Der Weg ins Kanzleramt ist individualmobil

Mobilität Willst Du Kanzler werden, darfst Du mein Auto nicht anfassen: Das Grundbedürfnis nach Individualmobilität in Deutschland, historisch betrachtet.

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Die These „Die Indivualmobilität ist überholt“ ist, zumindest historisch, mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Trugschluss. Denn in der gesamten deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts stellte die Invidualmobilität, vorzugsweise via Kfz oder Krad, in jeder Epoche ein Kernbedürfnis dar – obwohl Alternativen wie Bus, Tram oder Reichs- und Bundesbahn damals noch a) in der Fläche deutlich besser ausgebaut und b) günstiger und vor allem pünktlicher waren.

Der wohl unglücklichste Fehler Annalena Baerbocks ist daher meiner Ansicht nicht in ihrem Lebenslauf zu finden, sondern er ist das Framing von "16 Cent mehr pro Liter Benzin wenn ihr mich wählt" - auch wenn die anderen dies längst mitbeschlossen haben. Anders ausgedrückt: Wenn es den Deutschen an ihr historisch tradiertes Grundbedürfnis nach Invidiualmobilität geht, machen sie keine Gefangenen.

Nach 1918

Anfang der 1920er Jahre, nach der Hyperinflation, gab es in Deutschland einen ersten, heftigen Motorisierungsboom – vorerst noch auf zwei Rädern. Die Zahl der Krafträder stieg sprunghaft an, gegen Ende der 1920er nahm die fieberhafte Suche nach Produktionsmöglichkeiten und Sponsoren für die Idee eines „Volksautos“, damals noch durchaus ideologiefrei, große Fahrt auf. Initiativen wie die Hafraba planten, lange vor Hitler, Deutschland durchziehende Autobahnen, die bei den Nazis zunächst wenig Anklang fanden. All dies war getragen von einem Wunsch nach individueller Mobilität, für den die Menschen innerhalb wie außerhalb der großen Städte große Opfer aufbrachten.

Zum Vergleich: 1938 planten die Nazis einen heftig subventionierten Einstiegpreis von 1.000 RM für den „KdF-Wagen“ – bei einem Durchschnittsjahresverdienst von 1.947 RM war dies dennoch für Arbeiter und Angestellte äußerst stattlich. Dennoch wurden hunderttausende von KdF-Wagen-Sparheften gezeichnet – natürlich ohne Ergebnis, aber der Wille war da. Die These liegt daher nahe: Der nachhaltigste Erfolg der Nazis in den Köpfen der Deutschen war das Versprechen der Individualmobilität, sonst hätten wohl kaum bis in die 2000er hinein unzählige Idioten weitgehend unwidersprochen herausblöken können, dass "der Adolf" ja immerhin die Autobahnen und den Käfer erfunden hätte.

Nach 1945: BRD

Nun wurde im Westen erstmal alles vergessen, dann heftig aufgebaut, dann heftig gefressen, dann wieder sehr viel Zweirad gefahren und dann wurden, trotz nach wie vor äußerst schmalen Haushaltseinkommen, die absurdesten Automobile entwickelt. Diese sollten möglichst billig und dennoch halbwegs trocken die mehr oder weniger demokratisierten Bundesdeutschen transportieren. Niemand, der nicht ein außerordentliches Bedürfnis nach Individualmobiliät verspürt, hätte sich freiwillig in einen Kleinschnittger, ein Fuldamobil, eine Isetta oder einen Zündapp Janus gesetzt – der vergleichsweise komfortable, aber deutlich teurere Käfer wurde erst später populär.

DDR

Im Osten waren die Entwicklungen noch deutlich drastischer, hier gekennzeichnet vor allem durch den allgemeinen Mangel und die damit verbundene noch viel größere Bereitschaft, für das Bedürfnis nach Individualmobilität Einschränkungen hinzunehmen. Gab es anfangs nur notdürftig zusammengeflickte Vorkriegsfahrzeuge und Luxuskarossen von EMW für die Funktionärselite, machten Trabant und Wartburg ab den 1960ern zumindest offiziell Individualmobilität möglich. Die langen Wartezeiten, die nie ausreichenden Ersatzteile, die oft schauderhafte Qualität der Fahrzeuge, der unfassbare Zweitaktgestank und die simple Tatsache, dass die DDR wirklich nur begrenzten Raum für Individualmobilität bot – den meisten Menschen in der DDR war dies vollkommen gleichgültig. Sie wollten zumindest innerhalb ihrer engen Grenzen die Freiheit haben zu jeder Zeit dahin zu fahren, wo sie wollten und konnten.

2021

Doch was ist heute? Grundsätzlich ist die Pendeln in jedem Verkehrsmittel erst einmal grauenhaft, unökonomisch und (coronabedingt) durchaus lebensgefährlich. Wirklich wirksame Homeofficegesetze sollten diesen Schwachsinn beenden. Das Pendeln ist auch keineswegs das, was Individualmobilität ausmacht. Hier sollte absolut dem ÖPNV oder anderen Verkehrsmitteln – oder besser gar keinen Verkehrsmitteln, sondern dem Glasfasernetz (anderes Thema!) – der Vorzug gegeben werden.

Es ist aber auch ein Trugschluss zu glauben, dass E-Bikes und Lastenfahrräder den innerstädtischen Pendelverkehr ökologisch machen und retten werden: Sobald es regnet oder die in Deutschland typische Matsch- und Dunkelzeit von Oktober bis April anbricht sind die Straßen deutlich voller mit Autos. Man wird halt nass und es ist kalt – das war auch schon 1950 der Grund vom Motorrad in die Isetta zu kriechen oder sich 1926 ins Hanomag "Kommissbrot" zu zwängen.

Die These bleibt daher: Individualmobilität wird als Bedürfnis nicht totzukriegen sein, sie muss aber anders gedacht werden - speziell wenn die Immobilienpreise sich weiter so entwickeln oder auch nur konstant bleiben. Was allerdings auch klar ist: Nicht jeder wird und soll ein eigenes (Elektro)Auto besitzen können, Ausbau von Carsharing in den ländlichen Raum hinein ist alleine aus Platzgründen sehr, sehr wichtig. Autovermietungen werden auch wichtiger werden, genauso wie private Sharingmodelle. Die saftigen Preisaufschläge auf Elektrofahrzeuge werden wahrscheinlich bald verschwinden – spätestens wenn China richtig mitmischt.

Gemeinsam mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien in Richtung 100 Prozent kann die Zukunft des Individualverkehrs daher durchaus halbwegs ökologisch stattfinden, kluges wirtschaftspolitisches Handeln (ja, Sie dürfen jetzt kurz lachen) vorausgesetzt. Wer jedoch den sehr starken Motivator Individualverkehr im Wahlkampf außer acht lässt, wird wahrscheinlich auf die Nase fallen – dies lässt sich zumindest aus der deutschen Geschichte herleiten.

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Geschrieben von

Matthias Wagner

Privat ganz nett.

Matthias Wagner

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