Wir haben nur einen Versuch

Corona Die Bekämpfungsstrategie, welche die großen Industrieländer fahren, ist im Wesentlichen alternativlos. Scheitert sie, drohen Zustände wie bei der mittelalterlichen Pest.

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Bologna, 5. Februar 2020 - Freiwillige des Katastrophenschutzes führen am Flughafen Guglielmo Marconi Gesundheitskontrollen durch.

Ja – es ist wahr: Der Shutdown, auch der minimal aufgelockerte, schlägt aufs Gemüt. Er ist psychisch ungesund, verführt zu unfruchtbaren Gedanken, und welche Langzeitfolgen die erzwungene Kontaktlosigkeit zur Folge haben, lässt sich beispielsweise hier nachlesen. Noch schwerer wiegen x-Millionen an Existenzen, die wirtschaftlich-existenziell in die Bredouille zu geraten drohen oder das bereits sind. Und auch das zwangsweise Herunterfahren der Wirtschaft dürfte sich, anders als mancher Blogger und manche Bloggerin vermeint, weniger als eine Art Vorstufe zum Sozialismus erweisen denn als Startschuss für eine Rezession der Marke »Great Depression« – also jener Sorte, für die der Begriff »richtig schlimm« eigens erfunden wurde.

Das alles ist nicht schön. Nun aber kommt der schlechte Teil der Nachricht: Die verhängten Maßnahmen sind – Details, über die sich reden läßt, einmal ausgenommen – mehr oder weniger alternativlos. Im Wesentlichen basieren sie auf folgender Überlegung: Da sich die Strategie des »Austretens« der Pandemie frühzeitig und in den meisten Fällen als nicht (mehr) praktikal erwiesen hat, versuchen die involvierten Staaten nunmehr eine auf Längerfristigkeit angelegte Zeitgewinn-Strategie des »Stopp and Go«. Im Detail variieren die Maßnahmenpakete. Frankreich, Italien und Spanien etwa, die besonders auf dem falschen Fuß erwischt worden waren, praktizieren äußerst rigide Formen. Auch der – bis dato soweit erfolgreiche – chinesische Weg des »Austretens« funktionierte nur auf der Basis (oder: um den Preis) äußerst weitgreifender Zwangsmaßnahmen. Umgekehrt zeigt sich, dass speziell in Ländern, die einen liberaleren respektive widerspruchsvolleren Weg fuhren oder noch fahren wie die USA, Großbritannien oder auch Brasilien, die Todeszahlen besonders exorbitant sind und das Virus frei grassiert. In der Mitte befinden sich Länder wie Deutschland (mehr zum rigideren Pol hin) und Schweden (mehr zum liberaleren – allerdings doch mit deutlichen Empfehlungen in Richtung »Rigidität«).

Zwischenzeitlich sind Fragen aufgekommen, ob der beschrittene Weg sinnvoll ist. In Frage gestellt wird er auf mehreren Ebenen: der medizinischen (ist Corona nicht doch nur mehr oder weniger ein – stinknormaler – Grippevirus?), der wirtschaftlichen (ja – der Shutdown wiegt schwer), der grundgesetzlichen (unabhängig davon, ob die aktuellen Maßnahmen geboten sind: sind sie denn auch »rechtens«?), der utilitaristischen (reicht es nicht aus, die Alten und Kranken in Quarantäne zu stecken oder eben ihren natürlichen Weg gehen zu lassen?) und schließlich der verschwörungstheoretischen (Corona = Meilenstein in Richtung »New World Order«?). Politisch hat sich auch im etablierten Lager eine immer deutlichere Kluft herausgebildet. Auf der einen Seite stehen »Krisen-Technokrat(inn)en«, die den Weg eines keynesianisch abgefederten »Stopp and Go« im Prinzip so lange weitergehen wollen, bis wirksame Gegenmittel und/oder ein Impfstoff vorhanden ist. Auf der anderen Seite steht eine heterogene Koalition aus Wirtschaftsliberalen, Rechtspopulisten und Verschwörungstheoretikern – wobei letztere als »Beigabe« auch ein paar verstreute, orientierungslose »Linke« eingesammelt haben. Grosso modo der gemeinsame Nenner: Raus aus dem Shutdown – koste es, was es wolle.

Fraglos sind die aktuell verhängten Restriktionen äußerst unangenehm und einschränkend. Frage der Fragen ist allerdings, welche praktikablen Alternativen es dazu gibt. Tübingens OB Boris Palmer hat dafür plädiert, die restriktiven Maßnahmen auf die Gruppe der Alten und Gefährdeten zu begrenzen. Im Angesicht der Tatsache, dass gerade Alten- und Pflegeheime sich immer stärker zum Epizentrum der Pandemie entwickeln, hat er den utilitaristischen Vorschlag lanciert, hier notfalls den Dingen quasi ihren natürlichen Lauf zu lassen. Auch einflussreiche Politiker wie Armin Laschet, Wolfgang Schäuble und Christian Lindner wollen den Großteil der Restriktionen möglichst zügig und zeitnah kassieren. Wenig hinterfragt wird leider das Gesamtszenario, auf dessen Basis derartige Vorschläge (ebenso natürlich wie die Maßnahmen der Restriktionsbefürworter) bezogen werden müssen.

Die Fakten: Der Shutdown in Deutschland ist nach wie vor ein »Shutdown« und kein »Lockdown«; harte Ausgangssperren, wesensbildendes Merkmal eines »Lockdowns«, hat es bislang nicht gegeben. Im Zuge des Shutdowns ist es gelungen, eine grassierende, expontionell ansteigende Infizierten- und damit auch Mortalitätsrate in den Griff zu bekommen. Kaum jemand leugnet dies; der Effekt lässt sich jedoch auch für Otto und Lieschen Normalverbraucher vergleichsweise simpel veranschaulichen. Mitte März, vor den ersten Maßnahmen, schien die Ansteckungsrate auf dem besten Weg, vollends außer Kontrolle zu geraten. In mehreren Stufen wurde die Kurve seit der zweiten Märzhälfte zuerst abgeflacht und schließlich – in der zweiten Aprilhälfte – auf den vielzitierten »R-Faktor« »1« und aktuell sogar einen Wert darunter (»0,75« bis »0,9«) heruntergedrückt.

Sicher lässt sich gedanklich vortrefflich darüber streiten, ob der Anhaltswert »R« maßgebliche Entität ist oder lieber doch eine andere Form von Meßwert. Ob »R«, absolut oder andere Rechenmodelle: In der Praxis allerdings sagen sämtliche Zahlen, dass die expontionelle, unkontrollierte Ausbreitung (erst einmal) gestoppt werden konnte. Auf exakt dieser Basis werden aktuell mögliche Lockerungsmaßnahmen diskutiert. Sicher hat für die – sich notgedrungen am Prinzip »Trial and Error« entlanghangelnden – nächsten Schritte niemand fertige Rezepte in der Tasche. Umgekehrt beweist die getätigte Strategie jedoch, dass sie – soweit – erfolgreich war. Allerdings haben wir es hier mit einem Erfolg der prekären Sorte zu tun. Denn: Wird – Stichworte: Kneipen, Tourismus, Bundesliga – zu schnell und zu freigiebig wieder geöffnet, kann es sein, dass die Verbreitungszahlen rapide wieder nach oben schnellen.

Eine zweite Epidemiewelle allerdings wäre der »Worst Case« in so gut wie jeder Beziehung. Nicht nur, weil alle bisherigen Eindämmungsversuche für die Katz’ gewesen wären. Bei einer »zweiten Welle« gäbe es schlechterdings nur zwei Optionen: eine Kapitulation vor dem Virus mit steil ansteigenden Infizierten- und Sterberaten oder aber das Beste aus dem Schlecht(er)en machen. In beiden Fällen hätten wir die lombardischen Bilder vom Februar bald auch vor unserer Haustür. Speziell die Mortalitätsraten würden sich aus dem medizinisch kontrollierbaren »Normalbereich« (je nach Leseart zwischen 0,7 und 2 Prozent) in den exorbitanten, weil nicht mehr behandelten Bereich von Nicht-mehr-versorgen-Können und Triage bewegen. Worüber wir reden: im ungünstigen Fall von bis zu 7, 8, 9 Prozent.

Erschwerend hinzu käme allerdings ein zweiter Effekt. die »zweite Welle« träfe nicht eine Gesellschaft, die sich schlecht und recht und letzten Endes halbwegs leidlich auf eine Pandemiekrise einstellen konnte, sondern eine stark geschwächte, durch den gescheiterten (weil zu frühzeitig aufgehobenen) Shutdown wirtschaftlich wie moralisch vorgeschädigte Gesellschaft. Fazit so: Schlägt das Virus aufgrund vorzeitiger Maßnahmen-Liberalisierung erneut zu (etwa: Im Spätsommer, Herbst oder Frühwinter), dürfte dies auf ähnliche Weise auf einen »Ground Zero« für unsere Gesellschaft hinauslaufen wie die Anschläge vom 11. September für New York. Sicher geht man darüber hinaus in der Befürchtung nicht fehl, dass Panik, Tumulte und (erneute) Wirtschafts-Schocks in Kombination mit rechtspopulistisch-sozialdarwinistischen Sündenbock-Suchen rasch ein Klima erzeugen würden, gegenüber dem das aktuelle noch äußerst kommod aussieht.

Fazit so: Wir haben nur eine Chance. Diese. Eine zweite wird es nicht geben. Auch wenn das Virus in der Praxis durchaus einen Unterschied macht zwischen einem Börsenbroker mit Taunus-Zweitvilla und der (vorerkrankungsgeschädigten) Insassin eines – womöglich überbelegten – Pflegeheims.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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