Abstieg in die Duzhölle

Arbeitnehmerrechte Warum sollte man Existenz und Gesundheit nicht kompletten Dilettanten anvertrauen? Millionen Arbeitnehmer können nicht irren!

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Was haben in Deutschland ein Gabelstapler, ein Binnenschiff und ein Mofa gemeinsam? Niemand darf sie steuern, ohne eine entsprechende Eignungsprüfung abzulegen. Gleiches gilt für Friseure, Ärzte, Floristen, Garten-Landschaftsbauer und Fremdsprachensekretär:innen: Jeder Handgriff, jede Geste ist in Aus- und Weiterbildungslehrgängen durchdekliniert um Unfälle zu vermeiden und Unternehmen die normierte, universell einsetz- und austauschbare Arbeitskraft zu bieten. Sicherheit und Verlässlichkeit für Wirtschaft ist oberstes Gebot und auch vollkommen in Ordnung - wenn für alle gleiche Regeln gelten. Tun sie aber nicht.

Wo bleibt der Geschäftsführerschein?

Während die Welt des Arbeitnehmers klar geregelt ist, sieht es bei Unternehmern, insbesondere solchen, die sich als "Entrepreneur" zur Gründung eines "Start-Ups" berufen führen, völlig anders aus. Die deutsche Gesetzgebung ermöglicht jedem Lollek und Bollek, egal ob Dyskalkuliker oder Psychopath, die Gründung einer GmbH, einer GbR oder eines sonstigen Gefäßes für seine Unternehmerambitionen. Er muss sich nur an Recht und Gesetz halten, welche ihm insbesondere bei der Ausleben seiner psychischen Eigenheiten reichlich Beinfreiheit lassen. Mit anderen Worten: Wäre die Funktion des Geschäftsführers an eine medizinisch-psychologische Untersuchung und eine fachliche Eignungsprüfung geknüpft, wären die meisten Chefsessel in Deutschland schnell leer oder neu besetzt.

Insbesondere das StartUp-Segment, der großen Hoffnung der Spahns und Lindners dieser Welt, öffnet dem ambitionierten und vorzugsweise männlichen deutschen Jungpsychopathen ein breites Betätigungsfeld. Um ein Unternehmen zu gründen, das schnell 50 oder 100 Mitarbeiter haben kann, ist nichts weiter als ein polizeiliches Führungszeugnis und eine kleine Einlage, gerne von Vati bezahlt, beim Amtsgericht fällig. Beim Investorenmeeting darf eine schnittige Powerpointpräse natürlich nicht fehlen: Wer gleichzeitig so viele Visionen wie dieser Typ entwickelt, müsste normalerweise psychiatrisch eingewiesen werden.

Willkommen bei Psychopath, Inc.!

Mit der fremden Kohle in der Tasche sitzt der junge Geschäftsführer dann im Loft, lädt die ersten Opfer zu Vorstellungsgesprächen ein und zwirbelt sich seinen wohlgestutzten Vollbart. Oder er bläst sich ein Stäubchen vom Slim-Fit-Anzug, je nach Branche. Dir als eingeladenem Häschen frisch von der Uni, von dem er selbstverständlich Praktika im Ausland, mehrjährige Berufserfahrung und nachweisbare "Spitzenskills" fordert, erzählt er dann so richtig einen vom Pferd: Er duzt dich natürlich, betont das man hier eine Familie sei, jung natürlich, zeigt den Kickertisch, die Obstkiste, erwähnt die After-Work-Meetings und die "coolen Parties die hier so abgehen" - du wirst überhaupt keine Familie und Freunde mehr brauchen, denn du bist jetzt WIR.

Du solltest an dieser Stelle wissen: ER musste natürlich keine Praktika, keine Spitzenskills und mehrjährige Berufserfahrung nachweisen: Nach einer für Investoren und Vati überzeugenden Idee konnte er haarscharf vor der prekären akademischen Existenz abbiegen und ist nun CEO, Stuhlmann-Exekutiv-Offizier, Top-Entscheider und Fürst seines eigenen Tums. Dessen Untertanen pickt er sich nun handverlesen aus - natürlich nur zum branchenüblichen Mindestlohn, gerne auch mal ein bisschen darunter wenn du armes Häschen dich beim Vorstellungsgespräch vom Yogakurs und der Obstkiste hast schön blenden lassen.

Der Abgrund der Duzhölle

Hast Du nun bei einem solchen Knilch und seinen lustigen Freunden unterschrieben, kannst Du ganz viele Rechte, die in Deutschland eigentlich gesetzlich geregelt sind, bereits vergessen. Im Arbeitsvertrag, ausformuliert vom Anwaltsbuddy des CEOs, werden beispielsweise eigentlich ausgleichpflichtige 20 Überstunden im 42-Wochenstunden-Arbeitsvertrag direkt mit abgegolten - "nimm Dir doch noch eine Club-Mate wenn Du um 18 Uhr ein bisschen müde bist." Im zickig möblierten, möglichst kargen Büro sollte dir Dein alter Quietschestuhl auch genügen: "sorry, wir sind gerade echt knapp vor der Investorenrunde, mach doch Yoga wenn Du Rückenschmerzen hast." Das die anderen Möbel auch vom Sperrmüll kommen und die Toilette mit maximal 80 Lux beleuchtet ist zeugt ebenfalls nur von gewaltiger Freshness und ist angesichts der allgemeinen Sauberkeit auch besser so.

Das die ganze Bude im Winter eiskalt, im Sommer knallheiß ist sollte Dir egal sein. Denn natürlich ist es auch knalleng - Bürofläche ist knapp in Köln-Ehrenfeld oder Berlin-Mitte. Da solltest du die Migräne, ausgelöst vom angelernten SoCal-Akzent, mit dem deine PR-Kollegin ununterbrochen ins Telefon und auf Kurzdistanz in dein Ohr brüllt, einfach runterschlucken. Körperliche Gebrechen wirken in so einem dynamischen und jugendlichen Umfeld komplett fehl am Platz, wo ist denn da die Agilität? Du weißt und man macht die stets klar: Jederzeit wirst Du durch ein jüngeres, dümmeres Häschen ersetzt werden können, welches einfach nur macht was MANN ihm sagt - stell dir am besten die drei Affen auf den Tisch.

Der Typ unterhalb des Geschäftsführers...

... ist der Typ den du, wenn du nicht gerade in einem sehr kleinen Laden arbeitest, Chef nennen musst. Er kennt den "CEO" vom Beachvolleyball, aus dem Studium, aus der Sauna, vom Golfplatz oder sonstwoher - auf jeden Fall nicht aus einem Bewerbungsgespräch. Folglich werden auch an deinen Vorgesetzten keine besonderen Anforderungen gestellt: Er muss lediglich seinem CEO, ohne der er eine absolute Null wäre, komplett loyal sein und ein Höchstmaß an Agilität aufweisen. Pathologischer Narzissmus ist quasi Einstellungsvoraraussetzung. Jedes Projekt wird mit Verve, Druck und stundenlangem Monolog-Gelaber angegangen - die eigentliche Arbeit dürfen dann andere machen. Reicht das Geld oder die Zeit nicht, bist Du nicht flexibel genug und darfst gerne künftig etwas agiler sein. Hauptsache, er kann später vor seinen Schöpfer Geschäftsführer treten und sich von ihm voll kumpelig auf die Schulter klopfen lassen für seine coole Arbeit.

Das du dich für das Lob an ihn krumm und bucklig geschunden hast, dir den Rücken an irgendwelchen Bierkisten für saucoole After-Work-Meetings verhoben hast und stundenlang weit nach Feierabend an irgendwelchen bullshitstrotzenden Präsentationen und "Keynotes" rumgefrickelt hast wird man dir natürlich NICHT reich entlohnen. Stattdessen kriegst du beim nächsten Feedbackgespräch erstmal richtig einen rückgefüttert, hier mit Übersetzung:

"Du hast ja stark angefangen (klar, da hats Dich noch interessiert) aber dann hab ich dich gar nicht mehr wahrgenommen (klar, da hab ich dann ernsthaft gearbeitet und nicht rumgelabert). Deine Performance bietet noch viel Potential (wie willst Du das wissen, Du bist immer in Meetings?), du solltest offener an Dinge herangehen (Auch wenn es erkennbar kompletter, teurer Schwachsinn ist?!).

Am Gehalt können wir leider gerade nichts machen, 2000 brutto ist schon echt gut auf Deiner Stelle (schön, mein Kumpel kriegt beim Finanzamt 3.000 für deutlich weniger Arbeit und die doofe, laute PR-Annika ebenfalls) und überhaupt warst Du ja auch zwei Tage krank. Da kann ich mich auf deine Performance nicht jederzeit verlassen (WTF?). Schön das wir uns da einig geworden sind. (Halt die Fresse und sei froh das du meine Luft atmen darfst!)."

Wer ein solches Gespräch schon einmal geführt hat, kennt wahrscheinlich die Konsequenz: Entweder du bleibst da und wirst völlig meschugge, oder du suchst Dir irgendeinen anderen Job. Schnellstens.

Fazit: Chef muss man nicht lernen, darf man aber sein

Was bleibt von dieser Geschichte? Der deutsche Arbeitnehmer hat es eigentlich nicht wirklich schlecht, außer ihm werden seine Rechte wissentlich oder unwissentlich entzogen oder vorenthalten. In den meisten StartUps und Agenturen macht er dies jedoch ganz freiwillig und wird in keiner Weise darüber informiert, dass Arbeitszeiten bis 22 Uhr ohne Ausgleich schlichtweg verboten sind. Das es Weihnachts- und Urlaubsgeld geben kann. Das es Wertschätzung geben kann. Das es Betriebsräte geben kann - dieses Fass wollte ich hier nicht auch noch aufmachen. Das es ein AGG gibt und ein Betriebsverfassungsgesetz. Das Gewerkschaften nicht nur alte Männer mit Klobrillenbärten und fossilen Energieansichten sind, sondern dir bei vielen Dingen helfen können. Aber was red ich da.

Was ich eigentlich sagen will: Arbeitest Du, lieber junger Mensch, in einem solchen Laden dann nimm die Beine in die Hand. Such Dir was anderes. Du bist jung, qualifiziert und viel zu schlau für diese Idioten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Wagner

Privat ganz nett.

Matthias Wagner

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