Kein Tag vergeht, an dem nicht bittere Erinnerungen an Kinderheime – katholische, evangelische und auch staatliche – laut werden und ebenfalls an Bildungseinrichtungen mit progressiven Bestrebungen.
Inzwischen existieren bereits zwei runde Tische und andere „Instrumente“, mit denen diese westdeutsche Vergangenheit aufgearbeitet werden soll. Ich schreibe bewusst westdeutsche, denn dass die Kinderheime in Ostdeutschland in allen Kategorien jenseits aller Kriterien der Kinderfreundlichkeit, der pädagogischen Normen und überhaupt der Menschlichkeit gewesen sein müssen, wird ohnehin vorausgesetzt.
Dass sich inzwischen auch hier – wie in Kinderheimen in ganz Deutschland – der Verdacht des Missbrauchs erhärtet, wird ebenfalls gemeldet. Und ich frage mich, ob ich nicht schon ganz aufarbeitungsgeschädigt bin, wenn ich eine Art von Befriedigung in den Verlautbarungen heraushöre dass sich auch dieses Problem, wenigstens auf einem Bein in den Osten verschieben lässt.
Ohnehin sind die ehemaligen Heimkinder im Osten rechtlich besser gestellt, was die Möglichkeit betrifft,in den Genuss von Entschädigungen zu kommen.
Die ehemaligen Insassen eines Kinderheimes im Osten brauchen wenig oder gar nichts an Beweisen herbeizutragen, man glaubt ihnen auch so. Das Bundesverfassungsgericht hat im Juni des vergangenen Jahres entschieden, dass Kinder und Jugendliche, die zwangsweise in DDR-Kinderheimen leben mussten, unter Umständen Anspruch auf Rehabilitations- und Entschädigungsleistungen haben. Der Nachweis einer politischen Verfolgung sei hier nicht immer erforderlich. (Az.: 2 BvR 718/08)
Eine "Wiedergutmachung für die Opfer der atheistischen Diktatur", so bewertet eine Website diese Entscheidung, die – wie sich nach detaillierterer Information herausstellte – keinen Automatismus bedeutet.
Auch in der DDR gab es begründete Einweisungen in ein Kinderheim, allerdings auch hier mit der – in Ost und West gleichermaßen begründeten - Aussicht, dass die betroffenen Kinder in die Mühlen einer auf Zwang setzenden Pädagogik gerieten. Aber ich weiß, dass im Ostenöffentlich andere Maximen propagiert wurden und zwar schon in den fünfziger Jahren, aber man hielt sich nicht dran.
Meine Aufarbeitung besteht da auch in nachgeholtem Zorn. Noch als Kind habe ich die sowjetischen Filme über Makarenko gesehen „Der Weg ins Leben“ und „Flaggen auf den Türmen“. Makarenko kümmerte sich in den 20er Jahren vor allem um die sogenannten „Besprisornij“ – Kinder, die in den Revolutions- und Kriegswirren im ganzen Land auf sich gestellt herumstreunten und kein Zuhause mehr hatten oder dorthin nicht wieder wollten.
de.wikipedia.org/wiki/Anton_Semjonowitsch_Makarenko
Ich lese, „M. entwickelte eine Form der Kollektiverziehung mit dem Ziel der Erziehung einer allseitig entwickelten Persönlichkeit zunächst auf der Grundlage der Theorien von Jean-Jacques Rousseau, Johann Heinrich Pestalozzi und anderen humanistischen Denkern. Er beabsichtigte eine Erziehung ohne die Gewalt der Prügelstrafe und ohne hierarchische Autorität seitens der Lehrer. Die Erziehung basierte auf einer Einheit von verinnerlichter Disziplin, Selbstverwaltung und nützlicher Arbeit. Die Autorität des Erziehers beruhte auf seiner Achtung vor dem Kind, seiner absoluten Aufrichtigkeit gegenüber den Zöglingen und auf festem Vertrauen in den Menschen.“
In den Filmen wird das Erziehungskonzept von Makarenko bebildert und es läuft auf Vertrauen, auf Verantwortungsübernahme hinaus. Ist so wenig davon in die Praxis geraten? Gab es auch verantwortungsvolle Erzieher oder waren auch sie nichts als Marionetten einer Diktatur? Ist nicht doch ein Unterschied zu erkennen zwischen ganz normalen DDR-Kinderheimen und den Jugendwerkhöfen, die Strafanstalten waren. Gab es auch in Westdeutschland verschiedene Kategorienwie war sie die pädagogische Landschaft für Kinder in Ost und West?
Es ist bis jetzt verpönt gewesen überhaupt Verhältnisse, Institutionen oder auch Defizite in Ost und West miteinander zu vergleichen. Jetzt wird es dankbar sofort vollzogen, denn es scheint Entlastung zu versprechen. Aber, es scheint auch hier eher zu trennen, als in Respekt vor den Betroffenen zusammen zu führen.
Kommentare 8
..ein spitzes Wort, liebe Magda,
"Es ist bis jetzt verpönt gewesen überhaupt Verhältnisse, Institutionen oder auch Defizite in Ost und West miteinander zu vergleichen." - bei manchen mag schon die Schere im Kopf das Vergleichen verhindern, aber ich habe das Gefühl, viele bilden ihr Urteil nur im stillen Kämmerlein der Resignation....
"Gab es auch in Westdeutschland verschiedene Kategorien wie war sie die pädagogische Landschaft für Kinder in Ost und West?"
Die pädagogische Landschaft im Westen war und ist vielfältig.
Die Grundlage im Westen dafür ist im heutigen SGB VIII $4 Abs2 festgeschrieben:
" Soweit geeignete Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen von anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe betrieben werden oder rechtzeitig geschaffen werden können, soll die öffentliche Jugendhilfe von eigenen Maßnahmen absehen."
Dies stellt seit Jahrzehnten sicher, daß neben staatlichen Einrichtungen und den vielen kirchlichen Einrichtungen auch Elterninitiativen (KInderläden, freie Schulen) und /oder besondere pädagogische Ansätze zum Tragen kommen: Montessori, Fröbel, Waldorf, Nikitin, Makarenko, Tolstoj, A.S.Neill, um nur einige zu nennen, die sich auch bei uns etabliert haben. Oder Träger aus der sozialdemokratischen Familie (AWO, ASB etc.) Auch kleine Freikirchen und jüdische Gemeinden betreiben Kindereinrichtungen.
Trägervielfalt also: Allerdings eine, für die wir immer kämpfen mussten und auch heute noch kämpfen.
Denn die Tendenz geht eindeutig Richtung der großen drei Träger: Staat und die beiden Kirchen.
Die Pädagogik hat sich gewandelt: Von reinen Aufbewahrung geht es heute immer mehr in Richtung frühkindliche Bildung, was auch kritisch zu sehen ist, aber einer Extra-Diskusion bedarf.
Von dem Gedanken der Selbstverwaltung ( Anfang - Mitte der 70er Jahre) von z.B. Jugendhäusern ist leider so gut wie nichts übriggeblieben.
schon seltsam, daß man sofort mißbrauchsfälle auch in DDR-kinderheimen anzubringen weiß, wohl weil es für gewisse politische kreise kaum auszuhalten ist, in diesem zusammenhang nur den westen, das kapitalistische system problematisiert zu sehen - der mdr meldet jetzt fast täglich neue mißbrauchsfälle, doch die überregionalen medien nehmen dies kaum wahr, vielleicht weil es ein gar zu durchsichtiges spiel von instrumentalisierung - der cdu-bundestagabgeordnete manfred kolbe hat kurzerhand einen aufruf gestartet, um den sexuellen mißbrauch in ddr-heimen zu evaluieren. Nun wird solches sicher auch hierzulande geschehen sein, aber was kolbe mit seiner kampagne bezweckt, scheint mir allzu offensichtlich ... Bis vor einigen jahren war überhaupt nur kritik am zwangscharakter der ddr-heime geübt worden, und dann erst hat man, nicht so intensiv medial begleitet, die zum teil unhaltbaren verhältnisse und erziehungsmethoden in heimen der bundesrepublik in den 50/60er jahren in augenschein genommen. Nein, mir geht es da nicht um aufrechnung oder die relativierung von unrecht, mir geht es darum, endlich mit bigotterie und instrumentalisierung in sachen geschichtlicher aufarbeitung schluß zu machen ...
@ archinaut - Sicher ist das so mit der Resignation. Es wird in diesem Lande - in der veröffentlichten Meinung - kaum noch debattiert, sondern dekretiert, verdeckter als bei uns früher, aber eben auch.
@ hermanitou - danke für die interessanten Details. Ist
"Trägervielfalt also: Allerdings eine, für die wir immer kämpfen mussten und auch heute noch kämpfen.
Denn die Tendenz geht eindeutig Richtung der großen drei Träger: Staat und die beiden Kirchen."
Kann ich mir gut vorstellen. Es geht immer um Knete und Einfluss. Und da sind die großen Tanker besser dran.
@ jayne - Das ist mir immer eine Bestätigung, dass Du das auch so siehst. Man ist ja schon ganz meschugge und denkt man ist rettungslos verbohrt, wenn man da Instrumentalisierung vermutet.
Es stimmt, erst in den vergangenen zwei Jahren und ziemlich verdeckt wurde über die gesamte Erziehungsheim-Landschaft im Westen ein bisschen mehr öffentlich. Das Buch "Schläge im Namen des Herrn" erschien und man konnte wohl nicht mehr daran vorbeisehen.
Über die Verhältnisse in Jugendwerkhöfen der DDR ist ja auch schon allerlei geschrieben worden - und ich hatte zu DDR-Zeiten einen Bekannten, der dort gewesen war. Unter aller Sau und menschenverachend. Die haben da Decken ausgebreitet und die Jugendlichen drüberlaufen lassen und dann haben sie sie weggezogen ,so dass da viele hingefallen sind und lauter solche widerlichen Spielchen. Der war völlig fertig vor allem mit der DDR - das war zur Zeit der Weltfestspiele 1973. Da haben sie - vorbeugend - so viele im Schnellverfahren eingesperrt.
Andererseits kannte ich wieder einen, der war Erzieher in "Königsheide", einem Kinderheim für Kinder ohne Eltern. Das kann da wieder nicht so schlimm gewesen sein. Diese Einrichtungen insgesamt waren nirgendwo ein Ruhmesblatt - in der DDR auch bis zur Wende. Die setzten im Grunde eben doch und immer auf Zwang - wie auch anders...
Frohe Ostern trotzdem
" Ist nicht doch ein Unterschied zu erkennen zwischen ganz normalen DDR-Kinderheimen und den Jugendwerkhöfen, die Strafanstalten waren."
Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen ganz normalen Kinderheimen und den Jugendwerkhöfen in der DDR. Aber was spielt das für eine Rolle bzw. was macht das für einen Unterschied in Bezug auf die dort geschehenen Mißbrauchsfälle, um die es ja wohl geht in den Pressemitteilungen? Ist der sexuelle Mißbrauch in einem Jugendwerkhof vorhersehbarer gewesen oder naheliegender und damit verständlicher/entschuldbarer oder was? Da spielt doch ein Unterschied überhaupt gar keine Rolle, denke ich zumindest.
Zielen die derzeitigen Pressemitteilungen über die Mißbrauchsfälle in den Jugendwerkhöfen tatsächlich auf einen Ost-West-Reflex?
Mir kam es, rein subjektiv, eher so vor, als ob dadurch die katholische Kirche als Institution entlastet werden sollte. Es soll deutlich werden, daß sich der Mißbrauch nicht an der Institution manifestiert, sondern an den Personen, die für diese arbeiten. Denn wenn es den auch in sozialistischen Einrichtungen gab, kann es ja nicht am Zölibat oder der Sexualmoral, also an der Institution und ihrer speziellen Ideologie liegen.
Dieser Versuch der Deutung könnte allerdings auch völlig nach hinten losgehen und dann ganz anders als beabsichtigt wirken. Mal sehen, wie die Berichterstattung weitergeht und welche Entwicklung sie nimmt.
"Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen ganz normalen Kinderheimen und den Jugendwerkhöfen in der DDR"
Das weiß ich, mir geht es um die Medienberichterstattung, da ist sie kaum oder gar nicht zu erkennen.
"Ist der sexuelle Mißbrauch in einem Jugendwerkhof vorhersehbarer gewesen oder naheliegender und damit verständlicher/entschuldbarer oder was? Da spielt doch ein Unterschied überhaupt gar keine Rolle, denke ich zumindest."
Nein, das spielt er nicht. Mir ging es bei dieser Anmerkung um die generell undifferenzierte Berichterstattung über die gesamte Kinderheim- Jugendwerkhof-Problematik - Ost. Die Missbrauchsproblematik ist nicht allein mein Thema, sonst hätte ich eine andere Überschrift gewählt. Und ich denke, das spürt man auch beim Lesen, wenn man liest.
"Das weiß ich, mir geht es um die Medienberichterstattung, da ist sie kaum oder gar nicht zu erkennen."
Du konstatierst also, die Medienberichterstattung arbeite diesen Unterschied nicht richtig heraus. Mir ist dieser Unterschied bekannt gewesen, auch als Wessa. Ob ich damit die Ausnahme bin, wie du wohl implizierst, vermag ich nicht zu beurteilen.
"Die Missbrauchsproblematik ist nicht allein mein Thema, sonst hätte ich eine andere Überschrift gewählt. Und ich denke, das spürt man auch beim Lesen, wenn man liest."
Ob die Mißbrauchsproblematik geeignet ist, die Ost-West-Problematik an ihr aufzuzeigen und abzuarbeiten, bleibt beim Lesen die Frage, wenn man liest.
Brisanter Vergleich, der aber zutreffend ist. Das mit diesen Entlastungsbestreben in den Medien ist mir auch aufgefallen? Das ist schon ziemlich durchsichtig.
Herzliche Grüße
rr