Lesefrüchte : Peter Rühmkorf (1929-2008)

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TABU I

"Dass ich pro Gedichtseite etwa 100 bis 170 DIN-A4 Seiten Vorlauf veranschlagen muß, habe ich schon öfter erwähnt, es hat mir nicht unbedingt Lob eingetragen".

Ein Zitat aus Rühmkorfs TABU I (Tagebücher 1989-1991) das ich mir immer ins Gedächtnis rufe. Dies ganz sicher nicht, weil ich selbst ein intensives Verhältnis zur Lyrik habe, sondern deshalb, weil man sich auf diese Weise den Respekt dafür erhält.

Peter Rühmkorfs Tagebuch lese ich immer und immer wieder. Und wenn der Schreiber selbst in seinem ersten Eintrag am 21. Dezember 1988 klagt: "Das Gefühl, dass etwas zu Ende geht...Und kein tröstliches Buch zur Hand, in dem man rückstandslos verschwinden könnte", so kann ich sagen, dass sein Tagebuch für mich so etwas ist.
Zuerst habe ich es gelesen, wie ich überhaupt gern Nachrichten aus einem anderen Alltag lese. Das ist das Vertraute, dass da jemand einkauft, kocht, im Bus fährt oder das Auto in die Reparatur bringt, sich vom Fernsehen "am Sehnerv über den Tisch ziehen lässt" und auf verschlungenen Wegen mit Hanf versorgt. Einer, der von seinem Balkonplatz in Hamburg-Oevelgönne mit dem Fernglas gern nach den Leuten am Strand, manchmal auch ihren erotischen Übungen linst und überhaupt neugierig ist auf andere Menschen.
Aber dies ist nur ein Teil der vielen Schichten in diesem so faszinierenden Gesamtkunstwerk, von dem ich natürlich nur wenige Aspekte würdigen kann.

Manchmal fragt sich der Autor selbst, ob es nicht bedenklich ist, dem Leben so hinterher zu schreiben oder alles fast zeitgleich mit zu stenographieren, was man erlebt. Aber, er kann nicht anders.
Er berichtet wie sein Körper - auf vertrackte und absurde Weise - nicht nur die eigenen Verschleißerscheinungen widerspiegelt, sondern auch, wie er den Zeittrend konterkariert. Denn es ist das Jahr 1989, in dem Rühmkorf mit postoperativem Wirbelsäulenschmerzen zu einer Tournee in die verflossene DDR aufbricht. Genau in dem Jahre also, in dem im Osten von nichts anderem, als vom aufrechten Gang geredet, fabuliert und manchmal auch geschwatzt wird, gönnt er sich diese böse Nervenklemmung im Rückgrat mit langer Rehabilitation. Eine herrliche Ironie.

Rühmkorfs Beobachtungen über das verschwundene Land "DDR" waren mir - kurz nach der Wende - nicht angenehm. Wie viele Linke im Westen konnte er nicht genau erkennen, worin die tiefe Erbitterung der Leute in der DDR bestand. Heute sehe ich, dass diese Erbitterung etwas Kleines hat, das den "Ostmenschen" wenig Achtung eingetragen hat. Erst heute merke ich selbst, wie provinziell zum Teil das alles war und noch immer ist. Mein Gott, was ist Wandlitz gegen die Residenzen westlicher Manager. Aber man muss erst "außerhalb" sein, um solche Einsichten zu bekommen.

Vor dem nationalistischen Taumel dieses Wahnsinnsjahres 1989/1990 befällt Rühmkorf eine begründete Furcht. Auch das Freiheitsgerede kommentiert er bissig-ironisch: "Freiheit, das große Passepartout für jederart Gruppenegoismen, Stammesfehden, kompromissunfähiges Selbstbestimmungswüten. Kenn' das Ende vom Lied, das sich immer wieder für einen Anfang hält, noch von früher her auswendig:‚ Freiheit das Ziel/Sieg das Panier, /Führer befiel -/Wir folgen dir!' Starker Tobak, aber mir - gerade in den letzten Jahren - einleuchtend.

Noch glasklarer kommentiert er die Durchsetzung neuer Definitionsmacht: "Der alte Antikommunismus camoufliert sich heuchlerisch als Antifaschismus und bringt die DDR zum bösen Schluss noch um ihre Antifa-Verdienste. Eine sichtlich allerbequemste Form der Vergangenheitsbewältigung: den Kommunismus entgelten lassen, was wir an den Nazis versäumt haben".
Früher hätte ich ganz sicherlich protestiert über diese Vereinfachung, aber heute bin ich ihr - angesichts der Vereinfachungen, die dem Osten übergeholfen werden - nicht abgeneigt.

Immer wieder setzt er seiner Hellsicht noch ein "Highlight" auf:
"Dieses Menschenbild, dass da jetzt in der DDR seinen Einzug hält.....
...haben wir bekämpft, seit wir politisch auf eigenen Beinen standen"

Seine Beobachtungen über die unglaublich schnelle Vereinnahmung der DDR, die Instrumentalisierung der DDR-Opposition zu Statisten in einem Spiel, das mit ihnen längst nichts mehr zu tun hatte, sind messerscharf. Die Linken im Westen wussten, dass die DDR-Bürger die Chance, Subjekt der Geschichte zu werden, verspielt hatten, als sie die "Deutsche Einheit" wählten.
Und ein höchst produktives Zusammenzucken befiel mich bei dem folgenden Satz: "Die DDR hat ihre Leute in vielen Hinsichten lebensuntüchtig gemacht, auch die Abweichler, Randgänger, Dissidenten. Für den Blankoscheck ‚Freiheit" sind sie bereit, ihr politisches Subjekt aus der Hand zu geben".

Das darf jemand aus dem Osten nicht einmal denken, geschweige denn aussprechen, wenn er oder sie nicht als Ewiggestrige beschimpft werden wollen.

Wenn nicht Alltag ist bei Rühmkorf und es nicht politisch zugeht, dann nimmt man Teil an seiner Arbeit. Es gehört zu seinen Grundideen, die Entstehung eines Gedichts einmal von Anfang bis Ende zu dokumentieren bzw. das, was er den immer neuen Kampf um den "Trugschluss des Gedichts" nennt. Welch kluger Satz. Bei der Lektüre habe ich - die ich mit Gedichten nicht so vertraut bin - viel darüber verstanden. Und in mein eigenes Notizbuch schreibe ich:

"In einem guten Gedicht darf man zwischen Himmelsplankton und Erdenstoff nicht mehr unterscheiden können".

Noch etwas berührte mich ganz besonderes bei der Lektüre:
Auch Rühmkorf kennt seinen Vater nicht und ich fühle mich ihm, wegen dieser unehelichen Geburt ein bisschen wesensverwandt. Sie führt dazu, dass man sich auf merkwürdige Weise nicht ganz ernst und dann doch wieder sehr ernst nimmt. Für ihn aber hat die Vaterlosigkeit auch noch eine andere, seine Männlichkeit betreffende Seite. Ein Plädoyer gegen alles Martialische liegt in den folgenden Worten:

"Sich der Mannbarkeit verweigern: ein lebenslängliches tiefes Befremden gegenüber Vater-, Männer-, Krieger-, Chef- und Haushaltsvorstandsrollen. Statt familienväterlichen Patriarchenbewusstsein, ein allerweltskindhaftes, verantwortungsfreies Zugehen auf die liebe frou werlte: Ecce Mammi".

Es ist sicherlich auch dieser Haltung geschuldet, dass es seine Sache nicht ist, sich im Tagebuch durch Allgemeinplätze gehobener Art aus der Alltagsaffäre zu ziehen, für ihn gehört auch und besonders das Alltägliche zur Zeugenschaft. So kritisiert er an Cesare Paveses "Das Handwerk des Lebens - Tagebuch 1935 - 1950": "...aber was sind denn das für Tagebücher, wo die Rechnung ganz ohne den Tag gemacht wird."
"Was man vom Tagebuch (als einem genuin privatistischen Genre) erwarten kann, ist zuallererst, dass der Verfasser ein gewisses legeres Verhältnis zu sich selbst unterhält und sich mit dem eigenen Ego nicht unentwegt in essayistischer Prosa bekakelt". Na, das ist doch ganz herrlich.

Und dann kommt es in seinem Leben immer wieder zum "Ganzkörpereinsatz": Zahnprobleme, Impotenzen und Verdauungsbeschwerden plagen ihn. Er meint dazu: "Meine alte Schicksalsfrage, immer wieder mal flammend durch alle Instanzen gezerrt: ob das wirklich nur organische Verrottungsprozesse sind, die man hinnehmen muss, oder ob es, mit Schiller der "Geist ist, der sich den Körper schafft".

Ob solch eine Frage kokettierend oder selbstquälerisch oder auch beides gemeint ist, das ist nicht ganz aufzuklären in Rühmkorfs dialektisch-ironischer Geist-Körper-Welt.

Und ich stelle ans Ende nun doch ein Gedicht aus seinem letzten Buch "Funken fliegen zwischen Hut und Schuh"

O-Ton 21
Manchmal fragt man sich: ist das das Leben?
Manchmal weiß man nicht: ist dies das Wesen?
Wenn du aufwachst, ist die Klappe zu.
Nichts eratmet, alles angelesen,
siehe, das bist du.

Und du denkst vielleicht: ich gehe unter,
bodenlos und fürchterlich -:
Einer aus dem großen Graupelhaufen,
nur um einen kleinen Flicken bunter,
siehe, das bin ich.

Aber dann, aufeinmalso, beim Schlendern,
lockert sich die Dichtung, bricht die Schale,
fliegen Funken zwischen Hut und Schuh:
Dieser ganz bestimmte Schlenker aus der Richtung,
dieser Stich ins Unnormale,
was nur einmal ist und auch nicht umzuändern:
siehe, das bist du.

Rühmkorf, Peter: TABU I. Tagebücher 1989 - 1991. Reinbek, Rowohlt 1997. Paperback,
623 S.

Erschienen beim gleichen Verlag:
TABU II
Tagebücher 1971 - 1972

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Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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