Vergnügungssucht und Bildungssucht
Auf die bisherigen Teile meiner Schulreminiszenzen zurückblickend, fällt mir auf, dass ich meine Mutter nur als Schreiberin diktierter Entschuldigungszettel erwähne. Und das war auch so. Weder mit meiner Lehrstellensuche noch mit meinen Studienplänen hatte meine Mutter viel zu tun. Sie liebte uns Kinder, sorgte für uns so gut sie konnte, war aber durch ihre Lebensgeschichte
und schwere Krankheit sehr mit sich beschäftigt.
Ich teilte meine Energien nicht nur zwischen Abendoberschule und Lehre, zwischendurch vergnügte ich mich auch intensiv, ging tanzen oder trieb mich mit meinen neuen Mitschülern in verschiedenen Kneipen der Leipziger Innenstadt herum. Eine Bereicherung an der Volkshochschule waren die meisten Lehrer. Alle rechte Originale, passten sie nicht in den normalen Schulalltag.
Ich erinnere mich noch an den Geographielehrer, ein eitler aber grandioser Erzähler, der uns – beiläufig mal in einer Stunde über die USA – die Prinzipien der Gewaltenteilung nach Montesquieu erläuterte und zwar ohne partei-pädagogische Anmerkungen. Seine Sympathie für dieses Gesellschaftsmodell war deutlich. Wir diskutierten im Deutschunterricht über Christa Wolfs „Der geteilte Himmel“ mit einer älteren Lehrerin. Ich erinnere mich noch an ihren kunstseidener Unterrock, der ständig unter dem ungebügelten Kostümrock vorguckte, aber von uns wurde sie sehr gemocht. Ich nehme an, sie wäre in normalen Schulen ein Opfer heftiger Schülerstreiche geworden. Wir debattierten damals zwar nicht jenseits, aber doch mehr neben den politischen Intentionen des Buches. Zum Beispiel darüber, wie unglaubwürdig uns diese Rita Seidel vorkam, weil sie ihrer großen Liebe nicht folgte. Wir veralberten den Russisch-Lehrer, der ein ziemlicher Miesepeter war, aber ich hatte in Sprachen ohnehin keine Probleme. Allerdings verführte mich das zu ziemliche Faulheit, was sich später beim Studium negativ auswirkte.
Neugier, Neugier auf viele Leben...
Ich war neugierig auf das Leben, wie alle jungen Leute. Dazu gehörte für mich unbedingt auch, über das Leben nachzudenken, Erkenntnis durch Bildung zu befördern. Ich las viel und wollte immer zusammen mit anderen gemeinsam Bücher lesen und darüber reden. Damals war zum Beispiel Jean Anouilh sehr im Gespräch, einer der auch in der DDR verlegten modernen Dramatiker. Dessen elegante Bosheiten – zum Beispiel in „Der Herr Ornifle“ liebte ich.
Oder – damals ganz modern – John Osborne „Blick zurück im Zorn“. Ich hatte schon immer viel gelesen, jetzt auch gezielter als früher und immer im Gefühl, dass ich damit nicht vorm Leben floh, sondern wirklich lebte, mein Leben reicher machte.
Da das moderne Angebot sich in Grenzen hielt, las ich viele der klassischen Autoren – Balzac, Lew Tolstoi, Charles Dickens, aber auch Emilie Zola, in denen ich die großen Menschheitsgeschichten fand. Manchmal denke ich, bei meinem Hang zur Zerstreuung hätte ich – bei größerem Angebot – auch eine Menge Klatschbücher, seichten Kram und Illustrierte gelesen. Die gab es nicht. Die DDR-Medienwelt war karg und auch die Literatur war bildungsbeflissen, volkspädagogisch. In der Fantasie lebte ich viele Leben, probierte Leben an wie Klamotten, dachte mir eine Zukunft, an der nur eines ganz sicher war, nämlich dass noch nichts festlag. Zwischendurch bewarb ich mich auch mal an der Schauspielschule in Potsdam-Babelsberg. Man bescheinigte mir ein komisches Talent, vertröstete mich aber auf das nächste Jahr. Das wollte ich nun wieder nicht. Ich wollte kommen und siegen. Dann eben nicht.
Das war der große Reiz dieser Übergangszeit, die ich – da bin ich mir sicher –ein bisschen, aber mit Vergnügen verkläre.
Am meisten liebte ich das Tun und Treiben in der Stadt, wo man aufeinigen wenigen Straßen am Samstagabend immer Leute traf, die zu irgendeiner Fete unterwegs waren. Manchmal in irgendeiner Kneipe oder manchmal auch in Privatwohnungen. Es gab zum Beispiel so eine Clique der Drucker und Setzer in Leipzig, die sehr standesbewusst waren und gut feierten. Es gab die Faschingsfeiern an den verschiedenen Fakultäten – an der Deutschen Hochschule für Körperkultur, an der Hochschule für Graphik und Gewerbe, bei den Philosophen, im Studentenclub Kalinin war ich oft zugange. Es war immer irgendwas los und ich wieder schlank und munter und ließ nichts aus. Zu den wirklich herrlichen schrägen Erinnerungen gehört auch eine frühmorgendliche Heimfahrt mit einem Gefährt der Müllabfuhr.
Das „Cafe Corso”
Es war zwar nicht der „Philosophenkeller“ von Paris, das „Cafe Corso“, in dem ich verkehrte, aber doch eine Szene, in der ich mich fern von den Forderungen eines geregelten und anstrengenden Alltags wohlfühlte.
Das „Cafe Corso“ galt als Stammlokal der Künstler, Schriftsteller, Journalisten und all jener, die sich einer intellektuellen Szene zuordneten oder meinten zuordnen zu dürfen, wie ich zum Beispiel. Bei Frauen wurde allerdings weniger nach Zugehörigkeiten gefragt.
Im „Cafe Corso“ lernte ich eine Gruppe von Literaten kennen, die am nahen Literaturinstitut Johannes R. Becher studierten. Und verknallte mich prompt in einen. Ein schöner Mensch, wie ich fand, ein Lyriker, der sich witzig als „pg“ vorstellte. Auf mein irritiertes Nachfragen erklärte er das mit „plenumsgeschädigt“. Er meinte das berüchtigte Kahlschlag-Plenum 1965, bei dem eine ganze DEFA-Produktion an Filmen in die Kammfabrik wanderte. Er war aber eigentlich nicht betroffen, sondern wurde gefördert. Für mich hat er mal ein Gedicht geschrieben in eine Ausgabe der Lyrikreihe "Poesiealbum" und – ich habe es verloren. Aber eine kleine Passage kann ich noch:
Einen stolzen Vogel gehst Du kaufen
und suchst in ihm etwas,
das in den Köpfen der Krähen umgeht.
Es muss sich auf eine Debatte bezogen haben, die wir führten
Nicht sehr freundlich die Zeile – ich weiß.
Er dichtete auch die DDR-Nationalhymne um
Unverstanden auf Ruinen
haben wir heut abgedankt
In die Zukunft auf zwei Schienen
ist ein bisschen viel verlangt
Auch er verstand sich als Linker, wie seine weitere Entwicklung zeigt. Ich war inzwischen in die CDU eingetreten, meine Mutter war auch hineingeworben worden und nahm als passive Unionsfreundin an den Versammlungen teil. Eine wirkliche DDR-Freundin war sie nicht. Aber die Bundesrepublik war ihr – aus verschiedenen Gründen – auch suspekt.
Amouröse Erkundungen
Meine Lyrikerliebe endete bald. Er war – wie fast alle in der Gruppe – bereits verheiratet. Man muss sich das vorstellen, Er war damals 22. Das waren diese typischen DDR-Ehen. Mit 18 Jahren geschlossen, mit 25 geschieden. Einige der jungen Literaten wanderten nach dem Westen ab, Hans Drawe zum Beispiel, dessen Name mal in einer Tatortfolge als Autor auftauchte. Er ist Hörspieldramaturg geworden.Reinhard Kettner, der erzählerisch nicht gerade der Knaller war, schrieb Fernsehspiele für den DFF. Mein damaliger Freund war später in der DDR-Singebewegung aktiv.Wir trafen uns später in Berlin wieder, was aber nicht glücklich verlief.
Aber hier und dort und auch anderswo und überhaupt trat die Liebe in mein Leben. Ich war auf Wanderschaft und nicht auf Dauer programmiert, obwohl ich mir das jedes Mal einredete. Meine Freundinnen drehten amüsiert die Augen zur Decke, wenn ich ihnen kundtat, jetzt aber sei es definitiv die große Liebe. Ich schlief manchmal mit Männern aus Sympathie oder weil ich keine Spielverderberin sein wollte. Ich hatte kurze, heftige Beziehungen, an die ich gern denke. Alles mögliche konnte passieren und ich liebte die Erwartung mehr als die Erfüllung wovon auch immer.
Ein Treffpunkt der "Weiber" unserer Klasse war das „Erdener Treppchen“. Da verkehrte ein bürgerlicheres Publikum, wenn ich mich recht erinnere. Dort hockte ich meist mit meinen Schulkameradinnen. Ewig saßen wir, aßen meist das als luxuriös geltende Rumpsteak mit Pommes frites und tranken Weißwein. Und wir besprachen das Leben.
Hin und wieder aber sprachen wir auch über Schulprobleme. Ich war in meinen Stammfächern gut. Aber an den naturwissenschaftlichen Fächern wäre ich beinahe gescheitert. In der Physik half mir einmal der reine Zufall vor einer versetzungsgefährdenden Fünf. Ich bekam eine Aufgabe in der mündlichen Prüfung, die ich zufällig konnte. Es ging um die Germaniumdiode und ihre Wirkungsweise. „Sie haben romantische Vorstellungen von der Mathematik“ lästerte mal ein Lehrer über mich .Aber es reichte doch, um einen mathematischen Ansatz zu bilden. Integral und Differentialrechnung – eben in Ansätzen – zu erfassen. Der Rest war ziemlich mager.
Es war eben kein bürgerliches, sondern ein "Arbeiterabitur". Latein hatten wir nicht, An Fremdsprachen nur Russisch. Aber ich wurstelte mich ganz erfolgreich durch diese zweieinhalb Jahre. Dazwischen machte ich den Facharbeiterabschluss als Industriekaufmann und wartete ansonsten ab.
(Möglicherweise folgt noch ein Schlussteil).
Kommentare 18
"Möglicherweise folgt noch ein Schlussteil."
Oh ja, bitte. Eine schöne Geschichte, ob nun verklärt oder nicht - nebensächlich. Ich finde mich in so manchem wieder. Ein schönes Gefühl, darin bestätigt zu werden, dass gewisse Gedanken und Empfindungen unabhängig von Zeit und Ort zu existieren scheinen.
Liebe Grüße,
Cassandra
PS. Nebensächlich, jedoch,
mir fällt gerad' noch ein:
Tausend Mal lieber Russisch als Latein!
Danke Dir Cassandra,
wenn Du etwas drin wiederfindest und - wie mein Mann immer sagt - es "sich liest", dann bin ich hochbeglückt.
Ja, Russisch war gar nicht so schwer, aber die Anforderungen auch nicht so hoch.
Trotzdem, ich kann heute noch so einiges ganz gut.
Na sdorojwe zum Beispiel.
Gruß
Magda
...das hat auch mehr praktischen Wert als staubtrockene Grammatik. Einzig der lila Stowasser mit den roten Punkten hat mir immer wieder Freude gemacht. Und selbstverständlich so mancher Gedanke, wenn denn endlich ins Deutsche übertragen.
Doch würde ich vor die Frage gestellt: Anstoßen oder -geben, fällt mir die Entscheidung ehrlich gesagt nicht sehr schwer, trotz hübschem Wörterbuch. ;)
На здоровье!
Schöne anrührende Erinnerungen, die mich berühren.
Um diese Themenwelt DDR habe ich bisher eigentlich immer einen Bogen gemacht. Das war ganz gewiß keine Arroganz von mir, aber ich verstand das alles irgendwie nicht und so heraus war mir das einfach nur langweilig. Bei Dir bekommt die Schule und alles Andere aus der DDR für mich aber eine menschliche Dimension, die verständlich und nachvollziehbar macht, wie ein Mensch wie Du dort drüben gelebt hast. Ich bewege mich im Geist, in dem was mal der zweite deutsche Staat war und kann Dein Leben durch Deine Augen sehen, auch wenn ich als Mann sicher nicht alles so fühlen kann, wie Du es gefühlt hast.
magda und cassandra, ich beneide euch um den russisch-unterricht. den gabs hier im veranglifizierten westen nicht. ein paar mal hab ich privat anlauf genommen, bin aber jedesmal gestrandet. zum ausgleich hab ich eine dotschka zum slawistikstudium überreden können.
gegen den strich hier im westen war ich als schüler von russischer literatur und musik begeistert, machte dafür aber keine bekanntschaft mit karl may.
magda, deine schulgeschichte ist so wohltuend frei von didaktischen parolen und prinzipien...
"so wohltuend frei von didaktischen parolen und prinzipien..."
Ach wie schön. Danke Dir.
Meine Wurzeln mütterlicherseits liegen zwar im Osten, ich habe aber dank dem 1961 (und damit weit vor meiner Geburt liegenden) - nun sagen wir - etwas überstürzten Umzug meiner Familie gen Westen auch ohne im Lehrplan enthaltenen Unterricht aufwachsen müssen...
Aber junge Menschen sind ja lernfreudig, nicht wahr. An der Disziplin hängt es denn das ein oder andere Mal, aber bisher habe ich durchgehalten und habe meine pure Freude daran...
"nun sagen wir - etwas überstürzten Umzug meiner Familie gen Westen auch ohne im Lehrplan enthaltenen Unterricht aufwachsen müssen..."
Umso spannender finde ich es, dass Dir mein Kram etwas sagt, was über das speziell-DDR-mäßige hinaus geht. Und das ist doppelt erfreulich.
"Bei Dir bekommt die Schule und alles Andere aus der DDR für mich aber eine menschliche Dimension, die verständlich und nachvollziehbar macht, wie ein Mensch wie Du dort drüben gelebt hast."
Vielleicht weil in der DDR auch ganz normale Menschen gelebt haben.
hallo cassandra, was soll das heißen: "Aber junge Menschen sind ja lernfreudig, nicht wahr. An der Disziplin hängt es denn das ein oder andere Mal, aber bisher habe ich durchgehalten und habe meine pure Freude daran.."?
kennst du etwa alte menschen, die sich undiszipliniert im kreis drehen, statt fortschritte zu machen?
Um Gottes Willen, das sollte keine Diskriminierung irgendeines Alters sein. Wieso auch? Ist das so missverständlich ausgedrückt? Dann tut es mir leid.
Das ganze Leben ist ein einziges Lernen, unabhängig vom Alter.
Es sollte eher eine leichte Anspielung auf die hier im freitag sich in letzter Zeit häufenden Blogs zu der schrecklich desinteressierten deutschen Jugend und verblödeten Fernsehgesellschaft sein, die mir eklatant auf die Nerven gegangen sind, da sie mE vor Verallgemeinerung und ähnlichen netten Dingen nur so strotzen.
Das mit meiner Disziplin war ernst gemeint. Habe ich (oft) nicht.
was disziplin angeht, kann ich dich (ver)trösten, cassandra; mit den jahren schwindet der innere widerstand gegen die zumutungen von außen. jedenfalls meine erfahrung. in jungen jahren kostete es mich oft größte überwindung, das alltagspensum zu erfüllen.
"Das waren diese typischen DDR-Ehen. Mit 18 Jahren geschlossen, mit 25 geschieden."
Auch so ein Unterschied in den Biographien, der mir seinerzeit immer aufgefallen ist. Mit 25 hatte "man" in der DDR bereits Kinder und eine Scheidung hinter sich. Als Wessi hatte "man" da eine ganz andere Lebensplanung. Wenn ich nachgefragt habe, bekam ich zur Antwort: Geheiratet werde vor allem wg. des fehlenden Wohnraums, Verheiratete hätten da besser Chancen, also aus ziemlich pragmatischen Gründen.
Ich möchte auch, daß die Geschichte weitererzählt wird. (Und Geschichte meinte ich mehrdeutig.)
Bei mir: Partnerschaft und Kind aus Liebe, Heirat wegen 'Krippenplatz'...
Also, Heirat war Formsache, Zusammenleben mit Kind(ern) schon in jungen Jahren aber nicht.
Ja, das war schon so mit dem Wohnraum. Und überhaupt man heiratete eben und frau auch. Ich galt als absolute Außenseiterin mit meiner Lebensweise. Studenten heirateten meist etwas später aber manche kamen eben schon verheiratet an die Uni. Die DDR war - was das betrifft - ein kleinbürgerliches braves Land. Und langweilig. Vielleicht nicht langweiliger als manche westdeutsche kleine Stadt, ich weiß es nicht.
Na, mal sehen. Nun muss ich mich ja drüber machen und weiterschreiben.
Seufz.
Dass die dadaer auch nicht langweiliger war, als jede westdeutsche Kleinstadt, kann man als Ostler in diversen linkselbischen Romanen und Erzählungen der 60er, 70er, 80er Jahre feststellen. Das junge Heiraten würde ich nicht als Ausdruck von Kleinbürgerlichkeit deuten, nur, wenn es nur die jungen Frauen betroffen hätte. Ein kleinbürgerlicher Mann heiratet nicht mit 20! Es ist eher was Proletarisches...
Eine kleine aber notwendige Korrektur zum Sprachenunterricht: Ab ca. Mitte der 70er Jahre wurden 2 Fremdsprachen als Pflichtsprachen für alle allgemeinbildenden und erweiterten Schulen eingeführt, Russisch und Englisch. Bei den Erweiterten Oberschulen (Gymnasium) gab es sogenannte Spezialklassen. Eine Form war die Sprachenklasse, die hatte zusätzlich Französisch und die Lateinklasse, die hatte na klar, Latein. Die letzte war die, die angehende Mediziner besucht hatten. Aber da musste man vorher schon einen guten Notendurchschnitt mitbringen. Sonst gab es die Möglichkeit an den Kreisvolkshochschulen.
Um einem Vorurteil die Spitze zu nehmen. Geheiratet wurde in erster Linie wegen inniger Zuneigung und nicht wegen Wohnung und Krediten.