2. Brief auf Joachim Petricks Brief mit Gruß an Tante Else

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Ja, sie waren Kleinbürger, von Herzen. Der Wolfgang Engler spricht von einer arbeiterlichen Gesellschaft und Günter Gaus in seinem Buch von der "Republik der kleinen Leute". Aber sie waren auch zum Teil ganz selbstbewusst und wollten nicht was Besseres sein, was heutzutage unglaublich nerven kann.

Das mit dem Auf sich geworfen sein, ist ein Thema, das fast jeder kennt. In der beschönigenden Form nennt es sich Individualisierung, glaube ich.
Ich habe vor kurzem einen ganz guten Text gefunden -auch von einem Ostdeutschen in der Berliner Zeitung.

tinyurl.com/nuul9q

Da findet sich folgende - mir nahegehende - Passage :"Ich habe eine Frau aus Frankreich und zwei Kinder, die gar nicht wissen, dass es mal eine Mauer in Berlin gegeben hat. Ich habe einen gut bezahlten Job in einer Zeitung und meine Hauptsorge besteht gerade darin, ob wir in unserer Küche Dielen- oder Steinfußboden haben sollten. Ich brauche keine Haltung mehr zu haben, muss mich nicht engagieren, benötige keinen Standpunkt. Politik kann ein Gesprächsthema sein, wenn einem sonst nichts einfällt. Nicht die Gesellschaft, ich selbst bin zum Hauptthema meines Lebens geworden. Mein Glück, mein Job, meine Projekte, meine Träume."

Es ist sicherlich ein bisschen ironisch gemeint, aber es hat mich auch erschreckt. Es stellt sich die Frage: Ist man ein Verlierer, wenn man die Zusammenhänge vermisst, die es mal gegeben hat? Sind alle Zusammenhänge "Mief"?
Und auch Dein Exkurs darüber, dass der Alltag der DDR und der Blick darauf verschwindet, ist interessant. Nur noch in der kommerziellen Form - Museen und alte DDR-Waren - ist er da.
Den Blick darauf einzubeziehen, darum kämpft ja schon lange der Dr. Martin Sabrow vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsam.
Der muss dann immer viel Eleganz aufbieten, um den Vorwurf der Verharmlosung zu entgehen und das ANTI-DDR-Glaubensbekenntnis aufsagen, aber dann schiebt er doch immer auch ein Plädoyer für die konkrete Forschung nach.

www.zzf-pdm.de/site/420/default.aspx

Die Tanten haben immer recht

Das Gleichnis mit Deiner Tante Else ist zu schön und sehr zutreffend. Man verliert die Gnade und liegt außerhalb. Glaub es mir, es kommt wieder anders. Und zwar nicht in diesem ostalgisch simplen Sinn. Und - ist man nicht immer, wenn man sich in Vielem so seine Gedanken macht, ein bisschen allein und außerhalb? Das hatten wir schon mal, erinner ich mich

Noch zu DDR-Zeiten hab ich mir so meine Gedanken gemacht. Und nach der Wende auch. Es gab im Westen immer Leute, die nie in den Medien auftauchten, immer aber "da" waren und immer wieder Menschen um sich geschart oder sich anderen angeschlossen haben. Übrigens glaube ich, dass sich wenn sich die Entwicklung mehr nach links bewegt, dass so mancher "teure Tote" außerhalb der Friedhofsmauer wieder in geweihter, historisch sorgfältiger beackerter Erde gebettet wird. (Oh Gott, wo ist hier der Metaphernwart.)Die Leute werden dann eine ordentliche Trauerarbeit leisten können und auch wieder realistisch, ehrlicher - was manchmal auch bitter sein kann - die Vergangenheit betrachten.

Was meine Sicht auf manche Bürgerrechtler betrifft, bin ich sicher ein bisschen bissig: Auch, weil ich manche Sachen nicht glauben will. Zum Beispiel glaube ich nicht, dass Vera Wollenberger (Lengsfeld) die Verstrickung ihres Mannes in die Stasi nicht gekannt hat. Das ist aber meine persönliche Meinung. Ach was schmissig, gekonnt und Jürgen von der Lippe finde ich nicht so toll. Aber bitte, bitte....

Apropos bissig, wenn Du Dich amüsieren willst, dann empfehle ich Dir ein kleines bei TIAMAT erschienenes Bändchen: "Menschlich viel Fieses" von Gerhard Henschel.
Ein Könner, der den WendeWanderPredigern ordentlich stilistisch in die Suppe spuckt. Ich habe mich ausgeschüttet vor Lachen. Der Henschel ist ein guter Schreiber. Das gibt's noch bei der ZVAB. Er nimmt auch wenig Rücksicht auf Leidensgeschichten - Recht hat er, köstlich. Es ist wirklich so, dass aus "Opfern" Täter werden. Wie immer in solchen Umbrüchen regnets sowieso beliebig manchmal auf Gerechte und Ungerechte. Einige Opfer werden auch instrumentalisiert. Andere sind bis heute auch still, weil sie genau das nicht wollen. Ich hatte einen guten Bekannte, ein Slawist, ziemlich verstrickt in die Walter Janka Affäre. Der hat 8 Jahre in Bautzen gesessen, aber im vereinigten Deutschland rumjammern wollte der schon gar nicht. Dem war das zu billig. Er ist aber auch - unverzeihlich - ein Linker geblieben. Ganz anders der Gauck, dessen nachholender DDR-Hass ist uns hier immer unheimlich gewesen. Aber ein Opfer war der nicht, es sei denn, die Zeiten fordern alle immer zum opfern auf.

Und - genau - auch das sehe ich. Die "Opfer" der DDR-Diktatur sollen tatsächlich gar nicht ankommen in der Gesellschaft, man braucht sie als Beweismittel. Einige sind aber im politischen Establishment aufgegangen und machen von dort aus ordentlich Theater. Wenn sie sich zu anderen Fragen äußern, dann wird das nicht publik.
Sie haben auch ihr Milieu, ihre Mitte, verloren.

Stimmt in Leipzig gibt's eine Zankstelle. Die "Mitternachtsspitzen" sehen wir uns immer an. Kann sein, dass das eine entschärfte Stunksitzung ist, aber am Ende, wenn der Schmickler dann da so durchfegt: "Ach Becker, hörn Sie doch auf...Mensch Becker...usw. Herrlich.

"Wenn wir keine Chance mehr haben, sind wir die Chance."

Genau. Und ich sage, man lebt nicht nur in den Zeitläuften. Man muss manchmal auf sich hören wie auf einen weisen Ratgeber. So geht es mir im Wesentlichen. Und wegen des positiven Schlusses hänge ich noch an: Es ist ja nicht nur Verwerfung, es ist nicht nur Übergestülptes. Es ist auch was vom Wahnsinns-Wunder, dass man plötzlich über Grenzen gehen konnte, einfach so. Ein Betriebsunfall der Geschichte.

Jetzt noch so ein Schwatzbeispiel: Vor vielen Jahren sah ich mal einen Beitrag über Karthago. Einer erzählte, dass sich ein Mitglied der Gruppe Ingo Insterburg und Co. der Jörg Ellebracht dort sehr engagiert hat, Ausgrabungen gefördert usw. Damals dachte ich so bei mir: Das wirst Du alles nie im Leben sehen. Und einige Jahre später war ich dort. Das war was Wunderbares.

Noch ein schöner Goethe-Spruch:

Ja schelte nur und fluche fort
Es wird sich Beßres nicht ergeben
Denn Trost ist ein absurdes Wort
Wer nicht verzweifeln kann
der muss nicht leben.

Also, übersetzt: Bei Ausbleiben von Verzweiflung, keine Lebenszufuhr mehr. Na, also. Man kann das Verzweifeln ja auch mit einer Überdosierung gesunden Zweifels homöopathisch behandeln.

Also dann beste Grüße an die Elbe.

von Magda

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Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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