Der Lauf der Zeit

Klassentreffen Seit fünfzig Jahren wohne ich in Berlin. Wenn ich aber nach Leipzig reise, übermannen mich Melancholie und Wehmut. Alle zwei Jahre treffen sich die ehemaligen Mitschüler

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Der Lauf der Zeit

Noch immer oder schon wieder plagen mich nicht nur bei bei Reisen Schwindelanfälle und allerlei diffuse Ängste. Man wird anfechtbar mit den Jahren.

Einquartiert habe ich mich beim Stadtjugendpfarrer von Leipzig. Das hatte sich zufällig so ergeben.
Seltsam, viele Kirchenmänner haben ähnliche Verhaltensweisen. Dieser hier hat gleich angeboten, mich vom Bahnhof abzuholen, er arbeite sowieso in der Nähe und dann ginge doch alles schneller.
Ich erinnerte mich an einen gewissen ChristianBerlin, der ähnlich freundlich und hilfsbereit ist und oft anbot, mich oder andere nach einer Veranstaltung nach Hause zu fahren. Dieser hier also auch. Eingeübt im Umgang mit Menschen, das spürt man sofort. Er hat eine Wohnung in einer Straße meiner Kindheit. Das uralte Haus wunderbar und behutsam saniert. Eine Supermaisonette auf zwei Etagen.
Schnelle kleine Einweisung, dann ging ich ein bisschen spazieren in dieser Gegend, aber es fehlten mir Lust und Laune. Ich war am Karl-Heine-Kanal.

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Und ich dachte daran, wie ungeheuer schmutzig, giftig und menschenabweisend dieses Gewässer früher war. Jetzt könnte ich lange Spaziergänge entlang der ausgebauten Uferwege machen. Aber ich ging nicht weit in der scharfen, klaren Luft, in der die Sonne so blendete.

Nach dem Essen noch einmal in die Stadt. Und dann abends in Neulindenau das Klassentreffen. Diesmal fühlte ich mich weniger fremd als sonst. Ich bin ja schon so lange in Berlin und eine Außenseiterin unter den meist sehr bodenständigen einstigen Mitschülern.

Eine Schweigeminute stand an, wir werden älter.
Eine Klassenkameradin hat eine deprimierend neue Zeitrechnung. Vor vielen Jahren schon hatte sie einen Schlaganfall und davon erzählte sie pausenlos und teilt das Leben in "vor und nach dem Schlaganfall" ein. Außerdem hat sie durch Krebs ihreTochter verloren, es war ihr zweites trauriges Thema an diesem Abend. Wer will es ihr verdenken und trotzdem wichen ihr die Klassenkameraden aus, das Unglück teilt man immer nur eine Weile. Es gibt auch eine "Ökonomie" des Mitgefühls - vielleicht. Oder es hängt davon ab, auf welche Art es eingefordert wird.

Ein anderer Schulkamerad hat einen bösen Krebs gut überwunden, was mich freut, denn wir mochten uns schon in der Klasse gern.
Irgendwie schafft das zunehmende Alter ein neues Zusammenrücken. Es ging lärmend aber herzlich zu. Im Hintergrund saß ein Lehrer von einst. Sehr alt, freundlich still und geduldig, ein Denkmal des Laufs der Zeit.

Der Bruder einer Klassenkameradin fuhr mich und andere Klassenkameraden nach Hause. Ich traf meinen Gastgeber noch an. Er las mir seine Sonntagskolumne vor und wir plauderten ein paar Minuten. Am nächsten Tag morgens fuhr ich nach Berlin zurück. Melancholisch und trotzdem zufrieden, dass ich da war.

Das Haus Karl-Heine-Straße 42, in dem ich viele Jahre wohnte, ist abgerissen.

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Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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