Wahnsinn

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Vor vielen Jahren...

es war wohl nach der Jubeldemonstration zum Geburtstag der DDR, unserer sozialistischen Republik, stieg ich nach absolvierter Teilnahme an der Station "Schönhauser Allee" aus der S-Bahn und stieg zur Eingangshalle hinauf.

Dort stand ein älterer Mann, ein bisschen verkommen, ein bisschen versoffen. Der rief den Leuten, die an ihm vorbei hasteten entgegen: "Ihr werdet so verarscht, ihr alle, warum lasst Ihr Euch das gefallen, das ist doch alles Scheiße hier". Und die Leute gingen vorbei, peinlich berührt. Auch ich ging vorbei.

Vor mir sagte ein Mann zu seiner Begleiterin: "Ach, ein Verrückter" hoffentlich kassieren sie den nicht ein. Der kriegt bloß Ärger."

Und auch ich dachte: "Mein Gott, so ein armes Schwein, unglücklich und krank, aber er hat in allem Recht. Ein Wahnsinn ist das."

Und heute...

Ich sehe sie manchmal, wenn ich in die "Schönhauser Arcaden" einkaufen gehe. Sie sieht aus wie ein Model, sehr schlank mit einem ungeschminkten blassen Gesicht, das einen Visagisten aber sicher inspirieren könnte.

Ich schätze, sie ist so Anfang der Dreißig, die aschblonden Haare hat sie meist hochgesteckt. Sie ist unauffällig aber originell gekleidet, eine Leinenhose mit einem Tshirt. Manchmal hat sie ein Mützchen auf und einen Leinenbeutel über der Schulter. Kürzlich betrat sie mit Riesenschritten die "Arcaden" und schrie den Leuten ihre Empörung uns Gesicht - eine Empörung, die man immer nur teilweise erahnen kann.

Auschwitz kommt vor, Palästina, Kaffeepreise. Immer wenn sie ihre Empörung ausspeit, sucht sie mit Blicken nach Leuten, die ihren Blick erwidern. Meist an der kleinen Kaffeebar, wo die Gäste an den Tischen sitzen bleibt sie stehen und schreit in die erstaunt aufblickenden Gesichter hinein.

Irgendwann geht sie weiter meist in den Supermarkt und auch dort hört man noch ihre Beschimpfungen. Auch wenn nicht Wort für Wort zu verstehen ist, sind es geschrienen Anklagen gegen die Welt, wie sie ist und vor allem gegen die Gleichgültigkeit der Menschen, die sie abwehrend oder belustigt anblicken.

Einige Tage zuvor war sie mir auf der Straße entgegengekommen auch schreiend, da kam merkwürdigerweise das Wort "Lafayette" vor und sie suchte wie immer den Blick der ihr Entgegenkommenden. Mich sah sie auch an, aber ich blickte nicht weg, sondern interessiert in ihr Gesicht. Das wollte sie nicht, das war keine Chance für eine direkte Konfrontation. Also ging sie weiter.

Ich dachte: "Sie ist unglücklich, sie ist krank, sie hat in allem Recht. Es ist ein Wahnsinn."

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden