Vom Toooooooooooor zum Tooooooooooooon

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

John Cages Jahrhunderte-Projekt „ORGANf/ ASLSP“ aktualisiert am 5. Juli 2010 zum neunten Mal seinen Klang

www.john-cage.halberstadt.de/new/index.php?seite=news&;;;l=d

Wenn jetzt allüberall anschwellend Tooor, Tooor, Tooor, geschrieen wird, dann fragen sich Zeitgenossen, wie man den "horror vacui", der nach diesen heftigen und orgasmischen Begeisterungsstürmen, „torsicher“ zu erwarten ist, bekämpft.

Ich propagiere Besinnung, Verlangsamung. Ich proponiere in diesen Tagen: Halberstadt. Denn dort ist bald wieder - nein nicht Torjagd, sondern Tonwechsel.

Urlaubsreminiszenzen

Es ist schon eine Weile her, dass uns - während einer Urlaubsreise in den Harz - neben einer akuten Zahnentzündung auch ein Ausflug in diese Stadt widerfuhr. Wir sind dahin geraten, weil andere Ziele, z.B. Göttingen, - auch eine Stadt mit literarisch belegtem schlechtem Ruf - nur per Schienenersatzverkehr zu erreichen waren.

Als wir ankamen, wurde sofort klar, dass Heinrich Heines Verdikt vom Rücken, mit dem man jene Stadt am besten ansieht, auf Halberstadt ebenso gültig anwendbar ist, denn kaum waren wir dort, fragten wir uns schon, was uns eigentlich bewogen hatte, herzukommen.

So holterdipolter konnte man der Würstchenstadt den Rücken nicht zu kehren, es fuhren so schnell keine Busse in die Gegenrichtung.

Also machten wir uns ins Zentrum auf. Den imposanten Dom bestaunten wir pflichtgemäß, aber mir war an dem Tag nicht sakral zumute. Auf der Suche nach etwas Weltlicherem fiel mein Blick auf einige Wegweiser. Einer von ihnen verwies auf die „Burchardi-Kirche - Orgelkunst-Projekt ORGANf/ ASLSP“

Siedendheiß fiel mir ein: Das ist ja eine Weltsensation - ein Werk, des berühmten Komponisten John Cage. ASLSP bedeutet„As slow as possible" und das Werk ist ausgelegt für - man glaubt es nicht - 639 Jahre.

5. September 2001 - heiße Luft

Begonnen hat es am 5. September 2001 mit - tja mit heißer Luft - mit einer anderthalb Jahre andauernden Fermate, in der das Orgelgebläse nichts als Atem schöpfte.

Am5. Februar 2003 erklangen die ersten drei Töne, gis´, gis´´, und h´ in der Burchardikirche. Und danach gab es weitere Tonwechsel immer mit entsprechendem kulturellem Passepartout.

Sofort nichts wie dorthin. Das Areal, auf dem sich die Kirche befindet, war gar nicht so leicht zu finden. Sie diente durch die Jahrhunderte neben ihrer erhabenen Aufgabe auch als Schnapsfabrik und Schweinestall. Ein merkwürdiges Geräusch hörten wir schon, als wir uns dem Gebäude näherten. Mein Mann meinte, das sei sicherlich ein Generator. Es war verschlossen, aber als wir auf das daneben liegende "Herrenhaus" zugingen, kam schon ein freundlicher Herr heraus und nahm uns mit zum Ort des künstlerischen Geschehens.

Das Tor wurde uns aufgetan und ein Klang - aus mehreren Tönen bestehend - wurde lauter. Sie entströmten einer Orgel - einer Spezialanfertigung, mit sinnreichen Blasebälgen versehen, die auf der einen Seite der Kirche ihre Arbeit tun. Auf der anderen Seite stehen die Orgelpfeifen, die jetzt in Gebrauch sind. Später - wenn weitere Töne nötig werden, werden neue Orgelpfeifen dazu kommen.

Die Orgel ist natürlich das einzige Instrument, mit der man so etwas bewerkstelligen kann. Sie allein hat den Jahrhundertatem, und natürlich hat sie ihn nur durch Elektrokraft. Zu Beginn aber haben einige junge Männer symbolisch begonnen, die Blasebälge zu treten. Es soll eine menschliche Dimension haben - das Ewige. Man schüttelt den Kopf, aber man lauscht entzückt den Tönen. Er hat was Transzendentes und - ein in jenem Urlaub herbeigewünschter Seelenzustand - Tröstliches, dieser Vorgriff auf ein kurzes Stück Ewigkeit. Man kann sich auch selbst verewigen, indem man ein Klangjahr erwirbt. Auch die Fernsehjournalistin und Autorin Wibke Bruhns, deren biographische Abrechnung mit ihrer Familie "Meines Vaters Land" in der mitteldeutschen Stadt spielt, hat dies getan. Ihr Name ist auf einem Täfelchen mit vielen anderen zu besichtigen. Ab 1000 Euro ist man in das hoffnungsvolle Projekt integriert.

Warum fällt mir die Vuvuzela ein?

Es gibt Leute, die hören die verschiedensten Töne heraus, sagte der freundliche Angestellte. Zwei konnte auch ich entdecken, aber nicht mehr. Soll ich despektierlich anmerken, dass die Vuvuzela-Klangerfahrungen dieses Fußballsommers mich ein wenig an Halberstadt erinnern? Cage hätte bestimmt nichts dagegen, der hatte Humor.

Der nächste Tonwechsel war damals für den 5.Juli 2008 geplant.

So lange konnten wir nicht warten im Herbst 2007, aber wir hatten eine schöne Stunde mit vier Tönen und waren versöhnt mit Halberstadt.

Inzwischen haben weitere Tonwechsel stattgefunden, im Februar 2009war der achte,bei der dasd' und e'' hinzukamen.

Und wie immer war es auch "Auftrieb" mit der üblichen kulturellen Begleitung und Umrahmung.

Verabschiedung des zweigestrichenen e

Nun am 5. Juli wird es den neunten Tonwechsel geben. Das zweigestrichene e wird sich wieder verabschieden.

Laura Kuhn nimmt ihn vor, langjährige Mitarbeiterin von John Cage. Sie ist auch Teilnehmerin des ersten Halberstädter John-Cage-Gesprächs.

Diesmal obliegt den Veranstaltern auch die traurige Aufgabe, engagierter Begleiter des Projektes zu gedenken. Der Musiktheoretiker Klaus Metzger - im vergangenen Jahr verstorben - wird u.a. mit einem Ehrentäfelchen gewürdigt.

Damals auf der Rückreise von Halberstadt dachte ich darüber nach, wie es wäre, wenn man diese Idee ins Literarische transponierte. Alle paar Jahre mal ein Wort, ach was sage ich, einen Buchstaben. Immer mit der Vertröstung auf die nächsten Buchstaben in einigen Jahren und mit Abständen. Sie werden sich nach Jahrzehnten und Jahrhunderten zum bedeutsamen Wort zusammenfinden und dann zum Satz.

Am Ende kommt ein epochemachendes Werk heraus. Das verschafft uns Raum in der Zeit, das geht ins Ewige.

Aber halt - es geht nicht. Bei John Cage ist das Werk ja vorhanden, er hat es in der Tasche, es ist sogar in Teilen schon einmal richtig durchgespielt worden.

Unsereins aber hat kein solches Werk in der Tasche. Obwohl: Man könnte sich ja was ausdenken. Der Text kann klein sein, ein Spruch - aber es sollte schon ein Jahrhundertspruch sein, ach was, ein Jahrtausendspruch. Was könnte man da dichten? Vielleicht was ganz Triviales, vielleicht was ganz Transzendentes. Vielleicht: „Durchgang verboten“. Vielleicht inspiriert diese Überlegung zu allerlei Ideen?

Nutzanwendung für Fußballgestresste:

Hektische Torjagden sind die existenziellen staccati dieses Sommers, feierliche Tonwechsel – mit dezenter Vuvuzela-Anmutung - erinnern daran, dass in 630 Jahren noch ein Spiel zu Ende geht. Überhaupt hat alles mal ein Ende wie die Halberstädter Wurst.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden