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Ukraine-Konflikt Auf der BBC-Website kritisiert Professor Anatol Lieven, wie sehr der "Westen" die enormen Probleme seiner Politik gegenüber der Ukraine und Russland unterschätzt hat.

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Beim Lesen von Kommentaren unter dem Aufruf zur Ukraine-Politik auf ZON stieß ich auch auf den Hinweis auf diesen sehr interessanten Beitrag.

Russland habe sich im letzten Jahr völlig vertan, als es versuchte, die Ukraine - gegen den leidenschaftlichen Widerstand vieler Ukrainer - in die Eurasische Union zu bringen , erklärt Professor Anatol Lieven.

Aber auch der Versuch, die Ukraine an den Westen zu binden ohne reale Einschätzung der wirtschaftlichen Realität und ohne die Bereitschaft der europäischen Öffentlichkeit, für die Folgen aufzukommen, sei - in einer Zeit, in der die EU selbst in einer sich verstärkenden Krise ist - ebenso gefährlich. Zwar leide Russland stark unter den Folgen der Sanktionen, aber die Situation in der Ukraine sei noch viel bedrohlicher. Angesichts eines vorhergesagten Rückgangs des BIP von 7% in diesem Jahr drohe der ukrainische Staatszerfall.

Zuviele "Experten" aus den Medien und der Politik hätten in den letzten 23 Jahren die Schlüsselaspekte der ukrainisch- russischen Wirtschaftsbeziehungen ignoriert oder falsch dargestellt. In ihrem Eifer, Russland den Druck auf die Ukraine über Gaslieferungen anzukreiden, hätten westliche Kommentatoren meist vergessen zu erwähnen, dass Russland durch billiges Gas und nachsichtige Zahlungsbedingungen bislang die ukrainische Wirtschaft subventioniert hat. Dies zu verleugnen ermöglichte den gleichen Kommentatoren, dringende Fragen an die westlichen Staaten zu vermeiden, z. B. danach, ob sie denn bereit wären,die Milliarden zu zahlen, um die Ukraine aus der russichen Einflussphäre zu lösen.

Nach wie vor sei Russland der größte Handelspartner der Ukraine. Die Ukraine exportiere Produkte nach Russland und damit würden die Reste der einheimischen Industrie gestützt.

In die Europäische Union aber exportiere die Ukraine hauptsächlich Rohstoffe und Agrarprodukte, wobei diese stark durch EU-Quoten und Zölle beschränkt sind .

Westliche Kommentatoren vermieden auch die Frage, ob die EU bereit wäre, die eigenen Einfuhrregeln zu ändern, wenn die Ukraine ihre Handelsbeziehungen mit Russland reduzieren würde und mehr ukrainische Importe zuließen.

Nur wenige westliche Kommentatoren hätten den wichtigsten Aspekt des ukrainisch-russischen Beziehungen, erwähnt: Mehr als drei Millionen Ukrainer arbeiten in Russland. deren Geldüberweisungen stützen die Wirtschaft mehrerer Regionen in der Ukraine. Zu fragen sei: Wären die EU-Mitgliedsstaaten wirklich bereit, ukrainische Arbeitskäfte in ihren Ländern die Arbeit zu ermöglichen?

Könne die EU die Ukraine in einen starken antirussischen Verbündeten verwandeln und dies nur aufgrund diffuser Versprechungen in Bezug auf eine EU-Mitgliedschaft in einer ungewissen Zukunft oder gar "für morgen"? Die Antwort sei klar.

Klima der Ablehnung

in Europa.

Prof. Lieven verweist auf eine starke Kampagne für einen Ausstieg aus der Europäischen Union in Großbritannien. Ein Referendum von den Konservativen unterstützt – ist für 2017 geplant.

Generell erstarkten in der EU die rechten Parteien. In Frankreich sähen auch die besonnenen Kommentatoren eine reale Chance, dass im Jahr 2022 die Nationale Front die Französischen Wahlen gewinnen und Marine Le Pen Präsidentin von Frankreich werden könnte. All diese Entwicklungen seien durch Feindseligkeit gegen zuviel Einwanderung bestimmt.

Fazit: Auf der einen Seite sei der Westen offensichtlich nicht bereit ist, wirtschaftliche Opfer zu bringen, um die ukrainische Wirtschaft angesichts der russischen Feindschaft zu unterstützen. Auf der anderen Seite aber mache es der Konflikt in der Ukraine jeder Regierung dort unmöglich, wirtschaftliche und politische Reformen – auf denen die EU besteht – in Angriff zu nehmen. Die geforderte Einsparung von Subventionen und die Schließung vieler Betriebe der ukrainischen Industrie, würden ein Großteil der Bevölkerung im Osten und Süden der Ukraine in die Arme von Russland treiben.

Kiews Abhängigkeit von den Oligarchen und von nationalistischen Milizen, die den Krieg im Osten der Ukraine führen, stelle eine ernste und wachsende Bedrohung für die ukrainische Demokratie dar und hemme die Verbreitung liberaler Werte in der Ukraine.

Ein beunruhigendes Zeichen dafür sei die Ernennung von Vadim Troyan zum regionale Polizeichef in Kiew im vergangenen Monat, obwohl dies durch die Ernennung eines jüdischen Sprechers im Parlament angeblich ausgeglichen sei.

Troyans Regiment, das Asowschen Bataillon ist berüchtigt für Verbindungen nach „Rechts“ bekannt. Seine Beförderung scheint weitgehend als Belohnung für die Teilnahme seiner Gruppe bei den Kämpfen im Osten der Ukraine zu sein.

Neutralität ist

der einzige Weg

Lieven meint, dass es eigentlich keinen anderen Weg gibt, als die Neutralität der Ukraine zu fordern und zu sichern.

Um den ukrainischen wirtschaftlichen und politischen Fortschritt zu unterstüzten, müsse ein Kompromiss gefunden werden, der es der Ukraine ermöglicht - nach beiden Seiten - der EU und weiterhin Russland – zu handeln und offen zu sein.

Dann wäre die Ukraine frei für die Durchführung der internen Reformen, die es brauche, um die Entscheidung, ob es die EU-Mitgliedschaft ansteuern will oder nicht zu treffen.

Dies ist sei solange unmöglich, wie ein Kompromiss mit Russland zu Bedingungen, die auf der Hand liegen, nicht möglich sei.

Lieven meint: in erster Linie sollte die Ukraine einen neutralen Status haben.

Was die östlichen Region der Ukraine, den Donbass betrifft, liege die Lösung in einer sehr weitgehende Autonomie für die Donezk- und Luhansk Regionen, die von der internationalen Gemeinschaft garantiert werden müsse. Jenseits allerdings des lächerlichen Angebotes einer temporären dreijährigen Autonomie, das von Kiew ausging.

Darüber hinaus sollte die EU die Garantie der russischen Sprach-Rechte in der Ukraine unterstützen. Nicht, weil Moskau das verlangt, sondern weil der Westen es dringend nötig hat, klarzumachen, dass es seine eigenen Werte angesichts der wachsenden Macht der neo-faschistischen Gruppen in der Ukraine durchzusetzen bereit ist.

Der Widerstand gegen ein solches Abkommen in bestimmten westlichen Stäben und Kreisen wird energisch sein, aber seine Gegner müssten sich fragen lassen, welche Opfer sie bereit sind, zu riskieren, um die Ukraine in eine pro-westliche und anti-russischen Staat zu verwandeln.

Die Zeit für allgemeine Überlegenheits-Gesten sei vorbei. Die Zeit für die harte ökonomischen Berechnung habe begonnen.

Anmerkung: Die Bemühungen, die Ukraine an den Westen zu binden hätten die USA schon fast 5 Milliarden gekostet, so liest man immer wieder in den Medien. Das aber sind peanuts gegen die Folgekosten der Ukraine-Westbindung.

Anatol Lieven - ist Professor an der "School of Foreign Service" in Katar, die zur Georgetown Universität in Washington gehört. Er hat u. a. auch ein Buch über die Ukraine and Russland geschrieben: Eine Brüderliche Rivalität.

Hier ist der Link zum Originaltext:

http://www.bbc.com/news/world-europe-30278606

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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