In der Nacht zum 13. Juli 2002 wurde der 16jährige Marinus Schöberl von den beiden Brüdern Marcel und Marco und einem weiteren Mittäter geschlagen, gefoltert, gedemütigt und am Ende ermordet. Die Täter zwangen Schöberl in einen Bordstein zu beißen und Marcel sprang Marinus dann auf den Kopf. Und weil er noch nicht tot war, schlugen sie mit einem Stein so lange auf ihn ein, bis er sich nicht mehr regte. Die Täter vergruben ihn dann in der Jauchegrube des Schweinestalls, in dem sich das entsetzliche Ende einer völlig aus dem Ruder gelaufenen Sauftour zutrug. Die Idee mit dem Genickbruch, dem Kick“ hatten sie aus dem Film AMERICAN HISTORY X. „Der Kick“ – heißt auch das Theaterstück von Andreas Veiel und Gesine Schmidt. Veiel hat vorher schon einen Film zum Thema gedreht und ein Buch dazu geschrieben.
Am Freitag wurde „Der Kick“ in der Schule 1 in Berlin Pankow aufgeführt. Regie und Dramaturgie hatte Ines Koenen. Ich fand, dass die Kunstlosigkeit der Aufführung – die Laiendarsteller saßen um das Podest herum, das die Bühne bildete und traten jeweils vor, um ihren Text zu sprechen – der Konzentration gut tat. Im Hintergrund auf eine Leinwand projizierte Bilder aus der Geschichte und Gegenwart des Ortes oder auch nur mit dem Ortschild.
„Jetzt kommt der Abschaum aus dem Osten“ – dies ein Zitat aus Heiner Müllers „Umsiedlerin“, das in der Zeit nach dem Kriege spielt und daran erinnerte, wie Fremdheit schon immer mit Abwertung und Abwehr einherging.
Ist die Untat eine Folge erlebter Repressionen oder nicht verarbeiteter Umbrüche im Lande mit hoher Arbeitslosigkeit, ständiger Existenzangst und dem Gefühl neuen Ausgeliefert Seins? Zwischendurch wird auch eine zivilisatorische Lücke (Norbert Elias) konstatiert, als hätte es kein Gladbeck gegeben und andere Entgleisungen, die deutlich machen, wie dünn das Eis ist, auf dem das menschliche geordnete Verhalten sich vollzieht und wie schnell es einbrechen kann: Bei Instabilitäten, Kriegen, Krankheiten und Katastrophen und als bedrohlich erlebten existenziellen Ängsten kippen sie, die trügerischen Sicherheiten und Brutalitäten verschaffen kurzzeitig ein trügerisches Lebensgefühl.
Die beiden Brüder Marco und Marcel galten als Rechtsradikale, Marinus Schöberl – der mit einer Sprachbehinderung kämpfte - war eher ein Hiphopper oder überhaupt nicht festgelegt. Er war „einfach zur falschen Zeit am falschen Ort“, sagen die Leute. Warum zwei Zeugen, die den Anfang der Quälereien an Marinus noch miterlebten, tatenlos zusahen und nicht die Polizei riefen, erklärt sich auch aus den Umbruch-Erfahrungen. Zeiten, in denen „Freiheit“ jedes zweite Wort war, noch mit nichts erfüllt als Beliebigkeit und Orientierung überhaupt nicht mehr vorhanden und ein fantasiertes "Recht" in die eigenen Hände genommen wurde.
Rechtes, dumpfes Gedankengut habe sie beherrscht, so deutet die Staatsanwältin die Situation. Außerdem schildert sie Marinus’ Verhalten als das eines fast perfekten Opfers. Hätte er einmal dagegen gehalten und sich geweigert, das Spiel mitzuspielen, dann wäre die Situation vielleicht nicht so eskaliert. Hätte er gesagt: „Ich bin doch einer von Euch“, statt – wie es die Mordbrüder forderten - zu „gestehen“ „Ich bin ein Jude“, wäre vielleicht noch alles anders gekommen. Niemand kann das wissen, aber Marinus war einer, der sich nie wehrte, wie soll er da auf einmal die Kraft gefunden haben.
Die Mutter von Marinus erzählt von den Monaten des Wartens nach ihrer Vermisstenanzeige. Sie erzählt von der kaum vorhandenen Anteilnahme, nachdem die Tat ans Licht kam und davon, wie das Wohnungsamt ihr bekundete, jetzt wo sie ein Kind weniger habe, sei sie nicht mehr berechtigt, die entsprechende Wohnung zu bewohnen. Das ist sie, die elende, ordentliche Bürokratie.
Die Eltern der beiden Täter – verstört, verdrängend, hilflos. Es war ihnen gutgegangen in der DDR. Sie haben reichlich verdient als Zimmerer und in der LPG.
Der Vater meint zu seinem Skinhead-Sohn, Glatzen kenne er nur aus den KZ-Filmen aus der Vergangenheit. Sie hätten doch „Nackt unter Wölfen“ gesehen, sie seien doch in den Gedenkstätten gewesen. Unbegreiflich, das alles. Weiter in der Vergangenheit ruhen auch noch andere böse bittere Segmente. Den Großvater hätten die Russen nach dem Kriege stranguliert, weil er seine Uhr nicht hergeben wollte, die Großmutter sei vergewaltigt worden. So tief in die Familiengeschichte hinein geht die Suche nach Erklärungen für das Tun der beiden Söhne. Traumatisierung und Verdrängung.
Dazwischen meint eine „Ausbilderin“, die Täter seien eigentlich politisch unwissend, sie halte alles für Staffage und äußerliche Ausstattung. Der Ältere - Marco - war gerade aus dem Gefängnis entlassen und Abend vor der Tat beim Dorffest übel zusammengeschlagen worden. Er war gedemütigt und aggressiv als er und sein jüngerer Bruder auf Schöberl stießen. Marinus Schöberls Mutter spricht zum Schluss anklagende Worte: Es sind Mörder, sie sind schuldig, sagt sie. Wenig später stirbt sie an Krebs.
Zwei Filme kamen mir während der Aufführung in den Sinn: „Die Freiheiten der Langeweile“ - ein Stück von Dieter Wellershoff, der eindringlich schilderte, wie ein Gewaltexzess sich aufbaut, wie „eines zum anderen“ kommt – auch der Zufall spielt manchmal mit – und am Ende alles in eine Katastrophe mündet.
Und "Uhrwerk Orange" Gerade spielte der Film in einer Diskussion in einem Freitags-Blog eine Rolle. Buch und Film, immer wieder heftig wegen seiner Gewaltästhetik angegriffen und verworfen, aber auch gedeutet als Plädoyer für menschliche Handlungsfreiheit, jenseits von Anpassung und Konformismus. Auch für die Freiheit, sich dem Bösen zuzuwenden.
Was für eine Gedankenluxus, und wie schrecklich die Realität dieser völlig in den Irrsinn leitenden beängstigenden „Freiheiten“, mit denen die jungen Leute nichts anfangen konnten. Sie kämpften ohne jede Orientierung gegen das „Fremde“, „Andere“, gegen die Unbegreiflichkeiten eines langweiligen und hoffnungslosen Lebens. Die Wirklichkeit eines „Uhrwerk Potzlow“ sind verfehlte Chancen und Möglichkeiten, Es schlägt die Stunde der Trauer am Toten Punkt.
Herr Schönfeld, Vater der Täter "Es ging uns doch gut"
Frau Schöberl (Heike Gerstenberger) "Sie sind Mörder".
Marcel "Ich wollte Marco imponieren".
"Der Kick" von Andreas Veiel und Gesine Schmidt.
Regie und Dramaturgie: Ines Koenen
Es spielen:
Jutta Schönfeld Sabine Herrmann
Jürgen Schönfeld Roland Exner
Marco/Marcel Schönfeld Steffen Rudek
Staatsanwältin/Verhörende Bettina Pinzl
Bürgermeisterin Ines Koenen
Ausbilderin/Gutachterin Anna Hinsberger
Sandra B. : Lea Haake
Birgit Schöberl Heike Gerstenberger
Musik: Bach, Rammstein, Die Ärzte
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