Lieber Jakob Augstein, liebe Redaktion
Sie schreiben:
Liebe Magda, lieber ed2murrow, da scheinen im Hintergrund ja interessante Geschichten durch ... Ihre gemeinsame Vergangenheit bei diesel Lyrik-Portal klingt spannend. Erzählen Sie doch mal.
Ich habe im kleinen Nachfolgeforum mal nachgefragt und verlinke zu dem entsprechenden thread
literatourkaffee.forenking.com/ftopic-1003.html
Sie werden spüren, dass es da massive Kränkungen und Enttäuschungen gab.
Vor allem, weil von diesem Forum nichts übrig ist.
Nichts außer dem, was Forenmitglieder selbst gespeichert haben.
Erfahrungen aus dem Literaturcafe
Schon die unterschiedlichen Einlassungen von ed2murrow und mir dazu zeigen Ihnen, wie verschieden die Sichten drauf sind.
Die Bereiche, die Wolfgang Tischer wichtig waren : Buchempfehlungen, Literaturnews und ähnliches, die es auch heute noch gibt, waren strikt getrennt vom Forum. Das ist der Unterschied und W. Tischer hat sich für das Forum auch nicht interessiert, sagt man.
Das Anliegen, des Freitag Redaktion und Bloggerei zu verzahnen schafft andere Probleme (das ist natürlich nicht mein Thema)
Sie schreiben:
Das mit den Hoffnungen verstehe ich nicht
Was "der Freitag" betrifft,
Es werden hier schon Hoffnungen geweckt. Die Blogger hoffen, durch ihre Blogs Aufmerksamkeit, Auszeichnung, eventuell auch die "Printweihe" zu erhalten. Und diese Hoffnung wird mit dem hierarchischen Einordnen Blogger, Publizist, Autor ein bisschen genährt.
Was das LC betrifft:
Da mag es ähnlich gewesen sein:
Ich persönlich habe nie das Gefühl gehabt, dass dort Hoffnungen geweckt worden sind. Aber andere eben schon. Manche Hoffnungen beruhten schlicht auf Illusionen über die eigenen Fähigkeiten.
Man musste natürlich auf Kritik gefasst und eingestellt sein.
Streitpunkte waren immer sehr kontroverse "schöngeistige" Auseinandersetzungen um die literarische Qualität von Texten, über die Art, wie Leute Texte verstehen. Das aber wusste jeder und ich muss sagen, da flogen ab und an die Fetzen.
Es gab auch immer wieder "Selbstdarsteller", es gab dort einen, der alle mit seinen schrägen Textfragmenten, seinen irren Romananfängen und Gedichten, verrückt gemacht oder amüsiert hat. Unschlagbar. Ein Internet-Genie. Andere fanden - ein absoluter Spinner, ein Troll, ein Störer.
Aber dieser war und ist einer der intelligentesten und kreativsten Leute dort, was nicht jeder verstehen wollte, aber selten forenkompatibel ist.
Es gab eine sehr sachkundige Germanistin, gute Autorin, die allerdings auch sehr gnadenlos urteilte und damit viel Ärger hatte. Es gab andere Forumsteilnehmer, die sich ernsthaft mit den Texten befassten. Ich habe da auch allerlei über das Erzählen gelernt. Vor allem von denen, die gut und kompetent Alltagsgeschichten erzählten.
Es gab aber auch Scherzkekse, die über alles herfielen. Ich war am Anfang eine von denen, habe mich dann aber sehr gebremst und eingeordnet.
Es gab - immer wieder und scheinbar aus heiterem Himmel - plötzliche wilde Streitereien. Das ist etwas, dass man - von außen - für völlig unverständlich hält. Das gibt es aber (im Moment hier auch) und dann kann man beobachten, wie die einen mit dem Kopf schütteln und die anderen sich in die Schlacht begeben. Einmal hat einer - völlig wirr und wie mir schien unmotiviert - Paul Celans Todesfuge durch alle Foren geschleift. Mit so was umzugehen, ist schwer. Deshalb gabs dann ein Forum, in das man nur reinkam wenn man Adresse und Telefonnummer hinterlegte. Aber trotzdem amüsierte man sich besser in den unmoderierten Foren.
Es gab - wie hier in der FreitagsCommunity - das Bedürfnis nach einem etwas intensiverem virtuellem Kennen lernen und persönlicher Kommunikation. Dem wurde mit einer "Sitzecke" auch Rechnung getragen. Die war immer am meisten besucht.
Das ist der Unterschied zum Forenaufbau des "der Freitag", der so etwas nicht wirklich fördert, weshalb immer in den Blogs selbst dann der Ausweg gesucht wird und blogfremde Chats dort unterkommen. Am Anfang fand ich das unmöglich, inzwischen sehe ich, dass es auch dem Forenaufbau des Freitag geschuldet ist. Es gibt keine "Ecke".
Noch etwas, das in allen Foren glaube ich gleich gehandhabt wird: Wenn ein Text kommentiert wurde, rutschte der automatisch wieder nach oben. Man konnte dadurch auch Sachen, die schon ein bisschen älter waren, wieder in Sichtweite bringen, nach oben befördern. Manchmal taten das die Autoren selbst, aber das war eher die Ausnahme und das konnte man nur einmal oder zweimal machen. Mir hat dieser Modus gut gefallen, weil das eine ganz normale Konkurrenz war, die nichts beschädigt hat.
So konnte man auch gemeinsame Projekte machen: Zum Beispiel ein gemeinsames Tagebuch, das - weil viele sich eintrugen - immer oben, immer in Aufmerksamkeitsnähe war.
Aber so etwas geht in einer Community in Verbindung mit einer Wochenzeitschrift, die aktuell sein muss, sicher nicht.
Es gab aber auch unter den engagierten Teilnehmern immer solche, die neue Anregungen entwickelten.
Dieses - leider zerschossene - Tagebuch zum Beispiel
Ein Satzanfang musste weiter erzählt werden
Ein Gedicht wurde vielstimmig geschrieben
Eine Debatte wurde angestoßen
Ein Wettbewerb zu einem Thema wurde initiiert
So was ging ganz selten von Tischer aus, immer von den Teilnehmern.
Sie schreiben:
Aber in der Tat: Mehr Inhalt, mehr Debatte über Inhalt, das wünsche ich mir auch!
Was mir auffiel, war, dass von einem bestimmten Zeitpunkt an, plötzlich lebhafte Debatten nicht mehr geführt worden sind. Warum kann ich überhaupt nicht sagen.
Aber, wenn ich es mir recht überlege, war die letzte große Debatte um den 11. September 2001. Dann verflachte es. Als hätten die Leute einen Schlag erhalten. Es tauchten plötzlich diese Rechtsunsicherheiten um die Verlinkung und die Urheberrecht auf, die vielleicht bei Tischer auch eine Rolle gespielt haben.
Und - es gab immer wieder Qualitätsdebatten. Aufgefallen ist mir allerdings, dass es manchmal auch Debatten zwischen unterschiedlichen Charakteren und Temperamenten war und die "Qualität" nur der Aufhänger dafür.
Der Unterschied zwischen LC und "der Freitag" ist auch : Dass sich in diesem Literaturcafe sehr unterschiedliche Schreiber einfanden. Und mit sehr unterschiedlichem politischen Hintergrund oder gar keinem. Also wenig homogen, das Ganze.
Hier bei "der Freitag" hat man eine ziemlich ähnlich politisch interessierte Gruppe, sicher mit unterschiedlichen Akzenten, aber doch gewillt, politische Debatten zu führen, politische Informationen zu erhalten. Dass das nicht geht - ohne "allgemein Menschliches", dass sogar Streit und Zoff die Aufmerksamkeit erhöhen - das ist eben so.
Diese Selbstbezüglichkeiten kriegt man nur "raus", wenn neue Leute hinzu kommen. Dann ändert sich wieder das Gruppenklima und so weiter.
Mehr fällt mir nicht ein. Ich dachte jetzt gerade darüber nach, ob die Leute für die Mitwirkung dort einen Obolus entrichtet hätten. Kann schon sein. Aber wer sollte das eintreiben und verwalten in diesem kleinen Forum.
Ich denke das ist jetzt erst mal alles von mir
Mit Gruß
und Bitte um Ergänzungen oder Berichtigungen von eventuell hier noch herumgeisternden LC-Forumlern.
Kommentare 5
INTERESSANTER BLOG
Schade, dass man nicht nachlesen kann, was der Ursprung dieses Beitrags ist. Geht es um Erfahrungsaustausch, Unterschiede, oder haben sich hier nur zwei zufällig getroffen, die mal im Forum des Literaturcafés verkehrt haben?
Als Gemeinsamkeit von Literaturforum und Freitag-Community sehe ich die Selbstdarstellung. Diese ist in einem Literaturforum weitaus ausgeprägter als in einer Blog-Community; hier geht es um Meinungen, Sachverhalte und Informationen, in einem Literaturforum um Bewertung: Du schreibst schlecht. Das verletzte Selbstwertgefühl reagiert verschnupft bis aggressiv. Die Kränkungen, von denen Magda schrieb, sind aber weniger die Kritiken, sondern die nachfolgenden Verunglimpfungen. Aus dieser - durch der Anonymität der Nutzer noch geförderten - Aggressionskultur heraus entstanden durch bewusste Provokationen regelrechte Forenkriege. Später erkrankte das LC-Forum an einem Virus: Die Zahl der Spaßvögel nahm ständig zu, darunter auch durchaus intelligente ›Scherzkekse‹. Durch das veränderte Gruppenklima blieben schließlich auch die ungemein spannenden Diskussionen über politische und gesellschaftliche Vorgänge aus (zu denen Magda gerne auch mal kontroverse Beiträge lieferte). Durch ein technisches Versagen der Foren-Software blieb es Wolfgang Tischer erspart, seinem Forum aktive Sterbehilfe zu leisten.
Das von Magda verlinkte Forum ist nur äußerlich mit dem Forum des Literaturcafés vergleichbar. In dem verlinkten Forum bedarf es m.W. nach der Registrierung des Nutzers einer Freischaltung durch die Administration, die auch Streitfälle unterbindet. Im Literaturcafé-Forum gab es nur einen einzigen Bereich mit Freischaltung (Textwerkstatt), ansonsten ungeschützten Verkehr mit sporadischen Eingriffen von oben, wenn es wieder einmal auszuufern drohte.
Soweit meine Anmerkungen und Ergänzungen.
Mit herzlichem Gruß
Lieber Helmut,
dann frag mich doch einfach. Schön, dass man sich mal "sieht"
Der Hintergrund ist im Forum von Jakob Augstein zu finden, das aber ellenlang ist, weswegen ich die enthaltenen Fragen entnommen habe.
Ich suche mal schnell und stelle mein posting an ed2murrow und seine Antwort rein. Alles zusammen ist hier
www.freitag.de/wochenthema/0947-eine-frage-der-freiheit
Ich schrieb, weil sich ed2murrow als kurzer Litkaff-User outete:
Lieber ed2murrow,
Sie schreiben, das Problem, dass Leser gern Autoren wären, habe - ähnlich dem Niedergang des focus-Magazins - auch bei der Gemeinschaft des literaturcafe.de zur Auflösung geführt.
Ich habe dort bis zum Schluss mitgeschrieben und teilweise moderiert und habe es anders in Erinnerung. Wolfgang Tischer hat erklärt, das Forum sei ihm zerhackt worden und Ende und aus.
Meiner Ansicht nach war es aber so, dass Tischer keine Lust mehr auf allerlei Aufwand hatte. Das Forum dort war eines der lebhaftesten und interessantesten, die ich kenne - einschließlich der unglaublichen Streitereien und Ärgereien, an denen ich mich damals noch hochvergnügt beteiligt habe, bis ich - in die Pflicht genommen - auch zahmer wurde.
Sicher gab es immer Autoren, die sich überschätzt haben, darin besteht ja der Gag. Es gab Texte, die manchmal sogar zu germanistisch-professionell zerpflückt worden sind, es gab fiese Trolle, es gab aber auch Schreiber, hinter deren Albernheiten ein ziemlicher Genius steckt - daran denke ich noch heute mit allergrößtem Vergnügen.
Wenn also das stimmt, was Sie sagen, dann war die Schließung des Forums nichts als ein mieser Trick von Tischer. Hatte ich mir manchmal schon gedacht. Kann natürlich sein, dass ein Hackerangriff ihm höchstwillkommen war.
Es gibt ein kleines Nachfolgeforum, dem ich diesen Kommentar mal verlinken werde. Dahin sind einige "geflüchtet", weil solche Gemeinschaften ja auch reale Folgen haben.
Das ist natürlich nur ein Randthema in diesem allgemeinen Streit um die Zukunft des Internets. Es würde mich nur interessieren, woher sich Ihre Meinung über die Gründe für das Ende des Literaturcafe-Endes speist.
Magda
Dann ed2murrow schrieb am 20.11.2009 um 12:23 Sehr geehrte Madge,
wenn ich mich recht entsinne, wurden Sie vom Publikum beim literaturcafe so angesprochen. Woher ich das weiß? Dort schreibend, allerdings unter einem anderen Pseudonym, ebenfalls eine ganze Zeit lang, um gewisse Fähigkeiten auszuloten. Mir wurden, auch von Ihnen, auf beeindruckende Weise und sehr sachlich, Grenzen aufgezeigt, die ich beherzigt habe. Aber das war die Ausnahme. Die Kraftmeierei, die zum Finale hin immer präpotenter wurde, sowohl auf Seiten derer, die sich anmaßten, Autoren in spe zu sein als auch die teilweise rotzige Überlegenheitsattitüde der virtuell gewordenen Ranicki-Emulanten, führte zu einem schlicht untragbaren Klima.
Über die Motive Tischers kann ich nichts sagen. Aber mich haben simple Mechanismen und ihre Parallelität bei focus und cafe erstaunt, obwohl sie sich von Zielrichtung und Corpus her so sehr unterscheiden: Plattform für eigene wirtschaftliche Tätigkeit; Aufruf an das Publikum, mitzuwirken; Versuch der Einbindung dieses Publikums durch Herstellung einer Verbindung zwischen Produkt und Publikumsplattform (beim cafe: Auswahl von Texten zur professionellen Analyse; beim focus: Forensystem unmittelbar mit redaktionellem Inhalt verlinkt); Ausufernde Selbstbespiegelung der Publikumsplattform, damit einhergehend die zunehmende Bedeutungslosigkeit des eigentlichen Zwecks, dem der Bindung an das Produkt; Hackerangriffe oder Invasion von 88ern, jedenfalls exogene Gründe als Grund (Vorwand?), die Sauce einzukochen. Und, le grand final: Wehgeschrei des Publikums, „ich kann hier nicht mehr schreiben.“ Ist das vielleicht einer der Gründe, warum Blogs heute so populär sind?
Diese Plattformen, wie auch die, auf der wir gerade schreiben, sind nicht verächtlich zu machen, nur weil man sich in der Findungsphase einer für die Menschen kulturell neuen Kommunikationsform befindet und dabei unvermeidbar Fehler macht. Es ist die Fadenscheinigkeit des dem Politikersprech angepassten Duktus‘, mit dem in der Vergangenheit und leider auch im Präsens etwas „verkauft“ wird. Der Eine, wie Blau, macht es so: „Auch Sie laden wir herzlich ein, sich auf ZEIT ONLINE Ihre eigene Profilseite einzurichten und dort mit anderen Lesern und unseren Redakteuren Kontakt aufzunehmen.“ Andere machen es ein wenig volkstümlicher, ich bin versucht zu sagen, anbiedernder, und doch nicht weniger gekünstelt werbend.
Diener bin ich, geehrte Madge, nicht. Eher Narr mit Marotten. Als altertümliche Sprachjongleurin wissen Sie, was ich meine.
Mit freundlichen Grüßen, e2m
Stimmt natürlich, dass das kleine literatourkaffe nicht direkt ein Nachfolgeforum ist, aber anmerken wollte ich es schon.
Lieber Gruß
und vielleicht bis bald mal wieder
Sehr geehrte Madge,
in den Reaktionen im Literatourforum sehe ich mich weitestgehend bestätigt, obwohl ich bis zu Ihrem Posting gar nicht wusste, dass es dieses Forum gibt und ich auch sonst zu den dort oder vormals Mitwirkenden keinerlei Kontakt habe. Vor allem in der, wie es Beckmann bezeichnet, „Aggressionskultur“, obwohl ich das eher für ein unpassendes Oxymoron halte.
Aber nicht an einer inhaltlichen Aufarbeitung von Fehden dürfte Augsteins Fragestellung ausgerichtet sein, sondern an Mustern, die es zu vermeiden gilt, will man dem hiesigen Projekt Dauer verschaffen, wohin es inhaltlich auch immer hingehen mag.
Der fundamentalste Aspekt ist m.E. der Aufbau von Kompetenz statt des Weckens von Hoffnungen. Im Gegensatz zu Jarvis, der meint, „dass man als Journalist auch Lehrer sein muss“ sollte das nicht bedeuten, den Teilnehmern an Blog- oder Forensystemen „unter dem wärmenden Federkleid von Verlagen (Streifzug)“ einen Schnellsiedekurs in Journalismus zu erteilen. Darin lag nämlich ein Grundübel des literaturcafe: Aus einem schlechten Gedichteschreiber macht man keinen Lyriker, aus dem Possenreißer keinen Eulenspiegel reloaded. „Sie können hier schreiben“ wurde vom Publikum (aber auch von einigen Moderatoren) missinterpretiert als „Sie dürfen sich hier entledigen“. Die generelle Prädisposition, erst recht die zu einem Genre, war da allzu oft völlig irrelevant, denn „man“ war ja in der Lage, einigermaßen grammatikalisch Buchstaben aneinander zu reihen und damit gehörte „man“ ganz selbstbewusst dazu zum erlauchten Kreis der Dichter und Denker. Unter diesen Vorzeichen konnte ein gedeihliches Miteinander zwischen Könnern und Laien, zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht funktionieren, obwohl gerade Sie, geehrte Madge, viel Geduld und Engagement in diesem Sinne aufgewendet haben.
Eine Parallele zu dem Dilemma stellte ich vor nicht langer Zeit in der online-Ausgabe einer, sagen wir, größeren Publikation aus dem Süden Deutschlands fest. Eine leidlich ausgebildete, weil zumindest vom Duktus her ausgewiesene Schreiberin berichtete für einige Zeit über Italien, möglicherweise als Aushilfe, weil der dortige Korrespondent nach Paris versetzt worden war. Die Dame war derart überfordert, dass sie im Zusammenhang mit dem heiklen Thema des Medienimperiums Berlusconis einige wahrhaft sinnentstellende falsche Tatsachen schrieb, die ohne weiteres aus allgemein zugänglichen Quellen hätten verifiziert werden können. In den Augen des Publikums wäre also sie Profi, und doch lief sie in die Falle, die Jarvis mit „dem Mythos des qualitativ guten Journalismus“ beschreibt. Jarvis verschweigt nämlich eines, und das hängt sicher mit seiner Lehrtätigkeit an einer Journalistenschule zusammen: Wenn schon online-Journalisten nicht kompetent sind, wie wollen sie Kompetenz weiter geben? Vor allem, und damit schließt sich der Kreis, gegenüber einem Publikum, das sich sagt, „man“ gehöre dazu zu diesem erlauchten Kreis der Finder und Schreiber, vulgo Blog(g)er. Ich bin selber einer, atypisch vielleicht, aber ich kenne meine Grenzen. Und einen Gustav Seibt, den ich verehre, kann so schnell niemand einholen, egal ob Profi oder Dilettant.
Jarvis hört sich off-the-record denn auch ein ganz klein wenig anders an: „There is no more urgent need in journalism than facing honestly the challenges brought on by change - and finding opportunities there - to decide as a society what kind of news we can and must have to stay informed.” Das ist ein Zitat von eben ihm auf einer Seite des „Reuters Institute for the Study of Journalism“ bei der Universität Oxford unter dem bezeichnenden Titel „What’s Happening to Our News“. Nicht „wer“ ist da Mittelpunkt, sondern „was“, und das ist die Nachricht. Den Einwand, Nachrichtenagenturen müssten eben auch ihr Territorium verteidigen, lasse ich dabei aus zwei Gründen nicht gelten: Erstens basiert buchstäblich alles in den Medien zunächst auf der Nachricht, also der Mitteilung einer Tatsache. Sie muss richtig sein, beweisbar, in jeder Hinsicht belastbar. Wer garantiert dafür?
Zweitens ergibt erst die Gesamtschau der Tatsachen die Zusammenhänge und damit die Möglichkeit, eine fundierte Meinung zu formulieren. Dass ich mich gehalten sehe, diese Selbstverständlichkeit hinzuschreiben, ergibt sich wiederum aus der besonderen italienischen Perspektive. Beim Reuters Institute hielt jüngst Carlo de Benedetti die Grundlagenansprache zum akademischen Jahr 2009. Das ist ein Mann, der mit seinen Medien derzeit einen politischen Kampf ficht, der letztmalig in dieser Schärfe vor dem Auftauchen des linken und rechten bewaffneten Extremismus in den 70ern ausgetragen worden war. Wenn ein solcher Mann mit Hintergrund schreibt: „If this is the relationship between newspapers, citizens and democracy, if this triangle can hold up against the crisis and the triumph of the internet, what sense is there in the old question which gets asked of newspapers: “Who do you support?” It is high time we abandoned this question and moved on to the real question for liberal democracies to ask of a newspaper: “Who are you”?“, dann ist das keine Frage, dann ist das ein Statement zugunsten eines zwischen Verwertungsrechten, Aktiendepots und Dünkel verloren gegangenen Selbstverständnisses. Und da soll ausgerechnet der Blog(g)er, das schwächste Reserverad am Wagen, Abhilfe schaffen, womöglich noch mit liebevoller Belehrung eines Profis im do-it-yourself-Journal, das der Autor als einziger liest? Pffffft.
Praxis wäre angesagt. Weg mit dem Großsprecherischen „Die besten Texte drucken wir“. Das ist das, was der Italiener „uno specchietto per le allodole“ nennt, einen Spiegel für Lerchen, booby-trap. Drucken und basta und dem Glücklichen ein Belegexemplar zuschicken. Das weckt keine Hoffnungen und belohnt unerwartet. Fragen Sie mich, was mehr motiviert. Ich sehe den Freitag derzeit wie eine etwas noblere Ausgabe jenes Druckerzeugnisses vor einer Far-West-Kulisse, wie sie in jedem besseren Coltfilm vorkommt: Der Verleger-Redakteur-Kolumnist-Reporter-Zeitungsjunge stürzt sich auf die Straße nach dem Show-Down, blitzt, rennt zurück, schreibt, setzt, druckt und ein paar Stunden später verkauft er. Dann kommt der Whisky, wenn Kleingeld übrig bleibt. Dossiers, gesammelte Erkenntnisse anlegen wäre schon einmal ein erster Schritt, sie werden von der Leser-Autorenschaft als „Steinbrüche“ oder „wachsende Artikel“ bezeichnet. Warum, zum Donnerwetter, fängt nicht einer damit an? Muss man etwa warten, bis „endlich“ die Technik funktioniert? Doppelpfffffffffft. Zitieren und untereinandersetzen kann man jetzt schon, verlinken auch, da muss man nicht auf Teeküchen warten. Verheben kann man sich nicht, selbst für ein paar Zentner schwere großäugige Sandkörner findet sich immer ein Baggerfahrer. Warum sollte Herr Augstein bei dem Thema Öffentlichkeit 2.0, das ihn naturgemäß als Verleger-Redakteeur-etc.pp trifft, nicht den Anfang machen?! In Sachen Bagger, Sandstein und Nichtverheben dürfte er immerhin genug Erfahrung haben.
Die Antwort schuldete ich Ihnen, geehrte Madge, weil Sie in der weiten Welt des Netzes eine der wenigen Figuren sind, die mir als Moderatorin in guter Erinnerung ist und es hier auch bestätigt. Die nächsten acht Wochen werde ich leider (endlich!) nicht so mitteilsam sein können, exotischere Ziele um Weihnachten warten auf mich, von denen ich hoffentlich mit ein paar Zeilen zurück kommen werde. In der Zwischenzeit muss ich aufräumen, planen und packen. Das hat Vorrang vor jedem Blog(g)ereintrag.
Ihr e2m
errata corrige: Im vorletzten Absatz muss es statt "Ich sehe den Freitag derzeit" heissen: "Ich sehe den Freitag-online derzeit ....".