Hinter der grünen Tür - Josephstraße

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Am Hauptbahnhof muss man nicht lange warten, viele Straßenbahnen fahren in die westliche Vorstadt. In zehn Minuten ist sie am Markt und kann dort nach Erinnerungen Ausschau halten. An die Stände mit dem Sommerobst denken, an die langen Nachmittage im Schwimmbad. An die eintönige Ziegelwand des Stadtbades. Ganz schnell vorbei musste man dort rennen, sonst verlor man die Lust an allem, was der Tag noch bringen mochte.


Dann musste man die breite Lützner Strasse überqueren und schon landete man an der Einmündung zu einer Gasse, die bergauf führte. Der Fußweg ist mit Steinen gepflastert, wie früher.

Die Fahrbahn ist asphaltiert jedoch von Schlaglöchern aller Größen unterbrochen. Die Häuser, von denen keines über zwei Stockwerke hoch ist, sind verfallen und alt. Die Fassaden bröckeln, die Fenster sind schwarz und düster. Es gab aber in vielen Höfen Klopfstangen, an denen man gut turnen konnte, Bäume, in denen man sich verstecken konnte und einen Durchgang, der zu einer anderen Strasse führte. Geheimnisvoll und sehr beliebt bei Verfolgungsspielen aller Art.


Das ist die Josephstraße. Die Nummer siebzehn hat noch dieses Kutschertor, durch das einst die Pferdewagen in den Hof fahren konnten. In dieses grüne Tor ist die kleinere Tür eingelassen, durch die sie in den Hof schlüpfen und dabei die Zeiten durcheilen kann.


Wenn sie die Augen schließt, hört sie helle Kinderstimmen. Zwei Mädchen spielen Federball. Das ist Christine, die über die Straße wohnt, und sie, das Kind. Christine ist für ihre zehn Jahre sehr groß und unglaublich dünn. Sie gewinnt meist beim Federball. Wenn aber nicht, dann ist es ihr auch egal. Ganz gleich, wer den Punkt macht, sie lacht. Schön ist, dass sie immer noch ein Spiel und noch eines und noch eines mitspielt, statt die Geduld zu verlieren. Wie viele Kinder liebt auch sie Wiederholungen. Nur dann kann sie alles vergessen. Noch einmal und noch einmal den Ball gegen die Wand schlagen, noch einmal den Strick um den Kreisel drehen und ihm Schwung geben und immer noch einmal beginnen.


Aber jetzt sagt Christine, dass Schluss sei und sie gehen müsse. Es dämmert schon. Das Kind bleibt auf dem Hof und blickt auf die Eisentreppe, die früher zur Werkstatt des Tischlermeisters führte. Und auf das Tor der ehemaligen kleinen Metallfabrik. Nachmittags klopften sie dort immer die dünnen Bleche. Ein gellender Krach, von dem die Parterrewohnung in dem zweistöckigen, verwahrlosten Haus durchtränkt war.

Jetzt aber am Abend dringt nur die Stimme der Mutter in die Stille. Sie ruft das Kind. Es ist Essenszeit.


Während die Mutter Brote schmiert und ihr reicht, schaut das Kind auf die Josephstrasse, die noch immer im "Früher" liegt. Sie hört die älteren Jungen lachen, die dort mit ihren Fahrrädern stehen. Sie kann sogar ihre Stimmen unterscheiden. Sie hat sich in einen verliebt, was nichts weiter bedeutet, als dass sie ihn von fern heimlich beobachtet. Wenn er sie anspricht, wird sie rot und albern. Nie fällt ihr eine ganz normale Antwort ein. Sie will auch gar nicht mit ihm sprechen. Einmal hat er sie aufgehalten - das war der Moment ihrer größten Pein, denn sie hatte gerade ein Brot in der Hand. Und er mahnte scherzhaft, sie solle nicht vergessen, in die Schnitte zu beißen. Wie schrecklich das Ganze. Und einmal - da stand sie ganz oben auf der Treppe im Hof. Er wartete unten und fragte hinauf, ob sie vorn bei ihm aufs Rad wolle, eine Runde mitfahren. Aber sie sagte, das ginge nicht, sie müsse gleich hinein ins Haus, obwohl das nicht stimmte. Der Gedanke, dass durch diese Fahrt etwas beginnt, war ihr schrecklich, sie wollte keinen Anfang.


Vielleicht weil sie so gern aus der Ferne liebte. Aus der Ferne ließ sich gut an einen denken. Das Kind wusste nicht, wie es überhaupt weitergehen sollte, wenn sie mit ihm Fahrrad fährt.Sie war ja erst neun Jahre alt. Küsste er sie dann etwa - ihr ekelte vor fremden Küssen. Und schon gar nicht auf den Mund.

In zu großer Nähe musste man an das Ende denken, das unweigerlich kommen würde.

An diesem Ende wird die Mutter tot sein und das Kind allein, der Bruder und sie getrennt und die grüne Tür verschlossen.

Viele Jahre später erst wird sie durch diese Tür gehen, den Torweg mit seinen eingetretenen Steinen betreten und erstaunt sein, dass sich so wenig geändert hat.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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