Es brodelt hinter der Stille

200. Geburtstag Es gibt auch in Berlin Spuren des Lebens von Gottfried Keller – aber sie sind teilweise verwischt. Die Stadt war dem realistischen Träumer aus der Schweiz ein Graus

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Eine Gedenktafel für Gottfried Keller in der Bauhofstraße 2, Berlin-Mitte
Eine Gedenktafel für Gottfried Keller in der Bauhofstraße 2, Berlin-Mitte

Foto: OTFW/Wikimedia (CC 2.0)

Seltsam vernachlässigt wirkt die Gedenktafel in der Berliner Bauhofstraße, in der übrigens auch die Bundeskanzlerin wohnt und – um die Ecke am Hegelplatz 1 – der FREITAG residiert.

Überhaupt wird Gottfried Keller (1819-1890) – der realistische Träumer aus der Schweiz, dessen 200. Geburtstag am 19. Juli begangen wird – hierzulande recht stiefmütterlich behandelt. Dabei werden er und Theodor Fontane als die beiden Hauptrepräsentanten des literarischen Realismus gewürdigt. Er hat einige Jahre in Berlin verbracht – die aber nicht glücklich waren. Im Jahr 1850 kommt er in die Stadt und er erlebt sie ungastlich und feindselig.

„Es gibt auch keinen besseren Bußort und Korrektionsanstalt als Berlin, und es hat mir vollkommen den Dienst eines pennsylvanischen Zellengefängnisses geleistet, so daß ich in mich ging und mich während dieser ausgesucht hundsföttischen Jahre zu besseren Dingen würdig machte; denn wer dergleichen anstrebt oder sonst kein Esel ist, der befindet sich hier vollkommen ungestört und sich selbst überlassen.“

Er verkehrt in literarischen Salons. Vor allem aber schreibt er wichtige Werke, z.B. „Der grüne Heinrich“, das mir bis zur Gegenwart am Herzen liegt.

1919: Thomas Mann über Gottfried Keller

Vor 100 Jahren würdigte ein großer deutscher Schriftsteller einen anderen deutschsprachigen Dichter. Er schrieb:

„Was wir Deutschen unter Meistertum verstehen, wobei Erinnerungen an unsere beste und nationalste Epoche städtisch-mittelalterliche Erinnerungen und Empfindungen unfehlbar anklingen, hier finden wir es in seiner Frömmigkeit, Schalkheit, Biederkeit und Genauigkeit. Hier ist, mitten in unserer Zivilisation eine persönliche Kultur mit allen Reizen physiognomischer Einmaligkeit, ein poetischer Kosmos, darin alles Menschliche unbeschönigt, aber verklärt, durchgeistigt und durchheitert sich wiederfindet(...)“

Es geht noch viele Zeilen so weiter, aber: Irgendwie ist Thomas Mann nicht wirklich begeistert, sondern hat auch was von unerklärter Konkurrenz, fast Gönnerhaftigkeit.

Theodor Fontane der „Gemütsspießer“?

Gottfried Kellers Größe ist zu jener Zeit für Thomas Mann möglicherweise noch nicht ergründbar – oder nicht Quelle seiner eigenen kreativen Suche. Die ging eher in Richtung Theodor Fontane, den Sybille Lewitscharoff – in einer schönen Serie für die NZZ – als einen Gemütsspießer beschimpft, während Gottfried Keller eher ein Tiger sei, der mit der Pranke dreinschlägt. Fontane hat wohl nur einmal über ein Werk von Gottfried Keller geschrieben. Er würdigte die „Leute von Seldwyla“ und meint, der Schweizer Schriftsteller sei im Grunde ein Märchenerzähler, der sich nicht auf die Verhältnisse und angenommene Gegenwart beziehe, sondern letztendlich immer gleichbleibend sei.

So sehe ich das nicht. Aber mein eigenes Gefühl bestätigt sich, dass Fontane bei aller Dramatik versöhnlich bleibt, während Gottfried Keller ein Gefühl von noch bevorstehendem Drama oder verdeckter Dramatik vermittelt.

Es brodelt immer hinter der scheinbaren Stille, selbst wenn er geduldig Gegenstände aufzählt.

„Der grüne Heinrich“ begleitet mich durchs Leben

Mir liegen sowohl Fontane als auch Keller am Herzen. Gottfried Keller aber ganz besonders mit „Der grüne Heinrich“, von dem ich die II. Fassung gelesen habe und auch dieser Tage wieder lese. Von der Schulzeit bis in die Gegenwart begleitet mich die Geschichte des Jungen mit den grünen Gewändern. Und – was soll ich sagen – ich komme so durchs Leben immer weiter voran damit. Denn: Ich habe das Buch noch immer nicht ausgelesen. Das macht aber nichts, das Ende ist ja bekannt aus den vielen vielen literaturwissenschaftlichen Analysen und Beschreibungen. Ich fange immer wieder irgendwo in dem Buch an. Jetzt habe ich es auch als Hörbuch – und es ist mir der liebste Text vor dem Einschlafen.

Zur Tafel

Die Tafel soll 1929 irrtümlich angebracht worden sein, da Keller, nachdem er seine Wohnung in der Mohrenstraße 58 verlassen musste, im Haus Bauhof 2 (oder auch Am Bauhof, ab 1872 Hegelplatz benannt) lebte. Einem Leserbrief in der Berliner Zeitung vom 16. April 1985 zufolge wurde dieses Haus 1915 „abgerissen und die Gedenktafel am Haus Bauhofstraße angebracht“. Kellers erste Berliner Anschrift, als er 1850 in die Stadt kam, war Mohrenstraße 6

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden