Der Menschheitsfortschritt macht viel Müll

Geschichte und Kunst Ein spontaner Sermon, der überhaupt keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erhebt.

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Es ist schon so: Ob es sich um kreative geniale Menschen oder um politische oder auch künstlerische Bewegungen handelt: irgendwann wird das, was sie an Gutem, an Ideen, Sicht- und Denkweisen nach vorn gebracht haben, wem sie zum Durchbruch verholfen haben, eingespeist ins kollektive Bewusstsein und als selbstverständliches gesellschaftliches Besitztum betrachtet. Es ist halt vorhanden und das ist gut so.

Mit nimmer versiegendem Eifer stürzt man sich auf das, was man den Bodensatz, den Müll, die Abgase solcher Bewegungen oder auch großer Persönlichkeiten bezeichnen könnte. Und auch das ist gut so. Auch das soll nicht vergessen werden.

Beispiele finden sich andauernd und man muss da gar nicht die sattsam Bekannten, die „großen Berüchtigten“ nehmen.

Beispiel Rainer Werner Fassbinder– ein Wegbereiter des deutschen Films, einer der ihn weltberühmt gemacht hat, Filmkunst international beeinflusst hat. Mit Wirkung bis auf den heutigen Tag.

Aber – so macht ein Dokumentarfilm über ihn deutlich – auch einer der die Seinen ums „Ich“ scharte, manipulierte, demütigte, psychisch und physisch. Viele Weggenossinnen, Schauspielerinnen und Schauspieler, viele, die „Mädchen für alles“ waren und seine wechselnden Lieben berichten darüber. Immer wieder Spaß auch daran „Gott zu spielen“, meinte Hanna Schygulla, Irm Hermann spricht über ständige Mobberei und Demütigung. Sein letzter Freund hat sich umgebracht. Fassbinder – ein Menschenverzehrer. Ein Menschenverächter oder einer von seinem Gestaltungswillen Getriebener? Viel wird darüber diskutiert, alle seine Weggefährtinnen und –gefährten werden in mit allen Zweifeln in Erinnerung behalten. Bleiben wird von ihm aber seine Kunst.

Mitten im Film fiel mir der immer wieder aufflammende Diskurs über Bertolt Brechts Arbeits- und Lebensweise ein. Ein Ausbeuter, meinen viele, machte Frauen zu seinen Gehilfinnen, ihre ganze Kreativität mündete in sein Schaffen. Einer der sich im maßgeschneiderten Arbeiterjäckchen darstellte, Privilegien genoss. So stellt man ihn vor so setzt man ihn herab. Was wird von ihm bleiben? Seine Kunst, seine Stücke.

Vor einiger Zeit schon sah ich den Film

Meine keine Familie

über die „Kommune Friedrichshof“ im Burgenland, die der Maler und Aktionskünstler Otto Mühl in den 60er Jahren betrieben hat.„Dass wir Kinder das alles überlebt haben, das wundert mich im Nachhinein. Vielen von uns geht es heute nicht gut, aber wir haben alle genug Lebensenergie.“, sagt ein Teilnehmer. Die entsetzliche Szene aber, in der ein kleiner Junge gedemütigt wird, weil er sich dem Willen des „Meisters“ verschließt, einen eigenen Willen hat und nicht tut, was man von ihm verlangt, nämlich irgendwas vorzutragen. Und wie Otto Mühl ihm, der schon am Weinen ist, Wasser über den Kopf schüttet, das ist so ekelhaft, das ist so entlarvend und ging mir endlos nach. Und dass von der ganzen Gemeinschaftstruppe niemand diesem Kind beistand. Fürchterlich. Die Frage, ob man den Künstler vom Kommunenchef trennen kann wird gestellt. Nein, wozu auch.

Mühl sagt im Video von sich „Ich war Sexsklave, die Frauen haben mit mir gemacht was sie wollten“. Hohe Kunst der Verhöhnung und Verleugnung.

Und wie ist es gegenwärtig in der politischen Aufarbeitung der 68er Bewegung und der Geschichte der Grünen?

Nicht nur der sexuelle Missbrauch, pädosexuelle Untaten schwammen im Windschatten des Strebens, Sexualtät aus bürgerlich-christlichen Fesseln zu befreien. Auch die ganz gewöhnlichen Beziehungen zwischen den Geschlechtern wurden für „befreit“ erklärt, aber es entstanden neue Zwänge und neue Enge. Und prima Instrumente für Schuldzuweisung, Skandalisierung in der politischen Auseinandersetzung.

Was wird von all dem bleiben? Der Aufbruch? Der Diskurs über neue Freiheiten oder der Rekurs auf alte Zwänge?

Keine Ahnung, ich weiß nur, dass sich viele Leute aus Westdeutschland durch die 68er Bewegung befreit fühlen und denen im Osten erklären, dass das Fehlen einer solchen Bewegung auch ihre „Defizite“ mit erklärt. Mir fällt dabei allerdings auf, dass errungene Freiheiten immer Leute finden, die sich dieser Freiheiten brachial bemächtigen und sich andere wieder untertan machen. Auch Otto Mühl war so einer. Aber, nicht nur er. Und dass es einen tiefen Hang gibt, sich solchen Befreiern unterzuordnen. Ganz freiwillig ohne „Zwang“ in der Kunst und im Leben.

Steht auch hier: https://magdaskram.wordpress.com/2017/09/15/der-menschheitsfortschritt-macht-viel-muell/

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Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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