Generationen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Als Reaktion auf den umstrittenen Stockholm-Mauer-Blog www.freitag.de/community/blogs/magda/mauerbau-und-stockholmsyndrom

hier ein bisschen Biographisches, obwohl ich denke, dass ich schon viel viel Stoff in den Tiefen des Freitag versenkt habe. Sei's drum. Der Text ist vorhanden, kann man ihn auch nochmal reinstellen.

Ich war ein unerwünschtes Kind und ein geliebtes Kind. Voraussetzungen für einen so widersprüchlichen Lebensbeginn sind chaotische, schwere Zeiten und Schicksale, die in nichts dem gleichen, was sonst normale Verhältnisse ausmachen.

Meine Mutter, in den ersten Maitagen des Jahrs 1945 von den Briten aus dem Zuchthaus Bremen-Oslebshausen befreit, wo sie eine noch 1944 ausgesprochene Strafe von fünf Jahren wegen Feindbegünstigung absitzen sollte, hatte sich gleich danach auf die Suche nach ihrem zweijährigen Sohn gemacht und mich bei dieser Suche von einem französischen Offizier empfangen.

Nicht freiwillig, wie sie sagte, aber sie hat ihn gemocht. An ihn war sie geraten, weil der Vater ihres Sohnes auch ein Franzose gewesen war, ein Kriegsgefangener. Sie erhoffte sich wohl Auskünfte. Ohne Auskünfte reiste sie aus Lörrach am Bodensee dorthin, wo sie ihren letzten Wohnort vor der Haft hatte, nach Leipzig. Ein Kind auf dem Arm und eins im Bauch, das sie nicht gedachte zu behalten. Und weit und breit kein Mann.

Ich bin dann doch 1946 zur Welt gekommen, weil meine Mutter es nicht über sich brachte, mich zu verlieren, obwohl es diese Möglichkeit für sie gab. Das hat sie mir später erzählt. Ich habe ihr das nie übel genommen. Der oft beschriebene Schock über solche Müttergeständnisse blieb bei mir völlig aus. Eher war ich doppelt zufrieden, auf der Welt zu sein. Im Gedächtnis habe ich von meiner Mutter zwei Redewendungen „Das ist nicht so schlimm“ und - etwas später „Nimm dich mit den Männern in acht, auf die ist kein Verlaß“.

Da ist nicht
„so schlimm“

Der erste Spruch bestimmte meine Kindertage. Meine Mutter war in der Haft mehrmals dem Tod entkommen. Nach dem Kriege war sie sehr schwer krank. Nach allen Schicksalsschlägen war wirklich nichts mehr „so schlimm“. Das hatte für mich als kleines Mädchen Vor- und Nachteile. Ich konnte manchen Unsinn machen, den andere nicht durften, mir wurde viel gestattet, ich wurde wenig kontrolliert, es war ja alles „nicht so schlimm“. Aber auch meine Kinderkümmernisse wurden von der gleichen Warte beurteilt und nicht so ernst genommen. Krank war ich fast nie als Kind, weil ich nicht in den Genuß der Fürsorge und Aufmerksamkeit kam, der das Kranksein für manche Kinder vielleichtwünschenswert macht. Allerdings machte ich auch die Erfahrung, daß mein älterer Bruder sich öfter die Eigenwilligkeit herausnahm, krank zu werden, meine Mutter zu erschrecken und Aufmerksamkeit zu erzwingen. Er lernte zu fordern, wo ich lernte, einsichtig zu sein. Überhaupt hatte es mein Bruder schwer in der frauenbetonten Kleinfamilie. Er, viel mehr ein Kind der Liebe, als ich es gewesen war, hatte unter den unbewußten Rachegefühlen zu leiden, die meine Mutter gegenüber dem treulosen Vater hegte. Er rächte sich dafür an mir und versuchte, mein Selbstbewußtsein, von der Mutter aufgebaut, zu untergraben. Er festigte mein Bild von „den Männern“ und machte den zweiten Grundspruch meiner Mutter zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. An seiner Anerkennung war mir sehr gelegen, aber er hat sie mir nie gewährt. Ich habe nach vielen Jahren festgestellt, daß ich eigentlich ein bißchen in meinen Bruder verliebt war, aber das war eine hoffnungslose Sache. Auch in späteren Jahren habe ich das Grundschema der verlassenen Frau in meinen Liebesbeziehungen immer wieder durchgespielt und mit schlafwandlerischer Sicherheit solche zum Scheitern verurteilten Beziehungen gesucht. Bis ich das Muster durchschauen lernte und nicht mehr fasziniert war von Männern, die wenig Verläßlichkeit, dafür aber Bindungsängste und Problembeladenheit ausstrahlten. Ich habe mich auch nie für Kinder entschieden, weil sie trotz aller Mühe, die sich meine Mutter gab, und aller Liebe für mich, unterschwellig die Botschaft vermittelte, daß Kinder eine ungeheure, fast übermenschliche Kraft beanspruchen. Dankbarkeit hat sie bei uns Kindern nie eingeklagt, aber sie war eine kranke, alleinstehende Frau mit zwei Kindern, keine Kriegswitwe der damaligen Zeit und keine alleinerziehende Mutter, wie die jungen Frauen später in der DDR, die selbstbewußt und stark entschieden: „Kinder ja, Männer nein“. Sie blieb der katholischen Kirche sehr verbunden, obwohl sie als sittlich „Gestrauchelte“ mit zwei außerehelichen Kindern Verachtung oder jene verachtende Fürsorge, de für verlorene Schafe bereitgehalten wurde, durch sie erfuhr.

Lange zwischen
den Stühlen

Etwas Fürsorge war bitter nötig, denn wir waren so entsetzlich arm, daß meine Mutter, die lange auf ihre Anerkennung als politisch Verfolgte der NS-Zeit warten mußte, viel länger an die die Grenzen existenzieller Not geriet, als andere Menschen, mit denen sie die Erfahrungen der Not teilte. Von meiner Mutter habe ich die Erkenntnis verinnerlicht, das äußerste Schwäche und große Stärke einander nicht ausschließen und daß Frauen, die stark nach außen auftreten, nicht immer stark sein müssen. Vor solchen fürchte ich mich noch heute, denn sie haben meine Mutter und uns Kinder ständig belehrt: Über Erziehung und Kinderpflege, über hausfrauliche Fähigkeiten und über das Leben, wie es normalerweise zu sein hat. Ich habe davon eine innere Überlegenheit und eine leise Verachtung gegenüber allen Leuten, die festlegen, was Norm zu sein hat, behalten. Vielleicht war das eine Art Selbstschutz, weil ich mich überall fremd fühlte. In der Schule als katholisches Kind in einem atheistischen Umfeld, wo es galt, Farbe zu bekennen. Auch in der Kirche als Kind ohne Vater. Das hat zwar weh getan, aber mir auch den Blick geweitet für Menschen, die in kein Schema passen. Den Wunsch nach Ausbruch, wie ihn junge Leute aus bürgerlichen Kreisen oft artikulierten, hatte ich nie, weil ich mich immer „draußen“ fühlte. Meine Mutter selbst war als uneheliches Kind einer ungeratenen Tochter aus großbürgerlichem Hause auf die Welt gekommen, so daß ich eine Art von Haßfaszination gegenüber dem entwickelte, was Bürgertum ausmacht: Sicherheit, Ruhen in Traditionen, Solidität und Abgrenzung gegenüber dem, was nicht in die Norm paßt. Anziehend fand ich an der bürgerlichen Welt nur das Streben nach Bildung und orientierte mich an den großen bürgerlichen Gestalten der Literatur wie Thomas Mann und seinem Leiden an den Widersprüchen zwischen Bürgertum und Künstlertum. Als später der „deutsche Herbst“ die Bundesrepublik erschütterte, fiel mir auf, aus welch gutbürgerlichen Verhältnissen die Protagonisten dieser Zeit stammten und konstatierte: Entlaufene Bürgerkinder spielen Bürgerschreck, obwohl ich den politischen Kern ihres Aufbegehrens sah und billigte.

Ordentliche saubere
Bundesrepublik

In den 50er Jahren bin ich mit meiner Mutter einmal nach Westfalen gereist, den einzigen Verwandten besuchen. Sie fühlte sich abgestoßen von der spießbürgerlichen Naivität, die die Menschen dort ausstrahlten, von ihrem festen Willen, ordentlich und sauber zu sein und faßte das alles in die Worte: “Schrecklich, sogar der Schützenverein marschiert schon wieder“. Der Dramatiker Heiner Müller sagte in einem Interview nach der Wende, die Menschen in den westdeutschen Fußgängerzonen hätten auf ihn immer den Eindruck einer schrecklichen Unschuld gemacht. Das triff meine, wenn auch kindlicheren Empfindungen recht genau. So kam es, daß ich es trotz allem in der DDR leichter fand, ohne Wurzeln zu leben. Der offizielle Grundton in den Anfangsjahren dieses Staates, der ein ständig um Anerkennung ringendes Provisorium war, rührte an meine eigene Befindlichkeit. Es ging um Neubeginn, um die Trennung von überholten bürgerlichen Positionen. Traditionen wurden nicht geheiligt, sondern kritisch befragt und verurteilt. Besitz zählte nicht viel, zumindest schien das zu Beginn der DDR-Zeit so zu sein. Das fand ich erleichternd für meine eigene Existenz. Die Kleinbürgerlichkeit des DDR-Lebens brachte mich immer mehr zum Lachen als zur Verzweiflung. Heute macht mir die Ankunft in einer Welt der Bürgerlichkeit, Normalität und Tradition jedoch Ängste, weil ich da an Ausgrenzungen meiner Kinderzeit erinnert werde. Vor allem die Schlachten um das „Alteigentum“ sind für mich erschreckende Indizien für ein Besitzdenken, von dem wir uns befreit glaubten, auch wenn wir es nicht waren.

Zwischen Kirche
und Kommunismus

Meine Mutter, die als Überlebende des Faschismus, aber nicht kommunistischer Überzeugung kaum in das allgemeine Raster des DDR-Bildes vom „Widerstandskämpfer“ paßte, hatte dennoch Kontakt zu anderen Verfolgten und Überlebenden dieser Zeit, die Kommunisten waren. Diese Genossen und Genossinnen der ersten Stunde teilten mit meiner Mutter eine gemeinsame Erfahrung: Ein fester Glaube, eine feste Grundüberzeugung können in Zeiten existenzieller Bedrohung der letzte Anker, die einzige Hilfe sein. So unterschiedlich diese Überzeugungen waren, dieses gemeinsame Wissen brachte wohl unter den Überlebenden der ersten Jahre Toleranz und Solidarität. Erst später kamen die Abgrenzungen und zwar von solchen Funktionären, die nie ein Gefängnis von innen gesehen hatten. Und auch meine Mutter begann sich später abzugrenzen von den Genossen mit den Worten: „Die sind in manchem auch nicht viel besser als die Nazis, aber >nicht so schlimm<“. Sie verachtete vieles in der DDR, die Nazis aber hatte sie gehaßt. Die Erfahrungen meiner Mutter, die nicht zu den kraftvollen Mitgliedern der weiblichen Aufbaugeneration gehörte, aber doch geprägt war von den Schrecken der Vergangenheit, haben auch meine politische Haltung bestimmt.

Der 8. Mai war für
uns Befreiung

Den 8. Mai 1945 verstehe ich als einen Tag der Befreiung, anders konnte ich es nie sehen und werde ich es nie sehen. Die Nachkriegsschrecken, die Massenvergewaltigungen durch die Russen konnten daran nichts ändern. Beiläufig hat mir meine Mutter einmal erzählt, daß sie auf ihrer wochenlangen Reise durch Deutschland beim Übertritt auf sowjetisches Besatzungsgebiet von den Russen belästigt worden ist. Aber, es habe doch etwas Warmes zu essen gegeben, und sie seien so lieb zu ihrem Kind gewesen, erklärte sie, und verwies damit diese Erfahrungen in die Kategorie des „nicht so schlimmen“. Ich habe schon als Kind viel über die Nazizeit erfahren und gelesen. Andererseits mußte ich erkennen, daß die Feindschaft gegenüber den Nazis überhaupt nicht immun machte gegenüber dem Antisemitismus. Meine Mutter wiederholte oft zu meinem Ärger die antijudaischen Vorurteile, die der Katholizismus in das Bewußtsein der Gläubigen gesenkt hat. Ich selbst habe mich auch aus diesem Grund von der katholischen Kirche, von ihren Dogmen und Zwängen gelöst.

Ambivalentes Verhältnis
zur DDR-Opposition

Mein Verhältnis zur Opposition in der DDR war deshalb sehr ambivalent. Unter dem Dach der Kirche, wenn auch der protestantischen, Zuflucht zu suchen, war objektiv gesehen sicher der einzige Weg, überhaupt Alternativen zur DDR zu leben, aber mir schien das wie ein Rückschritt in eine neue Abhängigkeit.

Als meine Mutter nach vielen Jahren des kargen Lebens endlich eine angemessene Rente als Opfer des Faschismus bekam, war ich schon fast mit der Lehre fertig und machte nebenbei Abitur auf der Abendschule. Zur Oberschule durfte ich nicht, weil meine Mutter darauf bestand, daß ich gefirmt wurde, und ich war damals damit sehr einverstanden. Aber die späte Anerkennung meiner Mutter als OdF und das Abitur des zweiten Bildungsweges ebneten mir dennoch den Weg zum Studium an der Humboldt-Universität.

So habe ich in der DDR gelernt, daß es nicht unbedingt in die Chancenlosigkeit führte, wenn man Prinzipien vertritt.

Kein Hass aber
grimmiger Ärger

Mein Lebensgefühl war von grimmigem Ärger über dieses Land, aber nie von Haß bestimmt. Meine Abneigung gegen das Regime wurde größer, je mehr es verbürgerlichte. Eine folgerichtige Entwicklung. Ich neigte immer dazu, mich anzupassen an ein System, das eben „nicht so schlimm“ war, wie die NS-Zeit und reagiere heute auf Vergleiche mit äußerster Abwehr. Die Kompromisse, die ich zu DDR-Zeiten gemacht habe, halte ich heute für vertretbar, obwohl ich jetzt erkenne, dass sie auch dem in früher Kindheit geprägten Willen zur Einsicht entsprangen.

Als Journalistin bei einer CDU-Zeitung waren Kompromisse erforderlich, obwohl die Arbeit dort zwischen Bekenntniszwang und Nischenleben hin und her pendelte. Ich fühlte mich der CDU bis zur Wende verbunden, weil ich die Annäherung zwischen Christen und Marxisten für fruchtbar hielt. Natürlich wußte ich, daß es an der Führungsrolle der SED nichts zu rütteln gab. Aus der CDU bin ich nach der Wende ausgetreten, weil sie eine Gutbürgerlichkeit verkörpert, auf die ich so allergisch reagiere. Das tat sie als Blockpartei der DDR schon, aber da schien mir das eine eher lächerliche Attitüde zu sein, die mich amüsierte. Jetzt aber paßt sie erschreckend in diese Zeit, die so viele Menschen produziert, die „draußen“ sind und sich so fühlen. Mit ihnen suche ich Kontakte und finde sie im Osten wie im Westen.

(Erschienen in der kleinen Zeitschrift „Weibblick“)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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