Verstand und Gefühl?

Postfaktische Zeiten Kürzlich spöttelte eine Journalistin im Gespräch mit inforadio vom rbb: "Jedem sein eigenes Narrativ" - eine Variante der Debatte Fakten vs. "gefühlte Wahrheiten".

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Sylke Tempel – Chefredakteurin von Internationale Politik - sprach kürzlich im Interview mit Inforadio zum Thema Hillary Clinton/Donald Trump und dem Präsidentschaftswahlkampf davon, wie sehr ihr die Rede von den „Narrativen“ auf den Wecker ginge. Jedem Zeitgenossen sein eigenes Narrativ, spöttelte sie. Den Fakten würden heute eher „gefühlte Wahrheiten“ oder „gefühlte Tatsachen“ entgegengesetzt. Auch bei vielen Berichten über die Präsidentschaftsdebatten wurde auf dieses Begriffspaar: Gefühl vs. Fakten zurückgegriffen.

Jetzt ist sie überall im Schwange - diese Wendung von den postfaktischen Zeiten. Was nun?

Professor Mausfelds

Erklärungen

Mir fällt in dem Zusammenhang der allerseits gelobte Professor Mausfeld - und seine Erklärungen über die Art, wie wir die Welt wahrnehmen - ein: Der als Erlöser von der Unmündigkeit Gepriesene, der auch mal erklärt, dass der Neoliberalismus viel vom Leninismus gelernt habe, enthüllt die Techniken der „herrschenden Eliten“ (er meint allerdings nur die im Westen): Defragmentierung aus Zusammenhängen durch Ausblenden des Kontextes, Ersetzen von Fakten durch Meinungen, all dies nutzt die Art, wie Erkenntnis beim Menschen funktioniert. So können die Medien z. B. im Rahmen eines Empörungsmanagements die öffentliche Empörung eindämmen oder schüren, je nachdem, was den neoliberalen Eliten nutzbringend erscheint.

Das ist alles

keineswegs neu

Achja, achja, das ist alles nicht neu und ein kritischer Umgang mit Medien gehörte – wenn ich es richtig sehe – in Ost und West zu den Dingen, die vermittelt wurden. Manchmal war das auch sehr einseitig. In der DDR allerdings verwies man pauschal auf die Medien des kapitalistischen Westens, während in den 70er Jahren und auch noch in den 80ern der Umgang mit der „Schere im Kopf“ in den Medien der Bundesrepublik selbstkritisch und ziemlich ausführlich debattiert wurde.

Fakten allein erklären

die Welt nicht genügend

Dass Fakten allein die Welt nicht erklären, ist nicht ganz neu. Kürzlich hat eine ZAPP Sendung kritisch erinnert, wie man sich über Fokus-Chef Markworts Gerede „Fakten, Fakten“, Fakten“ lustig gemacht hat, weil am Ende nur Diagramme herauskamen, die das Informationsbedürfnis auch nicht gerade stillten.

Es stimmt natürlich, dass bei der Be- und Verurteilung von Wladimir Putin und der Politik der Russischen Föderation die ganze Vorgeschichte des Ukraine Konflikts, der NATO-Ausdehnung usw. usw. inzwischen weitgehend ausgeblendet werden. Aber, das ist auch bei anderen politischen Ereignissen so. Die Fakten sind geschaffen – die Gefühle darüber ändern sich ständig.

Also: Wenn man Fakten hinblättert, bedeutet das überhaupt nicht, dass nur eine einzige Schlussfolgerung möglich ist.

So bestätigt z. B. Mausfeld in dem Interview, dass er viel Medien (Mainstream-Medien und nicht den ganzen alternativen Kram) konsumiert und dort durchaus die Informationen erhält, die er braucht. Er zitiert z. B. sehr oft den "Spiegel". Aber er erklärt, die Interpretationen richteten sich nach dem politischen Wissen. Und sein politisches Wissen und seine Schlussfolgerungen aus Fakten sind halt andere als bei den durchschnittlichen Medienkonsumenten: Hallo Krethi und Plethi – Hallo Elite.

Also: wer den richtigen "Rahmen" hat, der kann das auch lesen - der Kontext ist wichtig. Fakten allein waren es noch nie allein. Das eigentliche Elend sind ja auch nicht die „gefühlten Wahrheiten“, sondern die skrupellosen Behauptungen, die bestimmte Gefühle erzeugen sollen. Das gabs schon immer in den Medien und viele viele Kommentare unter manchen Beiträgen haben diesen Brauch gern übernommen.

Verständliche Ursachen

Für die Flucht vor den Fakten?

Fast scheint es, dass es eine „wirkliche“ Wahrheit tatsächlich gar nicht mehr gibt oder, dass sie niemand mehr hören will. Gab es nicht immer wieder wieder durch die letzten Jahrzehnte einen Singsang, der von der „normativen Kraft des Faktischen“ handelte und am Ende vom „Sachzwang“ oder auch den TINA-Spruch von der Abwesenheit von Alternativen?

Hat darum nicht die Flucht, die Abwehr von Argumenten, die mit Fakten hantieren, ganz verständliche Ursachen?

„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, schreibt Ingeborg Bachmann – übrigens bei der Übergabe des Hörspielpreises der Kriegsblinden.

Mir scheint: Wir haben schon immer in postfaktischen Zeiten gelebt, denn erst nach den Fakten kommen deren Deutungen, Verarbeitungen und Meinungen, deren „Einordnung“ in Zusammenhänge, die interpretierbar sind.

Mich beschäftigt jetzt schon wieder die Frage, ob Fakten und Tatsachen das gleiche sind und ob die Wahrheit am Ende gar nicht mehr wahrnehmbar ist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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