Sehnsucht aus den USA

Literatur Magda Geisler erinnert die späte Fortsetzung von „Wer die Nachtigall stört“ an Leseabenteuer in der DDR der 60er
Ausgabe 07/2015

Nur als Bückware erhältlich war Wer die Nachtigall stört von Harper Lee. Der Roman über eine Kindheit im Süden der USA erschien in den 60er Jahren auch in der DDR, das Buch bekam ich vom Fachhändler über die Straße, wo wir immer schon ein bisschen informiert wurden, was gerade so zu empfehlen war. Um mich erkenntlich zu zeigen, nahm ich außer Lees Debüt noch das umfangreiche Werk eines Gegenwartsautors mit. Die umfangreichen Werke unserer Gegenwartsautoren lagen nämlich manchmal ganz schön lange rum. Vielleicht war es Schlacht unterwegs (von Galina Nikolajewa) – ich weiß es nicht mehr.

Ein ähnliches Leseabenteuer bereitete mir, wie vielen anderen, J. D. Salingers melancholische Geschichte über die Erlebnisse des jungen, verwirrten, tapferen Holden Caulfield im New York der 50er. Der Fänger im Roggen kam ebenfalls zu jener Zeit heraus, und Salingers einziger Roman, er veröffentlichte sonst nur noch Kurzgeschichten, war ebenfalls nur über gute Beziehungen zu Buchhändlern zu erjagen.

In Wer die Nachtigall stört war es die Kinderwelt von Scout, die eigentlich Louise heißt, und ihrem Bruder Jem, die mich nicht losließ. Dieser geheimnisvolle Realismus, diese Sprache, die liebevoll ironisch blieb und doch so ernste und tragische Dinge verhandelte. Es war der harte Kampf des Vaters Atticus Finch, Rechtsanwalt in einer kleinen Stadt in Alabama, der einen der Vergewaltigung angeklagten Schwarzen verteidigt und dafür bedroht wird. Es war der Alltag in einer Welt, die so fern der meinen war und in der ich doch immer wieder etwas entdecken konnte, was auch ich gut kannte. All das bewegte mich sehr, und ich legte das Buch nicht mehr aus der Hand.

Die Lebensmaxime von Atticus Finch lautet: „Du verstehst erst dann eine Person ganz, wenn du die Dinge auch von ihrer Seite aus betrachtest, in ihre Haut schlüpfst und darin herumgehst“, sie ging mir damals sofort ein. Ich las es als Mahnung und Trost in einer Gesellschaft, die Mitmenschlichkeit wollte, aber am Ende doch immer Unvereinbarkeit und Unversöhnlichkeiten predigte und – vor allem – Kompromisse verabscheute.

Auch die Annäherung an den stillen und befremdlichen Nachbarn Boo Radley, der die Kinder am Ende vor der Gewalt eines aufgehetzten Bürgers rettet, ist wunderbar erzählt und weckte meine Fantasie. Ich liebe dieses Buch, weil ich die größten Abenteuer der Seele und des Geistes genauso im ganz normalen Alltag sehe und AutorInnen bewundere, die die vielen Gesichter dieses alltäglichen Lebens aufscheinen lassen.

Jerome David Salinger starb 2010 mit 91 Jahren. Zu seinen Lebzeiten kursierten immer wieder Gerüchte, der scheue Autor habe noch weitere Werke irgendwo in einer Schublade oder in einem Tresor. Nelle Harper Lee hatte nach ihrem Debüt (das sich weltweit über 40 Millionen Mal verkaufte), so schien es bisher, kein weiteres Buch geschrieben. Ob es wirklich so ist, dass Truman Capote, der ebenfalls weltberühmte Autor – er kommt im Roman als Nachbarsjunge Dill vor –, einen Teil des Romans mitgeschrieben oder mehr als nur beratend mitgestaltet hat, weiß niemand. Aber viele meinen, es sei schon ein Indiz, dass nach diesem Werk nichts Neues mehr kam.

Jetzt aber wurde berichtet, ein weiteres Manuskript der Pulitzer-Preisträgerin sei aufgetaucht, eine Fortsetzung von Wer die Nachtigall stört. Es sei verschollen gewesen und nun wiedergefunden worden. Eine seltsame Geschichte, die sofort berechtigte Skepsis weckte. Harper Lee ist alt, 88 Jahre, sie lebt in einem Pflegeheim. Man sagt, jene, die sie bisher beraten haben, seien nicht mehr am Leben. Die Versuchung, über ihren Kopf hinweg eine Fortsetzung zu etablieren, hat wohl mit viel Geld zu tun. In den USA soll der rund 300 Seiten starke Roman im Juli erscheinen, also mehr als fünf Jahrzehnte nach ihrem Weltbestseller. Go Set a Watchman, so der englische Titel, sollte mahnen: Stört die Nachtigall nicht.

Und weil ich gerade dabei bin: Noch schwerer ins Gemüt fiel mir in den 60er Jahren Carson McCullers’ Roman von der ewigen Suche nach Liebe, von Trauer und von Sehnsucht: Das Herz ist ein einsamer Jäger.

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