich behalten. Letztlich ist es beim Freitag wie bei der Linkspartei: Was heute noch am Boden liegt, kann in einigen Jahren wieder ganz passabel dastehen.

In diesem Sinn: Schlusswort, »The End«,

Richard Zietz

Weiterführende Lektüre:

Paul Mason: Faschismus – und wie man ihn stoppt. suhrkamp, Berlin 2022, 442 Seiten, 20 Euro.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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