TAG 23 Das Buch mit den wenigsten Seiten...

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...hat eine längere Geschichte

Ach, das ist einfach. Aber langwieriger zu erzählen, als das Buch Seiten hat.

Vor vielen vielen Jahren war ich wieder einmal schwer verliebt. In einen gutaussehenden blonden, klugen Physikstudenten. Seinetwegen zog ich aus dem Studentenheim, wo ich mich recht gut gefühlt hatte, in ein dunkles Berliner Zimmer im Prenzlauer Berg.

Seinetwegen überwand ich meinen inneren Stolz und rief immer wieder bei ihm an. Seine Familie hatte ein Telefon – ich nicht. Und immer war da die Mutter mit einer eifersüchtigen Stimme. Es war rundes, volles DDR-Bürgertum im Tellkampschen Sinne, obwohl es mir widerstrebt, gerade den als Zeugen aufzurufen.

Ich hatte zu der Zeit wenig Selbstvertrauen, wenig Mut, diese Liebe auf die Probe zu stellen. Ich war in der ganzen Geschichte jene, die mehr liebt und darum mehr leiden musste. Ich forderte wenig, freute mich, wenn er Freitags- oder Samstagabends bei mir vorbeikam, mit mir einen Tee trank, die Nacht mit mir verbrachte und dann – für eine Woche – wieder verschwand. So ging das ein halbes Jahr. Eines Tages kam er mit ernster Miene zu mir, um Schluss zu machen. Das Verrückte und Anstrengende an der ganzen Sache war, dass mitten in seiner Abschiedsrede die Türglocke erklang und eine Kommilitonin erschien. Das erleichterte ihm den Abschied enorm, denn mir war der Mund damit verschlossen. Ich verabschiedete ihn mit jener lockeren Beiläufigkeit, die mir sonst nicht zur Verfügung gestanden hätte. Als er gegangen war, schlug ich meiner Freundin vor, mit mir ins Kino zu gehen. Dort konnte ich – es war ein französischer Liebesfilm – in aller Ruhe ein bisschen heulen.

It's all over now, baby blue

Einige Wochen später sah ich ihn als auf die Straßenbahn wartete, mit einer anderen Frau stehen. Sie lachten zusammen und ich ging heim, sah in den Spiegel und fing an zu singen. Ich sang „It’s all over now baby blue“. Ich singe oft und manchmal auch, um Anspannung, Kummer und Stress zu mildern.

Immer mal wieder sah ich ihn bei Studentenfeten oder beim Fasching. Immer hatte ich das Gefühl, keiner hätte soviel Geist, so viel Stil soviel von allem, was ich offensichtlich mit meinem Hintergrund nicht besaß. Alle Männer nach ihm wurden an ihm gemessen oder an dem Bild, das ich von ihm hatte. Solche Geschichten wandeln sich ihrerseits wieder in neue Dramen. Der Vergleich mit einer alten Liebe vergiftet eine neue oder lässt sie scheitern.

Ich verfolgte ein bisschen seinen Weg. Wenn ein neues Telefonbuch herauskam, sah ich nach seiner Adresse und konstatierte, dass er noch immer dort wohnte, wo ich ihn vermutete. Das alles verlor sich mit der Zeit. Mein Leben wurde interessanter und bunter als es in der Zeit dieser Liebe gewesen war. Ich lernte andere Männer kennen, ich verliebte mich ohnehin gern. Ich wurde selbstbewusster. Und irgendwann heiratete ich.

Dann kam das Internet ins Spiel. Ich gab hin und wieder auch seinen Namen in eine Suchmaschine ein und fand einige wissenschaftliche Veröffentlichungen. Mein Bild von ihm war zwar verblasst, denn ich war inzwischen auch in ganz anderen Lebenslagen unterwegs. Trotzdem, ich blieb diesem Brauche treu, so wie man ja ohnehin immer mal nach anderen Leuten googelt und guckt.

Die Furche entlang

Dieser Tage fand ich unter seinem Namen einige Buchveröffentlichungen.
Aha, jetzt wird es ein Schöngeist, dachte ich bei mir. Viele sind - verführt durch die schnellen BoD-Chancen und andere Print-Opportunitäten - jetzt kreativ tätig. So auch er.

Der Titel des Werkes lautet „Intellektuelle Furchenläuferei , Ausnahmen davon und Möglichkeiten ihrer Verringerung“. Hier gehts die Furche lang

Es gibt auch eine kleine Vorschau. Die erläutert, dass es dem Autor um die Überwindung allzu enger Sichten auf Probleme, Ereignisse oder Phänomene zu gehen scheint.

Ich bestellte mir das Buch für 10 Euro, weil ich neugierig war. Und – ichmuss es leider sagen – diese Neugier wurde arg bestraft. Durch Desillusionierung. Es erreichte mich ein kleines Heftchen mit einem Farbfoto, das die Lächerlichkeit jener Menschen, die sich nicht über die heimische Hecke trauen, illustrieren soll.

Ein Werk von 21 Seiten

Der Verfasser hat darin einige Anekdoten aus seinem wissenschaftlichen und sonstigen Leben zu einer Bedeutung aufgepumpt, die seinem Anliegen nicht gut tut. Er scheut nicht davor zurück, einen uralten Sprachenkalauer über Heinrich Lübke als Einleitung zu verwenden. Merkwürdig fand ich auch, dass er in seiner gedruckten Ausgabe viele Links verwendet, die man dann per Hand eingeben müsste, um den verschlungenen Wegen des Autors zu folgen. Man ist allerdings recht bald erlöst, denn das Werk ist nur – man glaubt’s nicht – 21 Seiten lang. Dafür gibt es auch eine englische Version des „profunden“ Textes.

Was mache ich – angesichts dieses Werkes - mit den Erkenntnissen, die es mir vermittelt? Und zwar nicht über sein Thema, das ohnehin ein wenig nach Kleingartenbeet klingt, sondern über ihn selbst. Muss ich die Geschichte dieser Liebe neu schreiben? Habe ich mir was vorgemacht? Ich weiß es nicht. Ich will jetzt auch nicht zu spöttisch werden, irgendwie war der doch ganz witzig, damals. Er hat mich nicht so geliebt, wie ich ihn. Es hat nichts zu tun mit diesem albernen Broschürenwerk. Oder doch?

Begrabt mein Herz in der „Intellektuellen Furchenläuferei“,könnte ich schreiben. Och nee, lieber nicht. Man soll versöhnlich sein. Also, ich berichte lieber hier über dieses Werk, denn es ist ja gedacht, bekannt zu werden. Es soll keine Rache sein, eher eine gewisse Erleichterung, dass jemand, den ich mal in den Himmel gehoben habe, auch nur ein Mensch ist. Überhaupt, der Abschied von so einer alten Illusion ist wie der Abwurf von Ballast.

Übrigens: Im letzten Videoblog hat die Erwähnung dieses Werkes am Ende bei uns wahre Lachsalven ausgelöst. Das ist doch auch schon ein recht erfreulicher Effekt. Jetzt könnte ich über ihn lachen, das hätte ich mir damals nie erlaubt. Aber ich denke an ihn und lächle.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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