Alles bewegt sich wieder

Seelenzustände Die Ausstellung „Animismus“ in Berlin zeigt den Marxschen Fetischbegriff und Georg Lukács’ Rede von der „Verdinglichung“ als originelle Perspektiven statt als Erkenntnisse

Das Umschlagen von Technik in Mythos lässt sich manchmal an Gegenständen illustrieren, bei denen man am wenigsten damit gerechnet hätte. Ein Beispiel dafür ist das Genre des populären Trickfilms, auch Animationsfilm genannt. Was filmästhetisch zunächst die Technik zur Erzeugung einer Lebendigkeits­illusion bezeichnet, die künstlichen Figuren eine autonome Existenz zu verleihen scheint, verweist etymologisch auf die magischen Praktiken des Animismus. Diese sind, folgt man den Ethnologen des 19. Jahrhunderts, kennzeichnend für archaische Stammesgesellschaften.

Wie der Animismus toten Gegenständen ein eigenes Leben zuspricht, das es ihnen ermöglicht, ihre Daseinsform zu verändern und zu überschreiten, so benötigt der Animationsfilm weder lebendige Darsteller noch Bilder der Natur, um Bewegung, Veränderung, Werden und Vergehen zu zeigen. Wie im Animismus aber auch lebendige Wesen, etwa von einem bösen Geist besessene Menschen, zu leeren Hüllen werden können, vermag der Animationsfilm seinen Figuren ihr Leben immer wieder zu nehmen und sie in Objekte zurückzuverwandeln. Auf diese Weise evozieren die im Zuge der Säkularisierung entstandenen Technologien jene scheinbar vorrationalen Praktiken, zu deren Entzauberung sie beigetragen haben.

Auch die Ausstellung Animismus im Berliner Haus der Kulturen der Welt beginnt mit Exponaten aus dem Bereich des Animationsfilms. Damit trägt sie der Tatsache Rechnung, dass das gegenwärtige Revival von Animismus und Magie, vor allem in den Bildenden Künsten, aber auch in den Wissenschaften, sich weniger einem rein ethnographischen Interesse als einem sehr modernen Bedürfnis verdankt. Als exemplarisch für die Gesetze des Animationsfilms wird in der Schau Walt Disneys früher Zeichentrickfilm The Skeleton Dance von 1929 vorgestellt, weil Inhalt und Form in ihm besonders augenfällig korrespondieren. Mit dem Motiv der Geisterstunde, zu der die Toten sich erheben, um den Sieg des Lebens über das Anorganische zu feiern, greift Disney Elemente des animistischen Volksglaubens auf, um sie in einen Film zu transponieren, der die Macht der animierten Zeichnung über das statische Bild vorführt. Die Tendenz zur Karikatur und zur liebevollen Verniedlichung der Figuren nimmt den animierten Skeletten jedoch das Dämonische, entzaubert so wiederum ihren Mythos und verleiht dem populären Film eine fast schon aufklärerische Dimension.

Gesellschaftskritik am Rande

Polemisch zugespitzt wird dieser aufklärerische Impuls in den dadaistischen und surrealistischen Arbeiten, die in der Ausstellung gezeigt werden. In ihnen wird die Technik der Animation eingesetzt, um den Animismusglauben grotesk zu persiflieren. Der 1927 entstandene Kurzfilm Vormittagsspuk des dadaistischen Malers und Filmemachers Hans Richter, in dem einer ausschließlich aus Männern bestehenden Frühstücksgesellschaft die Hüte wegfliegen und diverse Gegenstände entgleiten, parodiert den neumystischen Hokuspokus von Séancen und Geisterfilmen. Hier dient die Darstellung einer Welt, in der die Objekte ein Eigenleben zu führen scheinen, nicht der Wiederbesinnung auf die animistischen Ursprünge der Zivilisation, sondern wird zum Ausdruck der Starre gesellschaftlichen Lebens. In der Tradition des Dadaismus steht auch das Künstlerpaar Anna und Bernhard Blume, an deren Werk deutlich wird, wie sich der ästhetische Impuls der Animation in nicht bewegten Bildern einfangen lässt. In ihrer Fotoserie Im Wald, die zwischen 1982 und 1991 entstand, scheint die Schwerkraft aufgehoben zu sein. Die Künstler schweben zwischen Bäumen, die ihrerseits ein unheimliches Eigenleben führen. Auch hier dient der Rekurs auf den Animismus der Destruktion von Mythen, in diesem Fall der romantischen Naturikonographie. Zugleich erscheint die menschliche Welt als unkon­trollierbar und von nicht mehr fassbaren Mächten verhext.

Solche kritischen und parodistischen Verfahrensweisen, die sich animistischer Motive und Techniken bedienen, um deren mythologisches Moment aufzuzeigen, sind in der Berliner Ausstellung allerdings eher rar. Stattdessen wird der entmythologisierende Umgang mit dem Animismus unter der Überschrift Kapitalismus Phantasmagorie nur als eine von vielen Möglichkeiten präsentiert, das animistische Denken künstlerisch zu reflektieren. Allein in dieser Rubrik erfährt man denn auch etwas über den Zusammenhang von Animismus und Fetischismus. Allerdings werden Karl Marx’ Fetischbegriff und Georg Lukács’ Rede von der „Verdinglichung“ und der „Phantomobjektivität“ der Gegenstandswelt im Kapitalismus, die das von Menschen Gemachte ihnen als fremd gegenübertreten lässt, eher als originelle „Perspektiven“ auf den Animismus denn als Erkenntnisse mit eigenem Wahrheitsgehalt dargestellt. Illustriert wird der gesellschaftskritische Rekurs auf den Animismus durch eine Reihe von Exponaten, deren Auswahl eher beliebig erscheint. Fernand Légers Kurzfilm Ballet Mécanique von 1923/24 wird als Reflexion über die fetischistische Verselbständigung der modernen Technik zu einer eigenen, durchaus ästhetisch reizvollen Macht vorgestellt. Die im Umfeld der 68er-Bewegung entstandene Diaprojektion Caricatures – Grandville des Belgiers Marcel Broodthaers, die Elemente von J. J. Grandvilles Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Mensch-Tier-Karikaturen aufgreift, entwirft eine Phantasmagorie des Kapitalismus als „Naturzustand“. Über die künstlerische Illustration der marxistischen Deutung des Animismus als Mythologie kommen diese Arrangements kaum hinaus.

Rehabilitierungsversuche

Breit dokumentiert werden dagegen neuere Versuche, den Animismus im Namen einer „politischen Ökologie“ oder einer modernen „Naturästhetik“ zu rehabilitieren. Dieses Revival des Animismus, das sich auf den von dem Kulturwissenschaftler Gernot Böhme geprägten Begriff der „Atmosphäre“ als eine Art materielle Aura ästhetischer Gegenstände berufen kann, bildet nicht zufällig den Fluchtpunkt der Ausstellung. Anhand der filmischen Arbeiten von Jean Painlevé aus den sechziger Jahren, die zwar vom Surrealismus geprägt sind, letztlich aber auf eine Versöhnung von Naturwissenschaft und Mystik zielen, soll Max Webers These von der „Entzauberung der Welt“ durch die modernen Wissenschaften angezweifelt werden. Paulo Tavares’ Filminstallation Non-Human Rights von 2011/12 beschreibt am Beispiel Ecuadors die juristische Kodifizierung der Natur als Rechtsgegenstand. In Ecuador wurde 2008 ein Gesetz verabschiedet, das auch den Naturelementen „Rechte“ zubilligt und so Trennung zwischen der Welt der Naturdinge und der Menschen in Frage stellt. Während die präsentierten Trickfilme und dadaistischen Arrangements die animistische Verwandlung von Totem in Lebendiges als Teil ihres Formgesetzes ernstnehmen, wird das Kunstwerk hier zum bloßen Medium von Dokumentation und politischer Meinung herabgesetzt. Dass die Rehabilitierung des Animismus als eine Form postkolonialer Politik das eigentliche Projekt der Ausstellung ist, bestätigte sich im begleitenden Konferenzprogramm, bei dem das Schlagwort von der „Zurückgewinnung“ des Animismus im Mittelpunkt stand.

Die eigentlich nicht falsche Diagnose von Claude Lévi-Strauss, dass die „große Trennung“ zwischen dem vermeintlich irrationalen Animismus und der Rationalität der Wissenschaften, welche die traditionelle Ethnologie vorgenommen habe, das rationale Moment des Animismus als frühe Form der Naturbeherrschung vernachlässige, wird mit der Formel „Reclaiming Animism“ in ihr Gegenteil verkehrt. Statt den Animismus als frühe Form von Rationalität zu verstehen, wird gerade das Blinde, nicht Rationale an ihm als Gegenentwurf zu einer kalten, nüchternen und entfremdeten Moderne abgefeiert. Der gesellschaftlichen Totenstarre, die man der Gegenwart attestiert, soll so mit der Kultur des Animismus eine Welt entgegengesetzt werden, in der alles ständig im Fluss ist. Dass gerade solche ästhetischen Versuche der „Zurückgewinnung“ des Animismus sich in politischer Ideologie und ethnologischen Klischees erschöpfen, macht unfreiwillig deutlich, dass die „große Trennung“ irreversibel ist und darin vielleicht auch ein Fortschritt liegt.

Animismus Ausstellung, Haus der Kulturen der Welt, bis zum 6. Mai. Der von Irene Albers und Anselm Franke herausgegebene Katalog ist im Zürcher Diaphanes-Verlag erschienen und kostet 29,90 Euro.

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