Natascha Wodin: "Nachtgeschwister"

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"Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus."

(Winterreise)

Am Beginn des Verhängnisses stand ein Lyrikband, dessen Verse der in Nürnberg lebenden deutsch-ukrainischen Schriftstellerin Natascha Wodin so nahe gingen, ... „dass „ich zurückprallte und mich buchstäblich an der Tischkante festhalten musste, um nicht vom Stuhl zu fallen. Ich wusste sofort, dass ich auf etwas Großes gestoßen war, auf etwas Einmaliges, auf einen Dichter, wie es sie zu allen Zeiten nur vereinzelt gegeben hat.“

Dieses auf einem Wühltisch gefundene Buch stammt vom Dichter Jakob Stumm und dieser Name ist für sich schon eine leicht böse Ironie. Denn er ist jetzt in der Tat stumm, der Dichter, von dem sie berichtet. Es handelt sich um den vor zwei Jahren verstorbenen Wolfgang Hilbig, mit dem Natascha Wodin eine langjährige, höchst dramatische Beziehung hatte, an dessen Ende sogar eine Eheschließung steht, die aber nichts mehr bedeutete.

Darüber berichtet Natascha Wodin in ihrem Buch: „Nachtgeschwister“, das im Untertitel „Roman“ heißt, aber im Grunde ein – abgesehen von den veränderten Namen – völlig ungetarnter Erlebnisbericht ist. Sie habe sich damit frei schreiben müssen, erklärt sie, von der eigenen Stummheit nämlich, die sie nach dieser traumatischen Liebe befallen hatte. Sie fand wohl keine andere „Verarbeitungsstufe“ als diesen allerdings stilistisch wunderbaren Bericht.

Suche nach einem lyrischen Ich

Sie berichtet, wie sie den Dichter unbedingt kennen lernen wollte und stellt im nachhinein fest, dass sie eigentlich ein lyrisches Ich suchte, das sie nie fand. Sie erzählt von der langwierigen und komplizierten Kontaktaufnahme zu ihm, der weit weg irgendwo in der DDR lebte.

Irgendwann wird er mit einem Dauervisum in die Bundesrepublik entlassen. Sie verabreden sich, und von da an ist Hilbig-Stumm in ihrem Leben, sitzt rauchend in ihrer Küche und schreibt, ganz gleich, wer da noch zu tun hat. Und er schreibt nachts, so wie sich sein ganzes Leben meist nachts abspielt. Daher kommt der Name des Buches, denn auch die Berichterstatterin hat sich diesem Lebensrhythmus angepasst. .

Er leidet an der Fremdheit in diesem anderen Deutschland mit so anderen Menschen, die ihrer aber so sicher erscheinen.

Er trifft auf Natascha Wodins eigene Fremdheitsgefühle in diesem Deutschland. Das ist – neben der Faszination seiner Dichtung – das andere verbindende Element zwischen den beiden.

Displaced Person in Westdeutschland

Wodin ist das Kind einer ukrainischen Zwangsarbeiterin, die nach 1945 als „Displaced Person“ in Westdeutschland geblieben ist. Was sie in der Schule erlebt, wirft ein grausam-bitteres Licht auf die 50er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland: „Die deutsche Schule war meine tägliche Folterbank, mein täglicher Pranger. Ich saß allein auf dieser Bank, und alle sahen sich nach mir um. Ich war schuld daran, dass zahllose deutsche Väter und Söhne in Russland gefallen oder als Krüppel aus dem Krieg zurückgekommen waren; ich war schuld daran, dass russische Soldaten ungezählten deutschen Frauen das Schlimmste angetan hatten; ich war schuld daran, dass die Russen den Deutschen ihr halbes Land weggenommen hatten; ...Mein Vater war zu einem steinernen Gast in Deutschland geworden,...,meine Mutter zerbrach und nahm sich das Leben als ich zehn Jahre alt war.“

Die einzige wirkliche Verbindung zwischen Stumm und ihr ist die sexuelle Leidenschaft. So scheint es, aber so ist es natürlich nicht. Immer wieder begegnen sie sich im Schreiben und im Kampf mit dem Dämon des Schreiben Müssens.

Kampf gegen das Nichtgenügen

Hilbig, wie ihn Natascha Wodin sieht, kämpft gegen sich, gegen ein ständiges Gefühl des Nichtgenügens, er fühlt sich auch als DDR-Bürger minderwertig, er misstraut seinen Fähigkeiten, seiner Potenz, sein Verhältnis zu den Frauen ist von Faszination aber auch von tiefer Furcht bestimmt, er hat abstruse sexuelle Fantasien, die er in langen Briefwechseln mit anderen Frauen auslebt.

Er ist ein exzessiver Trinker, ein Alkoholiker. Er quält seine Partnerin mit Anfällen krankhafter Eifersucht, die auch in körperliche Gewalt umschlagen. Er hat blitzartige Stimmungswechsel, die sie seelisch zermürben.

Sie flüchtet mehrfach aus Furcht vor ihm, aber am Ende kommen sie – allerdings höchst unglücklich - wieder zusammen. Die sexuelle Leidenschaft endet eines Tage schlagartig. Warum ist nicht ganz deutlich. Es scheint, als hätte der Dichter auf einmal, die Gewissheit erlangt, dass sie seine sexuellen Wünsche nicht erfüllen kann oder will. Er ist „fertig“ mit ihr, aber sie bleiben dennoch beisammen.

Auch nach einer Entziehungskur, ändert er sich nicht. Er lebt nirgendwo richtig und wenn man diese Lebensform verfolgen will, dann ist es gut, Hilbigs Buch „Das Provisorium“ zu lesen.

Der Mauerfall mit neuen Bedrohungen

Dann kommt der Mauerfall. Und er scheint Hilbig-Stumm das Hinterland zu entziehen, das er für sein Schreiben brauchte und auch die Idee der Fluchtmöglichkeit. Die neuen Möglichkeiten scheinen für ihn eher Bedrohungen, auch Reisen heilen ihn davon nicht. Im Gegenteil.

„Die DDR und die Landschaft um Meuselwitz werden für mich unausrottbar vorhanden sein; ich habe ja geradezu fiebrige Wurzeln in diese schwarze Erde geschlagen.“ hat er einmal über sich gesagt. Ihr Verschwinden erschreckt ihn. Aber auch Natascha, die sich in immer wieder erlebten Grenzen eingerichtet hat, empfindet mehr Verlust als Euphorie.

Trotz allem aber kommt für Hilbig nach dem Mauerfall der Ruhm, er reist viel, ist unterwegs zu Buchvorstellungen und Lesungen. Natascha bleibt im Haus auf dem Lande, das sie inzwischen bewohnen und in dem er sie ohne jede Hilfe und Unterstützung lässt.

Sie wird rückenkrank und liegt wochenlang im Bett. Die Aussicht auf eine alternative Therapie bringt sie nach Berlin und dort – in den Jahre des verrückten Prenzlauer Bergs – fasst sie Fuß, heilt sich im Grunde selbst. Sie und Hilbig gehen zusammen in die Hauptstadt, sie heiraten sogar, leben aber in getrennten Wohnungen. Es läuft einfach so auseinander. Sie verlieren sich aus den Augen, er fängt wieder an zu trinken und lebt schreibunfähig vor sich hin. Dass er nach schwerer Krankheit gestorben ist, erfährt sie aus dem Fernsehen.

10 Jahre hat Natascha Wodin gebraucht für dieses Buch. Sie schreibt in einer höchst eleganten und eindrucksvollen Sprache. Am besten sind jene Passagen, in denen sie das sich wandelnde Leben im Osten Berlins in diesen 90er Jahren beobachtet, Besseres habe ich noch nicht gelesen. Dass sie eine Fremde ist, tut diesen Schilderungen sehr gut.

Ich habe das Buch verschlungen und mir dann auch noch einmal „Das Provisorium“ von Hilbig vorgenommen. Denn dort kommt eine Frau vor, die Hedda heißt und niemand anderes ist als Natascha Wodin.

Bei der Lektüre beider Bücher kam mir wieder in den Sinn, dass der Begriff „Wortgewalt“ eine höchst zweischneidige Sache umschließt.

Aber: Sie hat das letzte Wort behalten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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