Ein sexuelles Misserlebnis

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Sexuelle Belästigung würde ich die Erfahrung gar nicht nennen, die mir lange Zeit so peinlich war und mich mit solch abgrundtiefem Unbehagen erfüllte, dass ich sie, wenn sie mir Bewusstsein drang, sofort wieder verdrängte.

Ich war in den 60er Jahren in einer kleinen „halbstaatlichen“ Chemieklitsche in Leipzigs Westen Industriekaufmanns-Lehrling. Heute wäre das allgemein „Kauffrau“. Ich war untergekommen, weil ich dort trotz ziemlicher Probleme mit der Schule wegen allgemeiner Aufmüpfigkeit, Nichtteilnahme an der Jugendweihe und Nichtmitgliedschaft in der FDJ eine Chance hatte. Das habe ich An anderer Stelle schon ein bisschen erzählt.

16 Jahre alt

picklig und dicklich

Ich war - 16 Jahre und im ersten Lehrjahr - picklig und dicklich und fühlte mich weder in meiner eigenen Haut noch in meiner neuen Umgebung wohl. Alte bürgerliche Unterwerfungsrituale irritierten mich. Nur die Lehrlinge wurden mit dem Vornamen angesprochen und mussten sich auch am Telefon so melden. „Nur wer gehorchen kann, kann auch befehlen“, sprach der Prokurist, der mich trotz aller Bedenken angenommen hatte.

Nach einem halben Jahr in der Expedition kam ich in die Buchhaltung. Deren Leiter war ein ruhiger, unauffälliger Mann mit Humor und Gelassenheit. Ihm unterstanden vier Damen, die herrlich verklatscht, immer auf dem neuesten Stand bei West-Fernseh-Events und sehr hilfsbereit waren.

Ich war kein guter Lehrling, oft „berufsschulkrank“, unkonzentriert, unordentlich und unmotiviert, weshalb mir immer wieder Fehler unterliefen. Ohnehin wusste ich schon bald, dass ich dort um keinen Preis bleiben würde.

Eines Tages hatte ich mich bei der Führung eines Buchungsjournals so vertan, dass der Leiter der buchhaltenden Damen sich entschloss, dem Chef und Betriebseigner davon Meldung zu machen, auf dass der mich energisch zur Ordnung riefe. Das geschah auch und war wahrscheinlich sehr unangenehm. Aber ich vergaß es schnell, weil das was auf diese Standpauke folgte, noch viel unangenehmer war, so dass ich das im Gedächtnis behalten habe, die Standpauke hingegen kaum.

Als ich zurück war von der strengen Belehrung, war nur noch der Leiter da. Es war Feierabend und wenn das merkwürdige Hupsignal erklungen war, dass ihn ankündigte, verließen die Buchhalterinnen, die manchmal schon auf dem Treppenabsatz darauf gewartet hatten, ihre Arbeitsstelle im Eiltempo. So auch an diesem Tage.

Trostloser Trostversuch mit

aufkommender Geilheit

Ich war zerknirscht, fühlte mich „klein“ und suchte in aller Unauffälligkeit, meine Sachen zusammen. Der Buchhaltungs-Chef kam zu mir und murmelte tröstende, belehrende Worte. Das sei alles nicht so schlimm, aber ich müsste doch auch lernen, Ordnung zu halten...usw.

Ich hatte meine Sachen gefunden und gepackt und ging Richtung Ausgangstür. Er kam hinter mir her, drückte sich plötzlich an mich und presste einen Kuss auf meinen Nacken. Ich machte mich energisch los, aber er umschlang mich und verfolgte mich weiter mit allerlei Zärtlichkeiten. Nein, er berührte mich nicht „unsittlich“, er wurde nicht gewalttätig, er war nur unendlich eklig, peinlich und die ganze Situation verwirrend, albern und für mich sehr demütigend.

Ich konnte mich leicht von ihm befreien, er hielt mich nicht fest, aber verfolgte mich noch eine ganze Weile mit Worten halb zärtlich halb mahnend bis auf die Treppe, die ich dann schnell hinuntersprang, um endlich diesem widerwärtigen Gemurmel zu entkommen.

Auf dem Weg zur Straßenbahn versuchte ich, meine Fassung wieder zu finden. Ich erzählte damals niemandem davon. Es schien mir unerheblich.

Und ich sage mir auch heute: Es ist ja nichts weiter geschehen. Er hat mich nicht „belästigt“, es war auch keine Machtausübung –es war – so erkläre ich mir das – ein trostloser Trostversuch mit plötzlich aufgekommener, untermischter und verdruckster Geilheit, die mir so ein abgrundtiefes Unbehagen gemacht hatten.

Ich dachte damals auch darüber nach, wie ein Mann, vor dem ich halbwegs Respekt hatte, der im allgemeinen nicht ohne Humor war und auch Abstand hielt, sich auf einmal in so einen hechelnden, murmelnden, klebrigen, zutiefst unappetitlichen Kerl verwandeln konnte. Und ich grübelte, was er an mir fand. Nichts. Es war nicht die Herausforderung durch enge Pullover oder andere erotisierende Kleidungnsstücke. Es hatte - dachte ich - überhaupt nicht wirklich mit mir zu tun.

Ich überlegte, was ich am nächsten Tag tun sollte, wenn ich ihm begegne. Aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wie diese Begegnung wirklich aussah. Ohnehin wurde ich bald zu einer anderen Abteilung beordert.

Es war weiter nichts. Nur die Tatsache, dass ich aus dieser Lehrzeit, die für mich ohnehin eine unangenehme, wenig fruchtbare Episode blieb, so wenig behalten habe und dieses Ereignis noch immer präsent ist, macht mir deutlich, dass das mehr war als ich damals sehen konnte.

Ich weiß, dass „das“ nie wieder vorkam. Auch deshalb, weil ich bald eine Andere wurde. Ich verlor den Babyspeck, wurde selbstbewusster, absolvierte meine Lehrzeit halbwegs fleißig und mit Blick auf andere Ziele.

Den Lehrbetrieb und auch diese Geschichte verlor ich auch bald aus den Augen. Aber vergessen habe ich die Geschichte nicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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