Die alltägliche Gefahr

Judenverfolgung Vor einigen Jahren schon erschien im Fischer-Verlag das Erinnerungsbuch „Untergetaucht“ von Marie Jalowicz Simon. Darin schildert sie ihr gefahrvolles Leben als Jüdin, die sich jahrelang in Berlin vor den Verfolgungen versteckte

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Buchvorstellung mit Hermann Simon, Sohn der Shoah-Überlebenden Marie Simon, im Jahr 2014
Buchvorstellung mit Hermann Simon, Sohn der Shoah-Überlebenden Marie Simon, im Jahr 2014

Foto: Gerhard Leber/IMAGO

Marie Jalowicz Simon (1922–1998) lehrte viele Jahre an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie hatte eine Professur für Antike Literatur und Kulturgeschichte inne. Über ihre Erfahrungen in der Zeit der Verfolgung hat sie lange geschwiegen. Erst kurz vor ihrem Tod besprach sie – gedrängt von ihrem Sohn Hermann Simon – viele Tonbänder. Daraus entstand ein Bericht, der alles erzählt, aber auch wirklich alles.

Nichts wird ausgespart

Selten habe ich eine so drastische und dramatische Schilderung dieser Situation immer am Rande des Abgrundes gelesen. Sie sparte nichts aus, nicht die Tragikomik, nicht das Ausgeliefert sein gegenüber manchen sexuellen Wünschen ihrer Beschützer, nicht ihren Blick in eine soziale Welt, die sie lange Zeit nicht kannte, in ein Berlin der Armut und sozialer Not. Weder die Feigheit noch den Großmut lässt sie unbeschrieben. Der ganze, jeden Tag neu zu bewältigende Alltag in Angst und Vorsicht steht vor uns auf. Und auch die ganze gefahrvolle Trivialität alltäglicher Notwendigkeiten: seine Notdurft verrichten, sich waschen können, und ohne eine Bewegung einen Tag in einem Korbstuhl verbringen. Aus dem gleichen Topf zu essen, in den man seine Notdurft verrichtet. Ich denke, dass es nur eine Frau so schreiben kann, hne jede Beschönigung und ohne jeden Glanz.

Die Bürokratie rettet oder bringt den Tod

Marie Simon beschönigt nichts, sie lässt uns teilhaben an ihrem Lebensziel: Ich will weiter leben. Und immer wieder ist sie am meisten gefährdet durch die Verwaltung und Bürokratie, die Leben und Tod kontrollieren. Gefälschte Papiere, Bescheinigungen, Pässe sind die Eintrittskarten in eine – wenigstens vorläufige – Legalität. Immer wieder muss sie neu wandern, immer wieder neuen Unterschlupf suchen. Und immer wieder wird sie Zeugin fremden Lebens, erlebt sie Lebensweisen, Familienschicksale, -zusammenhalt und -fehden.

Und immer mal wieder geht die Frage auch an sich selbst: Was hättest Du getan, hättest Du geholfen?

Erst nach der Befreiung konnte Marie Jalowicz Simon wieder über eine eigene Wohnung in der Binzstraße 7 in Berlin-Pankow verfügen.

Die AG Spurensuche des Frauenbeirates Pankow plant, an diesem Haus eine Gedenktafel anzubringen und einzuweihen. Die feierliche Enthüllung soll rund um ihr Geburtsdatum stattfinden. Am 4. April 2022 wäre sie 100 Jahre alt geworden.

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Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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