Atomenergie hilft niemandem!

Atomenergie Nikolaus Blome fordert Laufzeitverlängerungen in Deutschland und tauscht bereitwillig ein kalkulierbares gegen ein unkalkulierbares Risiko ein.

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Der Wanderpokal unter den deutschen Edelfedern Nikolaus Blome argumentiert in seiner neuesten Kolumne auf spiegel.de in geradezu fleischhauernder Schlichtheit, dass man derzeit auf keinen Fall auf die klimafreundliche Atomenergie verzichten könne und fordert eine Laufzeitverlängerung der deutschen AKW. In der Tat trägt die Atomenergie zur Klimakatastrophe nur wenig oder indirekt bei. Sie ist dafür eine globale Katastrophenquelle unkalkulierbaren Ausmaßes.

Tschernobyl gibt bis heute Rätsel auf

Wie der DLF und andere Medien am 10. Mai 2021 berichteten, steigt die Reaktivität des 1986 (!) zerstörten Reaktors IV in Tschernobyl aus unbekannten Gründen wieder an. Messinstrumente stellen einen Anstieg des Neutronenflusses fest, nicht dramatisch, nicht sprunghaft, aber stetig. Sehr beunruhigend ist, dass sich derzeit niemand die Ursache erklären kann. Die Prozesse der vollständigen Kernschmelze in Tschernobyl wurden bis heute nicht ausreichend verstanden. Auch für die Erklärung des Reaktorunglücks, den Verbleib des radioaktiven Materials und vieler Fragen mehr gibt es nur Hypothesen - mehr oder weniger stabil, genau wie der alte und neue Sakrophag, die den Reaktor heute nach dem Zwiebelprinzip einhüllen.

Die Erzeugung von Atomstrom findet in Deutschland in Anlagen statt, die sicherheitstechnisch zwar formal aktuell gehalten wurden, im Kern aber auf Konzepten und Erfahrungshorizonten der 1970er Jahre basieren. Vor Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima. Sie befinden sich in dicht besiedelten Gebieten, eine 30-Kilometer-Todeszone wie in Tschernobyl würde deutsche Großstädte entvölkern. Der Grundlaststrom, den die AKWs erzeugen, senkt darüber hinaus die Flexibilität im Stromnetz und wird mit horrenden ökologischen Kosten erkauft.

Pandemie und Kernschmelze

Das ist alles bekannt und wiederholt Debatten aus dem 20. Jahrhundert. Nun gab aber die Coronapandemie einen dramatischen Einblick in das real existierende Katastrophenmanagement nahezu jedes Landes der Erde erhalten. Bis auf einige Ausnahmen hat sich nahezu jedes Land an irgendeinem Punkt der Pandemieentwicklung Fehler gemacht, Fakten und Wissenschaftler nicht ernst genommen und vermeidbare Todesopfer in der eigenen Bevölkerung verursacht. Dies konnten hunderte, tausende oder wie den USA und Indien auch hunderttausende Menschen sein. Dies alles wohlgemerkt bei einer Bedrohung, die mit einem konsequentem Lockdown, einer schnellen Maskenpflicht und Kontaktsperren für alle (!) Teile der Gesellschaft schnell hätte eleminiert werden können.

Planspiel Tihange: Laschet und Reul, Seehofer und Spahn als Reiter der Apokalypse

Machen wir das Beispiel konkret und nehmen wir an, der altersschwache Reaktor von Tihange geht in einer kräftig strahlenden Rauchwolke auf, bei gemütlich wehendem Südwestwind an einem schönen westeuropäischen Tag im Mai. Die entstehende Wolke aus empor gespieenem Strahlungsmaterial bewegt sich zügig in Richtung Aachen, in der Folge in die Köln-Bonner Region und das Ruhrgebiet. Die Ankunft ist eine Frage weniger Stunden.

Niemand könnte nun monatelang diskutieren und herumraten, ob Jodtabletten und Atemmasken schützen oder nicht. Die Atomquerdenker könnten sich gar nicht schnell genug empören. Das Toilettenpapier bliebe im Laden. Kein CDU-Politiker könnte nebenamtliche Bereicherungsmaßnahmen einleiten. Denn Würselen und Aachen, Epizentren deutschen Kanzlersachverstandes, wären binnen einer Stunde gründlich verstrahlt.

Wenige Minuten bis Stunden der Strahlenexposition entscheiden nun zwischen Leben und Tod. Die Intensivstationen brächen bereits am ersten Abend der Katastrophe zusammen, die Menschen müssten sich luftdicht vor Alpha- und Betastrahlung verpackt hinter Beton verkriechen oder, sehr viel wahrscheinlicher, in kurzer Zeit tödliche Strahlendosen aufnehmen. Schnell beginnt das große Feststellen: Die Bundeswehr stellt fest, dass sie nicht genügend dichte Strahlenschutzanzüge, sondern teils noch die brüchigen Modelle aus den 80ern im Arsenal hat. Die Gesundheitsämter stellen fest, dass keine Jobtabletten im Schrank liegen - allerdings erst nach mehreren Stunden, das Warnfax blieb lange ungelesen liegen. Der Zivilschutz stellt fest, dass er nicht mehr existiert und marschiert geschlossen in den Rhein. Das Kabinett stellt fest, dass Hardthöhe und Bildungsministerium nicht mehr zu erreichen sind... die Liste ist beliebig fortsetzbar.

Mit anderen Worten: Wer riskiert, eine solche Katastrophe von Top-Entscheidern wie Horst Seehofer, Herbert Reul oder Armin Laschet zu überlassen, kann sich auch gleich nackend im verstrahlten Garten wälzen. Herr Blome, der sicherlich dem bereits kürzester Exposition durch Markus Lanz argumentativ völlig zerstrahlten Herrn Laschet seine Stimme schenken wird, hat dies in seiner Rechnung sicherlich nicht bedacht. Den arroganten Zahn, dass Katastrophen unser in jeder Hinsicht hervorragendes Land nicht erschüttern können, sollten 2020 und 21 auch dem quotenkonservativsten Kolumnisten eigentlich gezogen haben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Wagner

Privat ganz nett.

Matthias Wagner

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