Kleine Fontanereihe (I) Die Georgenstraße

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Wegen dieses Satzes überhaupt habe ich vor vielen Jahren „Mathilde Möhring“ angefangen zu lesen: „Möhrings wohnten Georgenstraße 19, dicht an der Friedrichsstraße.“ Zu dieser Zeit war ich noch keineswegs Fontane-Liebhaberin, jedoch überquerte ich jeden Tag, wenn ich aus dem Bahnhof Berlin-Friedrichstrasse trat, eine Straßeneinmündung, an deren linker Seite sich der sogenannte S-Bahn-Bogen hinzog. Dort gab es allerlei kleine Geschäfte und ein Zeitkino, während auf der anderen Seite nichts als Fläche war. Diese Einmündung nannte sich Georgenstraße, obwohl ihr Charakter wenig mit städtischen Leben zu tun hatte. Es waren wie an vielen Plätzen von Ostberlin Reste von Bebauung inmitten eingeebneter Trümmerlandschaften.

Zur Zeit des Romans aber, da war diese Straße Schauplatz gründerzeitlichen städtischen Treibens. Ein nicht mehr ganz junger Student aus der Provinz durchschlenderte sie auf der Suche nach einer Bleibe für das nächste wenig hoffnungsvolle Semester und sieht vor einem Hause einen Umzugswagen stehen, denn „es war Ziehzeit“. Sein Blick fällt auf ein Zimmerangebot dortselbst. Er steigt die Treppen hinauf und entschließt sich, bei Möhrings zu mieten.

Wie Zeilen des Trostes las ich das immer wieder, denn es schien mir wie ein Ausflug in eine Welt der Ordnung und Folgerichtigkeit. So ist es richtig, so soll es auch sein: Wenn man sich entschließt, in einer anderen Stadt zu leben, dann ist die Aussicht, dort Menschen zu finden, die Unterkunft anbieten und damit eine kleine Geborgenheit schaffen, sehr beruhigend. Ich aber war mir bei meiner Ankunft in Berlin vorgekommen, wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Möblierte Zimmer waren sehr knapp und nur durch intensivste Suche und außergewöhnliche Offerten zu erhalten. So blieb zu Beginn nur das Studentenheim weit vor der Stadt.

Ganz gleich aber, wo ich wohnte, ob ich zur Vorlesung wollte, oder später zur Arbeit, immer ging es über den Bahnhof Friedrichstrasse, diesen merkwürdigen Ort der Grenze und des Überganges. Dass der junge Student, den Mathilde mit dem Silberblick unter kluger Nutzung der Masern bald als Ehemann angelt, gleich nach seiner Einmietung in den Tiergarten geht, gehörte zu den weiteren Sätzen, die mich ganz jenseits des Literarischen fesselten. Dass man da so einfach hingehen konnte "nach den Zelten“ und einen Kaffee trinken wie es dieser, von Mathilde als "Schlappier" bezeichnete Zeitgenosse tat, das fand ich unerhört. Zu meinen Zeiten war Tiergarten gleich weit wie Timbuktu. Im realen Leben gehörte es zu den Alltagsstrategien der Desensibilisierung, dass man sich die Grenznähe nicht andauernd vor Augen hielt, sondern so tat, als wäre dort, wo die Reichstagskuppel zu sehen war, die Welt ohnehin zu Ende und unwesentlich.

Die Romankonstellation bei „Mathilde Möhring“ war von der Art, die ich bei fast allen Fontane-Büchern so schätzte. Beruhigende Normalität klang zusammen mit kleinen ,nicht allzu dramatischen Wendungen. Dass die aberwitzigen Grenzziehungen in der Stadt bei den Berlin-Romanen ein zusätzliches, erweiterndes Attraktions- und Spannungsmoment bildeten, war ein historischer Zufall. Aber ergeben sich erste Lieben nicht oft aus Zufällen?

Und es passte ja auch so gut. Dieses „Wohl verwahrt sein hinter einer Mauer", wie Mathilde in ihrem bürgerlichen Einerlei, und der Hang, aus diesen geringen Möglichkeiten etwas zu machen, das kannten wir alle. Sogar die Unscheinbarkeit der Mathilde mit dem grisen Teint war mir immer als etwas erschienen, das mit dem Zustand des Lande zu tun hatte.

Und andererseits: Das Abenteuer, der Übertritt in eine andere Lebenswelt, wie er Mathilde kurz gelang und wie es die Grenzöffnung in unserem Leben markierte, das hat was Sinnfälliges. Der Roman endet mit dem ernüchterten Heimkommen, und auch da verkündet er Erfahrungen, die vielen beschieden waren, die glaubten, es sei mit dem Überschreiten von Grenzlinien nun jede, aber auch jede Möglichkeit gegeben.

In die S-Bahn-Bögen an der Georgenstrasse sind zahlreiche Antiquitätenläden gezogen und wegen der Nähe zur Universität auch Buchläden und Kneipen, Kneipen, Kneipen. Ein Wohnviertel, wie zur Zeit des Hausbesitzers, des Rechnungsrates Schultze wird es wohl nicht mehr geben. Dieser Schultze, der wie alle Berliner mit Edel-Anspruchein "t" in seinen Namen hatte, der hatte Mutter und Tochter Möhring versichert, dass sie "nie gesteigert" würden. Solch ein Versprechen war wohl auch damals schon im Märchenhaften anzusiedeln. Aber weiß man's? Wir zum Beispiel bezahlen augenblicklich überhaupt keine Miete. Der Hausbesitzer ist wahnsinnig geworden. Das aber ist eine andere Geschichte aus dem realen Leben und ein "weites Feld".


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Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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