Bloggen ist anders ist als Berichterstattung. Das ist auch gut so, denn so kann ich über die Veranstaltung, zu der die Rosa Luxemburg-Stiftung geladen hatte, auch allerlei abschweifende Anmerkungen machen. Harald Wolf, von 2002 bis 2011 Senator für Wirtschaft Arbeit und Frauen, sprach mit Tom Strohschneider – Chefredakteur des ND – über seine Publikation über die Regieurungsjahre in Berlin, die er kritisch und auch selbstkritisch betrachtet. visa-verlag Rot-Rot in Berlin
Die Frage, welche Spuren linkes Regieren legen oder hinterlassen kann, ob und wie es gelingt, als Regierungspartner im parlamentarischen Betrieb erkennbar zu bleiben, Kompromisse abzuwägen, die nun mal in einer Koalition erforderlich sind und sich doch nicht korrumpieren zu lassen, das war der Hintergrund in dem Gespräch und – mal wieder – sehr aktuell.
Damals in Berlin traf die rot-rote Regierung auf eine desolate Situation, auf die Folgen eines Bankenskandals, im Grunde der großen Immobilienkrise in den USA ähnlich. Eine Bank musste gerettet werden - etwas, das eine fast klassische linke Idiosynkrasie darstellt. Ein Haushalt musste saniert werden – wie immer – durch Kürzungen. Sanieren, Sparen, statt Verteilen, so Strohschneider. Die Wahlversprechen vorher waren anders. Rekordarbeitslosigkeit, ein aufgeblasener zweiteiliger Verwaltungsapparat, eine noch immer starke Spaltung in Ost und West. All das bestimmte jene Zeit noch immer.
Der Publizist Mathew D. Rose nannte die Metropole in einem Buch der 90er Jahre Berlin Hauptstadt von Filz und Korruption und setzte dies nach der der Jahrtausendwende erneut mit Warten auf die Sintflut - Über Cliquenwirtschaft, Selbstbedienung und die wuchernden Schulden der Öffentlichen Hand - unter besonderer Berücksichtigung unserer Hauptstadt fort.
Klientelismus
Griechenland
Das Stichwort dazu ist : Klientelismus Und – wenn man googelt oder anderswo ein bisschen recherchiert – landet man – ja wo – flugs in Griechenland.
Tom Stohschneider fragte nach bei Harald Wolfs Aussage: Rot-Rot vollzog eine Transformation von einem parasitär-klientelistischen Modell zu einem Modell »normaler« kapitalistischer Entwicklung. Damit ist noch kein Ausbruch aus dem Neoliberalismus verbunden. Zu glauben, man könne isoliert in einer einzelnen Stadt oder einem einzelnen Bundesland ein Gegenmodell zum Neoliberalismus entwickeln, wäre illusionär.
Auch hier kommt mir in den Sinn, dass es am Ende Alexis Tsipras - dem viel Gescholtenen und Kritisierten – in weit schlimmerem Maße so geht wie damals der LINKEN in Berlin. In Filz festgeklebte unentwirrbare Strukturen, die aufzubrechen unendliche Zähigkeit und auch Macht erfordert. Eine verkrustete Klientel-Gesellschaft in einen wenigstens "normalen Kapitalismus" zu verwandeln ist unter diesen Bedingungen ein kräftezehrender politischer Kampf und bei diesem Kampf springen Verbündete vom Wagen. Z. B. Yannis Varoufakis, der die Illusion hatte, dass das David und Goliath- Modell sich im Kampf gegen die Troika, die „Institutionen“ bewähren würde. Er kennt doch aber sein Land, das sich historisch noch immer mehr im Athener Klientilismus befindet als in der parlamentarischen Gegenwart.
Doppelte Zwänge - von außen
und von innen
Nur durch diese doppelten Zwänge – durch die Troika und durch die Klientel-Wirtschaft - lässt sich erklären, dass sich Syriza an Protesten gegen eigene Regierungsentscheidungen beteiligt. Sie tun es, um ein Symbol – sowohl gegen die Zange der Troika, als auch gegen jenen Klientelismus - zu setzen, der noch immer am Zuge ist. Deutlicher wird, dass manche rechtliche Maßnahme gerechtfertigt und notwendig war und ist, die – unter anderen Regierungen – verschoben wurde, weil die Klientel sie blockierte.
Beim Freitag habe ich – neben vielen anderen – auch einen Beitrag gefunden,der den Kampf des Mittelstandes und ganzer Berufs- und Bevölkerungsgruppen um diese Privilegien kritisch beleuchtet Auf die Barrikaden
Ohne Vorbereitung
und ohne genügend Kader
Zurück in die Berliner Jahre. Harald Wolf erinnert sich, dass es zu Beginn Zeiten gab, da waren er und manche in der Berliner PDS/LINKEN fast erleichtert, als es vorübergehend – unter dem Druck der Bundes-SPD unter Schröder – nicht nach Rot-Rot aussah. Syriza muss es ähnlich gegangen sein. Ohne Vorbereitung, Kader zu benennen, die einen Senatsposten übernehmen können, das war eine schwierige Kiste. Und – was mir noch in den Sinn kommt - plötzlich sein ganzes Leben ändern zu müssen, denn auch das ist die Folge eines solchen abrupten politischen Bebens – es intensiviert und erhöht das Lebenstempo, ein Stress, dem nicht Jeder und Jede sich aussetzen will.
Gregor Gysis
schneller Rücktritt
Gregor Gysi – Wolfs kurzfristiger Vorgänger – trat schnell zurück. Die Bonusmeilenaffäre ist bekannt. Und vielleicht auch das mit Hintergrund.Ob er die Mühen der metropolen Ebenen mied oder ob deutlich wurde, dass er an anderer Stelle – ohne Senatsverantwortung - nützlicher sein konnte, ich weiß es nicht. Immerhin geht aber auf ihn der Satz zurück, dass „Regieren ein Wert an sich". Mir gefällt der Satz, weil man ohne Regierungsmöglichkeit viele Instrumente einfach nicht nutzen kann. Bodo Ramelow hat das kürzlich mal angemerkt und es schien plausibel.
Harald Wolf hat sich über die Schwachpunkte jener Zeit geäußert – man kann sie in seinem Buch nachlesen – und auch über das, was ihm gelungen erscheint.
Was macht die LINKE
wenn es wieder ernst wird?
Mir ging durch den Kopf, was das alles mit neuen Ausblicken zu tun hat. Was macht eine LINKE, wenn es wieder ernst wird?
Dazu gab es einige Tage zuvor auch ein Gespräch. Diesmal in Potsdam – erfreulicherweise Weise als Video zu sehen.
Ist es so, dass der Kapitalismus entweder unrettbar verloren ist (Robert Misik) oder in einem „sozialistischen Kompromiss“ (Tom Strohschneider) so zu verändern sein müsste, was auch Verteidigung der parlamentarischen Demokratie bedeutet, um überhaupt linkes Handeln und politischesEingreifen noch möglich zu machen? Bedenkenswert. Beide haben dazu Bücher geschrieben.
Eine ganz aktuelle Meldung zum Abschluss. Auf der Potsdamer Veranstaltung und auch gestern wurde der Mangel an linker Solidarität mit Syriza und Tsipras thematisiert
SPD Chef kündigt internationale Konferenz mit Syriza an
Es ist abzuwarten, wie die LINKE darauf reagiert. Vielleicht hat es Sinn, wenn sich die SPD - via Syriza-Soli - auch von der CDU und der Kanzlerin absetzt - denn im Moment gibt es durchaus Chancen, über das Verhältnis zum gebeutelten Griechenland Profil zu gewinnen.
Die Medien sprechen von Frühwahlkampf.
Kommentare 22
Die Frage, welche Spuren linkes Regieren legen oder hinterlassen kann, ob und wie es gelingt, als Regierungspartner im parlamentarischen Betrieb erkennbar zu bleiben, Kompromisse abzuwägen, die nun mal in einer Koalition erforderlich sind und sich doch nicht korrumpieren zu lassen...
Weiß ich ehrlich gesagt auch nicht! Ich bin da(auch) ratlos, ob und wie überhaupt ein "linkes" Regieren innerhalb des festgezurrten neoliberalen Rahmenwerks der EU gelingen kann. Sie zeigen ja selbst Beispiele auf, die nicht unbedingt Hoffnung auf einen wirklichen "linken" Gesellschaftswandel durch das etablierte Parteienystem machen. Extrem enttäuscht bin ich von Tsipras/Syriza, die die neoliberalen Befehle aus Brüssel gegen die Menschen in GR (fast) widerstandslos exekutiert haben.
Darüber hat Wassilis Aswestopoulos eine gute Analyse zur Ausplünderung Griechenlands (der Bevölkerung) unter Tsipras 2.0 in "telepolis" veröffentlicht, die unter anderem auf die dramatischen Folgen für die Menschen in Griechenland eingeht:
"In Griechenland geht der Sparkurs Tsipras immer weiter. Der Premier ließ Gesetze durchpeitschen, welche Griechenland für die nächsten 99 Jahre binden.Ebenfalls durch das Parlament kam der umstrittene Paragraph des automatischen Kostendämpfers. Künftig wird bei Unterschreitung der vorgegebenen Sparziele ohne Parlamentsbeschluss in allen Ressorts bis auf den Verteidigungshaushalt und das Arbeitslosengeld automatisch gekürzt. Tsipras erspart sich und den Premierministern der nächsten Jahrzehnte somit jegliche parlamentarische Abstimmung über weitere Rentenkürzungen.(weiterlesen hier:Griechenland: 99 Jahre Ausverkauf - alternativlos)
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen- und das von einer "Linksregierung":
"Der Premier ließ Gesetze durchpeitschen, welche Griechenland für die nächsten 99 Jahre binden."
Dennoch: Jederzeit Solidarität mit den Menschen in Griechenland - und überall!Und auch mit menschenfreundlicher Unterstützung der "Linksparteien" selbstverständlich!!!
Tja, wie regiert man unter Zwang. Harald Wolf hat - auf Nachfrage- gemeint, es sei Tsipras möglicherweise so gegangen wie ihm bevor der rot-rote Senat vereidigt wurde. Er hätte sich gewünscht, dass der Kelch an ihm vorübergeht. Vielleicht hätte er sich gewünscht, dass das damalige Referendum einen Rücktritt ermöglicht hätte. Dann hätten andere wieder die Verantwortung getragen. Und was dann?
Ich finde, man sollte nicht alle Ausflüchte der Politiker glauben, aber - hin und wieder - auch auf Begründungen hören.
Uner Tsipras gibt es ja - trotz allem - das Bemühen, die auferlegten Kürzungen so zu gestalten, dass nicht die ganz Armen getroffen werden. Oben gibt es einen Link zu einem Freitag Beitrag, der das Thema betrifft. Die Landwirte z. B. in Griechenland bekamen Rente, aber sie zahlten nie im Leben ein. Das ist alles sehr undurchschaubar.
Dein Text zeigt beispielhaft, wie komplex in Wirklichkeit die Situation ist, in der nach Möglichkeiten linker Politik gesucht wird.
Auf die wirkliche politische Praxis da draußen lässt sich der sich immer wieder an Dualitäten von anti- vs. pro-irgendwas ausrichtende Foren-Mob doch nicht ein. Die etwas qualifizierteren sitzen vor ihren Sandkastenspielen, die anderen echauffieren sich an ihren Stammtischen.
Es keimt der Verdacht, dass sich das Prinzip offenes Forum erledigt hat. Kostet Geld, schafft nur Frustrationen - und wie die Spießer von der anderen Fraktion, die da immer montags in Sachsen rumwatscheln, vormachen: Man kann seinen Stammtisch auch bei Facebook einrichten!
Ja, das ist das Problem. Nur, ich sage Dir: Bei facebook hat mir einer - der sogar fürs ND hin und wieder schreibt - auf den verlinkten Beitrag sofort alle schrecklichen Versäumnisse, an denen Harald Wolf beteiligt war, aufgezählt. Dabei hat Wolf das in seiner Publikation zum großen Teil eingeräumt. Politik ist für die meisten Leute "Empörung" "Anklage" "Aufdeckung" "Wut".
Mir hat die Veranstaltung was gegeben, weil auch die Art wie Strohschneider, den ich nun auch mal kennenlernen konnte, mir wirklich gefallen hat. Er ist einer von den ruhigen Analytikern. Kann gut mit Leuten und hält trotzdem Abstand. Na, weißt Du ja selbst.
Er fragte Wolf, ob er über die Art, wie Opposition praktiziert wird, nicht auch ins Nachdenken gerät. Mir fällt das manchmal ein wenn ich Sahra Wagenknecht höre, die in vielem so Recht hat, aber auch weiß, was sie alles machen müsste, wenn sie wirklich mal in Verantwortung käme.
Das meiste am großen politischen Provinz- Metropolen - und Welttheater spielt sich hinter den Kulissen ab.
Aber, es gibt schon noch diesen und jenen Blogger, der Hintergrund abbildet. Wird aber immer weniger, das ist mal wahr.
weil auch die Art wie Strohschneider, den ich nun auch mal kennenlernen konnte, mir wirklich gefallen hat.. mir gefällt er auch (ohne in persönlich zu kennen). Mir hat sein wohlwollend kritischer Beitrag hier in der Online- Sozialismusausgabe sehr gut gefallen:
Tom Strohschneider: ISM will »mit der Demokratie neu beginnen«
"Das ursprünglich als rot-rot-grünes Netzwerk gegründete Institut will nichts Geringeres als »mit der Demokratie neu beginnen«. Gegen eine »Politik der Angst« solle eine »Politik der Hoffnung« gesetzt werden - aber angesichts der real existierenden politischen Verhältnisse ist das in den Augen des Instituts nichts mehr, was man dem etablierten politischen Betrieb überlassen könnte."
Nur als Info, da Sie in Berlin leben und vielleicht interessiert sind: „Ein Jahr nach dem Putsch“ am 3. Juni 2016
Diskussion / Vortrag
Mit Dagmar Enkelmann, Srećko Horvat, Katja Kipping, Elena Papadopoulou, Hilary Wainwright
Freitag, 03.06.2016 | 20:00 Uhr
Rosa-Luxemburg-Stiftung, Münzenbergsaal, Berlin
Franz-Mehring-Platz 1
10243 Berlin
Danke für den Bericht.
Ja, ein Grundproblem scheint zu sein, dass die Linke vorzugsweise dann in Regierungsverantwortung kommt ("gelassen wird"), wenn die Rechte den Karren so richtig in den Dreck gefahren hat. Bei den dann anstehenden akuten Aufräumarbeiten gibt es selten politische Blumentöpfe zu gewinnen, wie selbst die vorbildlich agierende isländische Linksregierung erfahren musste.
Sicherlich liegt die Schuld dafür auch bei den Medien, aber es muss auch die Frage gestellt werden, warum die Linke offenbar kein ausreichend attraktives eigenständiges und alternatives Projekt anzubieten hat. Das ISM ist letztlich eine Fortsetzung von attac auf der Ebene der Parteipolitik - und steht vor denselben Schwierigkeiten wie das "globalisierungskritische Netzwerk", wenn es um die Formulierung populärer linker Visionen geht.
Was versteht Strohschneider unter dem "sozialistischen Kompromiss"? In der Tat läuft derzeit ja Alles auf eine de-fakto-Verstaatlichung weiter Teile der Wirtschaft hinaus, auch wenn es nicht öffentlich so genannt wird.
Ja, das stimmt, die LINKE ist eine Art "Trümmerfrau". Vielleicht hat Wowereit ja damals Rot-Rot präferiert,weil er wusste, wie sich die LINKE damit selbst in die Bredouille bringt. Es hat -wie ich denke - teilweise geklappt . Andererseits - ich habe diese Zeit in guter Erinnerung. Wir haben damals gegen Kürzungen im Frauenbereich protestiert und Wolf hat damals dafür gesorgt, dass die zurückgenommen wurden.
Und - es gab die wunderbare Heidi Knake-Werner.
Das Buch von Wolf ist übrigens auch deshalb empfehlenswert, weil er die damalige Linie der LINKEN in der Migrationspolitik beschreibt. Dazu ist heute wenig von denen zu lesen.
"Sozialistischer Kompromiss" - ist natürlich angelehnt an den "historischen Kompromiss".
Verstanden habe ich bei Strohschneider: Er setzt eigentlich - als Kompromiss - auf das Bestehende, die Verteidigung des politischen Systems gegen neoliberale Entmächtigung der Demokratie. Innerhalb dessen für mehr Umverteilung. Er meint, sonst hätte die LINKE im politischen Raum auf lange Sicht überhaupt keine Möglichkeit zur Gestaltung.
Hier in der Vorankündigung ist das ganz gut zusammenagefasst.
Tom Strohschneider betonte, dass Linke sich angesichts des massiven Rechtsrucks in der absurden Situation befänden, den „demokratischen Kapitalismus“ gegen den Einzug von autoritäreren Strukturen verteidigen zu müssen. Ein „sozialistischer Kompromiss“ sei somit eine zweckoptimistische Notbremse. Der Hebel zum politischen Gegensteuern sei eine durch die öffentliche Hand organisierte Umverteilung. Eine Umverteilung von oben nach unten könne auch dem Nationalismus als falschem Reflex auf Benachteiligung entgegenwirken. Ohne konkrete Vorschläge zu Bündnisstrategien zu machen, forderte er, dass breite Teile der Linken einen solchen Kompromiss mittragen sollten, auch wenn er nicht als langfristige Vision tauge.
http://www.brandenburg.rosalux.de/news/42362
https://www.neues-deutschland.de/artikel/995969.rot-rot-gruen-als-historischer-kompromiss.html
Das ist in diesem Zusammenhang lesenswert. Es gibt offensichtlich ziemlichen Streit innerhalb der LINKEN darum.
Vielen Dank für die Info.
Ich meinte eigentlich die Linke, nicht Die LINKE...;-) Aber was Sie über Wowereits Motivation schreiben leuchtet ein.
Das klingt jetzt nach viel Kompromiss und wenig Sozialismus. Bzw. gar keinem - und damit angesichts der tiefen Krise des Kapitalismus etwas zu wenig. Klar müssen Linke den rechts-autoritären Tendenzen entgegentreten, auch gemeinsam mit den Bürgerlichen, denen es Ernst ist mit der Demokratie. Aber ohne Vision und Alternativen wird das mittelfristig nirgendwo hinführen, und "Umverteilung" des Wohlstands bedeutet letztlich auch nur etwas mehr Teilhabe (zu Lasten von ???), weiteres Wachstum und damit die Rettung des Kapitalismus - wie schon zu Zeiten des New Deal-Keynesianismus.
Insofern: Anprangerung der Ungleichheit und Forderung nach Umverteilung klar, aber ohne strukturelle Änderungen wird es letztlich bestenfalls den Neoliberalismus ein wenig zurückdrängen - bis zur nächsten Welle. Da ist mir "revolutionäre Realpolitik" mit tendenziell systemüberwindendem Charakter doch lieber.
Der historische "historische" Kompromiss war aber auch so ein pragmatisches Teil damals. In ziemlicher Not und ziemlichem Druck.
Kompromisse sind halt immer wenig visionär. Alternativen und Entwürfe. Da ist mir skeptisch zumute. Wo haben sie immer hingeführt - die großen Entwürfe und Visionen.
Da ist mir "revolutionäre Realpolitik" mit tendenziell systemüberwindendem Charakter doch lieber.
Na, war nicht ein bisschen was davon in Kippings Beitrag? Ich kann mir selbst darunter wenig vorstellen. Ich fürchte mich vor Revolutionen. Das Wort ist doch auch schon ziemlich semantisch "ausgewaidet".
Sicher war er das, aber damals waren Wachstum und Kapitalismus auch (dank ausbeutbarer "Dritter Welt") noch steigerungsfähig. Heute redet sogar die Gegenseite mehr oder minder offen darüber, dass sich der K in einer Sackgasse befindet.
Wieso "Revolution"? Es geht darum, die gesellschaftlichen Strukturen so zu verändern, dass der K seine dominierende Stellung verliert und nicht-kapitalistische Ideen und Ansätze es leichter haben. BGE wäre ein möglicher Ansatz, aber auch unterhalb dessen gibt es Möglichkeiten, etwa die Stärkung sozialer Grundrechte, die Lockerung des Schutzes von "geistigem Eigentum" (ein selten dummer weil irreführender Begriff), die Vergesellschaftung und Demokratisierung von Institutionen der Daseinvorsorge...oder eben der fortgesetzte Nullzins.
"Große Entwürfe" brauchen wir nicht unbedingt, aber den Freiraum, überhaupt mit Alternativen zu experimentieren. Dazu genügt oft die Abschwächung rechtlicher Hürden, oder eben wie beim EEG eine bewusste rechtliche Bevorzugung.
ich denke, das hat besonders Misik auch - in dem verlinkten Potsdamer Gespräch - in den Vordergrund gestellt. Alternativen, neue ideen usw. Auch Strohschneider, aber er hatte halt die aktuelle Debatte - um Regierungsbeteiligung und parlamentarische Bündnisse auch noch im Blick.
Meine Sorge ist auch, dass wir - hier im "Westen"- erstmal ernten, was anderswo an Konfliktherden gesät wurde und dann die Entwicklungen auch hier aus dem Ruder laufen. Das ist aber schon wieder eine andere Kiste.
Das sowieso auch (ernten) - aber umso wichtiger ist es doch, eine linke Perspektive aufzuzeigen und nicht bloße Abwehrkämpfe zu führen. Und zwar nicht irgendwann später, sondern genau jetzt, weil die grassierende Unsicherheit und "Alternativlosigkeit" sonst die Rechten stärkt.
Der Kapitalismus steht am Abgrund, sicher - und genau in solchen Situationen rettet er sich erfahrungsgemäß in den angeblich "revolutionären", tatsächlich aber systemerhaltenden Faschismus.
Die "Überwindung des Kapitalismus" mag als Wahlprogramm 2017 etwas zu vage sein, aber diese Perspektive muss linke Politik heute mehr denn je (oder 'wie stets'?) im Blick haben, denke ich. Sozusagen als Kompass der parlamentarischen Tagespolitik...
In der Vergangenheit sind Gesellschaftssysteme nie von einem Tag/ Jahr auf den anderen 'abgeschafft' worden. Die äußeren Umstände änderten sich, und dadurch wurden neue Systeme erfolgreicher bzw. beliebter als die alten und ersetzten diese zunehmend. Das wird beim K. nicht anders sein, und die Politik kann die Zeichen der Zeit erkennen und es den Alternativen leichter machen - oder eben nicht.
Die Abschaffung der "Störerhaftung" (allein das Wort...) ist ein gutes Beispiel; sie wird dem freien Internet zum Durchbruch verhelfen und damit - wenn alles gutgeht - aus der 'Ware' ein 'Grundrecht' machen. Denn bei allem, was mit dem Netz zu tun hat, ist die allgemeine Zurverfügungstellung viel einfacher und billiger als der im kapitalistischen Sinne 'notwendige' Ausschluss derer, die nicht zahlen wollen oder können.
Der Kapitalismus steht am Abgrund, sicher - und genau in solchen Situationen rettet er sich erfahrungsgemäß in den angeblich "revolutionären", tatsächlich aber systemerhaltenden Faschismus.
Georgi Dimitroff hat diese Theorie. Es sieht ja auch sehr danach aus.
Die Überwindung des Kapitalismus - ich kann sie nicht erkennen. Wir erleben doch - immer wieder - dass es "den Kapitalismus" so vielleicht auch gar nicht gibt. Der Kapitalismus ist so wandlungsfähig, dass möglicheweise darin auch seine Überlebensfähigkeit zu finden ist. Im Moment sehen viele halt die "Rettung" in der Befreiung von diesen neoliberalen Dogmen und der Überwindung der unglückseligen Austeritätspolitik. Hat nicht auch die Sahra Wagenknecht sowas in ihren Schriften?
Übrigens: Verteilungsgerechtigkeit - ich glaube, da habe ich weiter oben Strohschneider angeführt: Heute ist ein Beitrag von Tom Herden über Lateinamerika zu lesen .
https://www.freitag.de/autoren/lutz-herden/verpuffter-furor
Zitat daraus:
In Argentinien und Brasilien konnten sich linke Regierungen nicht halten. Abgesehen von der selbstverschuldeten Diskreditierung durch ein teilweise kriminelles Amtsverständnis, gibt es dafür einen maßgeblichen Grund: Das staatsfixierte Modell der sozialen Emanzipation und eines „Wachstums in Würde“ (Lula da Silva) stieß an Grenzen. Wenig überraschend hat sich mehr Verteilungsgerechtigkeit als nicht krisenfest erwiesen. Sie blieb Geisel der Konjunktur, des Weltmarktes, der Staatsfinanzen, massiver rechter Gegenmacht
Es klappt halt nicht, wie es aussieht. Aber, vielleicht ist Lateinamerika wieder ein eigenes Modell.
Stimmt Politik kann Wege ebnen, aber doch nur, wenn die Machtverhältnisse das zulassen.
Zur Störerhaftung: Ganz zu Beginn der Internetära habe ich auch immer gejubelt, dass das Sozialismus ist, was sich da im Netz abspielt. Dann kam der Kommerz mit Riesenschritten, der Kapitalismus. Wenn das Netz - mit neuen technologischen Möglichkeiten - wieder Gemeineigentum wird, wäre schon gut, aber das ist doch in anderen Ländern schon so. Und nicht alles ist progressiv, was sich dabei entwickelt.
Dimitroff war das? Dachte eigentlich eher an commonsense;-).
Ja, dass viele Linke die Wandlungsfähigkeit des K unterschätzen sage ich auch schon lange. Doch auch wenn es viele Varianten und mögliche Kompromisse gibt - die Kapitalakkumulation ist wesenshaft; kommt diese (de fakto) zum Erliegen, wird er dysfunktional und zerstört sich im Versuch Rendite zu erzielen selbst. Je länger die Nullzinsen andauern, desto mehr sieht es danach aus, aber dauerhaft 'sicher' ist bislang nichts.
Die Befreiung vom Neoliberalismus bedeutet doch letztlich mehr Lenkung und mehr Keynes - das kann theoretisch das Wachstum wieder ankurbeln und so den K am Leben erhalten. Zumindest rein (finanz)ökonomisch betrachtet, aber auch real, ökologisch und sozial? Da habe ich arge Zweifel.
Lateinamerika: Abgesehen von eigener Unfähigkeit (Argentinien ist die schlimmste Bananenrepublik die ich kenne) und rechter Gegenmacht spielt hier auch die Verfasstheit des intl. Finanzsystems eine Rolle. Als Weichwährungsland kann Argentinien kein deficit spending betreiben, um so Krisen zu überbrücken, und ist auf Gedeih und Verderb von Exporterlösen abhängig. Das bestehende System bevorzugt stark die OECD-Länder, die Anleihen in Landeswährung ausgeben können - was wohl der Hauptgrund dafür sein dürfte, dass die BRICS es reformieren wollen (es ist auch bisher ein zentraler Grund gegen BGE und 'Helikoptergeld'!). Wenn es definierte Schwankungsbreiten der Wechselkurse und hohe garantierte Währungsswap-"Reserven" gäbe, auf die Länder zurückgreifen können, würde sich das Problem weitgehend erledigen.
Sicher ist viel Kommerz, und auch wo nicht-kap draufsteht ist es nicht immer progressiv. Allerdings hat das Netz den Vorteil inhärent dezentral aufgebaut zu sein - wenn das mit freier Verfügung/ sharing zusammenkommt, bestehen m.E. große Chancen. Die Gefahr einer staatlichen Monopolisierung sehe ich dagegen derzeit eher nicht.
Spannend wird es, wenn dann diese Ideen von sharing/ freie Verfügung/ Grundrecht wieder auf die 'reale Welt' übertragen werden, etwa bei der Frage des kostenlosen bzw. flatrate-ÖPNV. Das ist ausbaufähig, denke ich.
Die Befreiung vom Neoliberalismus bedeutet doch letztlich mehr Lenkung und mehr Keynes - das kann theoretisch das Wachstum wieder ankurbeln und so den K am Leben erhalten. Zumindest rein (finanz)ökonomisch betrachtet, aber auch real, ökologisch und sozial? Da habe ich arge Zweifel.
So sieht es aus. Das ist ja auch sehr ungewiss. Vielleicht ist der NL Kapitalismus dafür auch schon zu sehr überdreht. Aber, wer weiß das. Darüber stritten ja auch Misik und Strohschneider.
Ihre Ausführungen zu Lateinamerika fand ich sehr spannend. Ich bin da nicht so auf dem Laufenden.
Wenn es definierte Schwankungsbreiten der Wechselkurse und hohe garantierte Währungsswap-"Reserven" gäbe, auf die Länder zurückgreifen können, würde sich das Problem weitgehend erledigen.
Das nehme ich mal dankbar als Wissensgewinn. :-)
Spannend wird es, wenn dann diese Ideen von sharing/ freie Verfügung/ Grundrecht wieder auf die 'reale Welt' übertragen werden, etwa bei der Frage des kostenlosen bzw. flatrate-ÖPNV. Das ist ausbaufähig, denke ich.
Ja, diese Wechselwirkungen sollte man erhoffen und mitbedenken. Schöne Dialektik digital-analog.
Dimitroff war das? Dachte eigentlich eher an commonsense;-).
Den Genossen kenne ich leider nicht. :-)
Das ist quasi eine Glaubensfrage, so wie das mit den Kondratieff-Zyklen oder die Verbindung von ökonomischem und stofflichem Wachstum. Wirklich nachweisen lässt sich da m.E. nichts, insofern sollte die Frage eher lauten: Wozu noch Wachstum, wenn wir schon alles haben und eine weitere Steigerung bislang nur mehr Stress, Leistungsdruck und Naturzerstörung bringt?
Zu LA hab ich doch gar nichts geschrieben, nur zum "neokolonialen" Finanzsystem...kann sein dass es noch weitere Bedingungen gibt (SDR als Handelswährung?), aber die beiden scheinen mir die zentralen. Das Kernproblem ist, dass in den meisten Ländern nicht in lokaler Währung gespart, Kredite vergeben, Staatsanleihen ausgegeben werden. Der IWF hilft erst, wenn es zu spät ist, und unter den bekannten Bedingungen. Gewissermaßen sind die Swaps das 'strategische' Gegenstück zu den 'taktischen' IWF-Hilfskrediten, die allein durch ihre Existenz dafür sorgen, dass sie so gut wie nie gebraucht werden.
Schöne Dialektik digital-analog.
In der Tat, das hat geradezu eine gewisse Ironie, dass wir das Internet brauchen, um uralte gesellschaftliche Prinzipien und Werte wiederzuentdecken...Kulturflatrate fiele mir noch ein, und aus der Grenzenlosigkeit des Netzes ließe sich auch das Recht auf Migration ableiten.
Zu LA hab ich doch gar nichts geschrieben, nur zum "neokolonialen" Finanzsystem...
Doch ein bisschen am Beispiel LA war das schon.
Na gut...;-) ******************