Eine sowjetische Höllenfahrt

Moskau - Petuski Da sich doch in dieser Woche – öffentlich-rechtlich - alles um das Sterben dreht, dann voran die folgende Überlegung:

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Jeder Mensch ist ein Universum. Er bildet die Welt ab und ist eine Welt für sich. Wo geht das alles hin, was er gedacht hat, mal abgesehen von geschriebenen, fotografierten, gefilmten und besprochenen Nachlässen – wohin geht die Welt in seinem Kopf?

Das ging mir dieser Tage durch meinen eigenen Kopf, denn ich lese gerade Venedikt Erofeevs „Reise nach Petuski“ (Jetzt heißt es Moskau - Petuski). Das hat mir vor Jahren schon ein belesener und selbst gut schreibendes Mitglied einer Literaturplattform dringend empfohlen. Ich habs aufgeschoben, aber jetzt bin ich dabei und muss sagen – das ist eine Offenbarung dieses Buch.

Moskau – Petuski ist die Reise des Ich-Erzählers, Trinkers und am Welt- und Sowjetschmerz schier zerbrechenden Helden des Buches Venedikt Erofeev.

Dieser Held also findet sich nach einem Saufgelage auf einer Moskauer Mietshaustreppe wieder und schleppt seinen verkaterten Körper zum Kursker Bahnhof, um aufzutanken und vor allem die Reise zu seiner Geliebten in Petuski anzutreten. Die Kapitel sind in Bahnstationen unterteilt und mit jedem Stationsabschnitt wird er besoffener, denn seine Suche nach Alkohol ward von Erfolg gekrönt. Mit ihm geht das Universum Erofeev auf die Reise. In seinem Kopf ist die Welt und diese Welt spielt so verrückt wie die reale und weil es eine sowjetische Welt ist, nimmt er den ganzen russisch-sowjetischen Jammer, den melancholisch-russischen Humor sowie alle Mitreisenden und Mitlesenden mit auf die Sauftour.

Erofeev also denkt ständig nach, er grübelt und da kommen viele vergangenen und – zu Beginn der 70er Jahre gegenwärtige - Gestalten aus Literatur, Politik und Geschichte vor. Er ist gebildet und belesen, kennt sich politisch aus, der alkoholisierte Held, und diese Bildungsfrüchte rührt er jetzt in Wodka ein und zusammen.

Manchmal empfiehlt er auch Cocktails wie

„Der Geist von Genf“

Zutaten: Weißer Flieder (ein Parfüm wahrscheinlich)

Ein Mittel gegen Fußschweiß

Shiguli-Bier

Spirituslack

Noch besser ist der Cocktail

„Die Träne der Komsomolzin“

Zutaten: Lavendel,

Eisenkraut,

Nagellack,

Zahnelixier und

Limonade

Alles Ausgeburten der Erofeevschen Promille-Programmatik, die sich wissenschaftlich auch mal mit der Phänomenologie des Schluckaufs beschäftigt – so zwischendurch. .

Er fantasiert revolutionäre Kampfkommandos mit entsprechenden Thesen und wirren Angriffs- und Verteidigungshandlungen. Historische Begebenheiten bevölkern sein beduseltes Gehirn und auch die Mitfahrer sind – einschließlich des Kontrolleurs, der sich die Nachlösegebühren immer in Alkoholgramm bezahlen lässt – ständig besoffen vor Jammer und Lebensschmerz.

Saufen und Reden - das Universum im Kopf ausbreiten, Pläne machen und – im Schneckentempo - vorangekommen, schon zwischen den Stationen Kucino und Zeleznodoroznaja mal von der wunderbaren Geliebten, der Ballade in As-Dur, träumen mit dem Zopf vom Nacken bis zum Popo und dem milchigen Blick. Eine sowjetische Allegorie, in der alles „drin“ ist.

Ob der Held ankommt, ich weiß es noch nicht. Ich lasse es offen. Inzwischen ist er in meiner Lektüre immerhin schon mal in Petuski, nachdem er eine Weile dachte, er sei schon eine Woche unterwegs und er kommt jetzt aus der Gegenrichtung. Der Schnaps ist alle, der Jammer rückt an und der Riesenkater. Ohje, ohje - es ist jene komische und kosmische Schwermut, die den Leser zwischen Hochauflachen und Niedergedrücktheit hin und her schüttelt. Man schwankt nach einer Weile, als sei man selbst besoffen. Ich bin völlig platt davon.

„Wie sollte mir nicht langweilig sein und wie sollte ich keine Kubanskaja trinken? Ich habe das Recht dazu erworben. ich weiß es besser als ihr, dass „Weltschmerz“ keine Fiktion ist, in Umlauf gesetzt von alten Literaten, denn ich trage ihn in mir und weiß, dass es so etwas gibt, und will es nicht verbergen. Man muss sich daran gewöhnen, dem Menschen gegenüber kühn, Auge in Auge, von den eigenen Vorzügen zu sprechen. Wer, wenn nicht wir selbst, könnte wissen, bis zu welchem Grade wir gut sind?" fragt der Held.

Erinnert fühlte ich mich an die Geschichten des berühmten Regisseurs und Schriftstellers Wassili Schukschin mit seinem „Kalina Krasnaja“. Die Sprache ist ähnlich. Oder an die besoffen-selbstmitleidigen Monologe des Trinkers Marmeladow in „Schuld und Sühne“.

Und – weil alle gerade vom Sterben reden (s.o.): Wo magst Du sein, Erofeew, Du – in der Realität – ständig besoffen gewesenes Genie. Wo bist Du hin? Ein Glück, dass wir Deine wenigen literarischen Zeugnisse haben. Das war eine Offenbarung, ich wische mir die „Träne der Komsomolzin“ aus den Augen und konstatiere: Die Welt in Deinem alkoholzermarterten Kopf wurde Weltliteratur, wenn Du selbst schon eingehen musstest, dann wenigstens in den literarischen Olymp.

V. Erofeews Buch ist im Jahr 1970 entstanden. Erschienen ist es im Samisdat, also mit einem Exemplar, ging aber reißend von Hand zu Hand und durfte erst 1989 auch ordentlich unter die Menschen, also verlegt und gedruckt werden. Zwischendurch – 1973 – erschien es in Israel, später auch in Frankreich und in Deutschland.

In ordentlich-enzyklopädischer Form kann man auch hier über das Buch nachlesen: http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Reise_nach_Petuschki

Ärgerlich ist an der vor einigen Jahren neu übersetzten Fassung des „Poems“ (so nennt Erofeev sein Buch) die Transkriptionsschrift. Ich habe sie beibehalten und widerwillig statt Wenedikt Jerofejew, die hier verwendete Umschrift verwendet.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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