Schon in den frühesten Jahren der Kinogeschichte hat es zwei grundlegend verschiedene Gesten im Umgang mit dem neuen künstlerischen Medium gegeben, in denen die spätere Unterscheidung zwischen "fiktionalen" und "dokumentarischen" Filmen schon vorgeprägt ist. Exemplarisch für die erste Haltung, die selbstzweckhafte Faszination an der phantasiebildenden Kraft der neuen Technik, sind die Filme von Georges Méliès, dem Urahnen des Science-Fiction-Films, der das Kino als gigantische Wunsch- und Traummaschine begriffen hat, die den literarischen Phantasien eines Jules Verne endlich visuelle Gestalt geben könnte. Die zweite Haltung prägte sich in jenen berühmten "Bewegungsstudien" wie der gefilmten Einfahrt eines Zuges in einen Bahnhof aus, die sich dem Alltag zuwenden wollten, um ihn aus neuer, bislang unerfasster Perspektive zu präsentieren. Beide Varianten sorgten beim noch jungen Kinopublikum zunächst für einen Schock: die erste, weil sie fiktive Welten plötzlich konkret werden, die zweite, weil sie das Gewohnte fremd und bedrohlich erscheinen ließ. Zugleich kommt in beiden der Wunsch zum Ausdruck, das Kino möge mehr als eine Verdoppelung des Alltags bieten; sei es, in dem es zur Geburtsstätte utopischer Gegenwelten wird, sei es, indem es den Alltag verfremdet, analysiert, ihn seiner Banalität beraubt.
Im Zuge der Filmgeschichte haben sich diese gegensätzlichen Gesten im Umgang mit filmischer Wirklichkeit unter dem Druck der expandierenden Kinoindustrie zu verschiedenen ästhetischen Genres und Ideologien verhärtet, denen unterschiedliche, aber ebenfalls kulturindustriell vorfabrizierte Bedürfnisstrukturen des Publikums entsprechen. Die einen wollen, von Independence Day über Matrix und Herr der Ringe, im Guten wie im Bösen stets nur das Gigantische sehen, das ihren Bilderhunger befriedigt, indem es ihn zugleich noch stärker anstachelt. Die anderen wollen sehen, was sie zu kennen glauben, wenn auch in anderer Aufmachung, wahlweise sentimental, satirisch oder sozialkritisch drapiert. Innerhalb dieser Parteien wiederholt sich die Unterscheidung zwischen "fiktionalen" und "realistischen" Präferenzen stets aufs Neue, so dass sich etwa die "realistische Fraktion" wahlweise für Woody Allen, Ken Loach oder Michael Moore begeistern kann. Daran wird evident, was inzwischen jeder Filmstudent im ersten Semester lernt: dass "Realismus" oder auch "Dokumentarismus" selbst nichts anderes als "Diskurseffekte" sind, dass der scheinbar so offenbare Unterschied zwischen Fiktions- und Wirklichkeitspräferenz hinfällig ist. Auch cinéma vérité und Dogma sind gerade in ihrem vermeintlichen Realismus ästhetische Stileffekte, ohne dass ihnen ein privilegierter Bezug zur "Wirklichkeit" zukommen würde.
Derlei dekonstruktivistische Turnübungen, die nur selten auf ihre eigenen Prämissen hin befragt werden, haben das Genre des Alltagsfilms in einen gewissen Verruf gebracht. Es hat selbst eine ehrwürdige Geschichte, die bis in die Zeit des frühen Stummfilms zurückreicht. Einer seiner ersten Höhepunkte waren die dokumentarischen Filme der "Neuen Sachlichkeit" wie Walter Ruttmanns Berlin - Symphonie einer Großstadt oder Menschen am Sonntag von Siodmaks, Ulmer und Zinnemann. Diese Filme, die sich ihres narrativen und insofern fiktionalen Charakters durchaus bewusst waren, versuchten dennoch, dem dispersen Kinopublikum jene Welt vor Augen zu führen, deren eigenes Produkt es ist, in der es sich bewegt, ohne sie überhaupt noch wahrzunehmen. All diese Filme haben, wie schon Siegfried Kracauer früh bemerkte, eine Neigung zur Glättung gesellschaftlicher Widersprüche. Die soziale Wirklichkeit erscheint in ihnen zwar heterogen, polyvalent und spannungsreich, aber durch alle Spannungen hindurch doch als unaufhörlicher Bilderfluss, der das atomisierte Dasein der Mittelschichten reproduziert und ästhetisch adelt, ohne es zu kritisieren. Aus heutiger Sicht wirken manche dieser Filme mit ihren emblematischen Stadtbildern und ihrer eingängigen Symbolik wie Werbefilme für die Hauptstadt.
Während die frühen Alltagsfilme meist Stadtfilme waren, die einen "Ort" oder ein "Milieu" präsentierten und damit die Fassade des gesellschaftlich Einheitlichen im Grunde immer schon verdoppelten, gab es im Zuge der sich in den sechziger Jahren allerorts vollziehenden Abwendung von Opas Kino ein verstärktes Interesse, den Alltag gerade nicht - wie noch selbst Kracauer postulierte - anhand seiner "Oberflächenerscheinungen", sondern an seinen intimsten, prekärsten Stellen zu erfassen. Soziale Verwerfungen sollten nicht länger durch exemplarische Durchleuchtung deklassierter Milieus angeprangert werden, sondern in Reflexion auf das, was solche Verhältnisse im Innersten der Individuen anrichten. Anstelle unwirtlicher Wohnverhältnisse sollte die Unwirtlichkeit des Intimen dargestellt werden. In diesem Sinne filmte Godard ganz gewöhnliche Arbeiterfamilien beim Essen, Baden und beim Toilettengang oder ließ sie über ihr Liebesleben reden. In diesem Sinne auch besetzte Werner Herzog die Rollen ganz und gar nicht "realistischer" Filme wie Auch Zwerge haben klein angefangen durchweg mit kleinwüchsigen Laiendarstellern, um gerade dem Surrealsten die Spur unabweisbarer Authentizität zu verleihen. All diese Filme sind - wie schon ihr frühester Vorläufer, Tod Brownings Freaks - in Gefahr, die Intimität der Menschen, die sie zeigen, der Sensationsgier auszuliefern. Dennoch berühren sie mehr als der konventionelle Dokumentarismus, der sich mit der "realistischen" Illustration vorgängiger Thesen begnügt. Sie erfassen jene Aspekte alltäglichen Lebens, die von der Ideologie konventioneller "Alltagsfilme" als unrepräsentativ, randständig oder allzu "privat" ausgegrenzt werden und führen den Menschen das Zerrbild einer gesellschaftlich deformierten Intimität vor, in der sie ihre eigene wieder erkennen können.
Die Filme des Österreichers Ulrich Seidl, von seinen noch recht konventionell dokumentarischen Anfängen im Fernsehen über Tierische Liebe, Models und Hundstage bis zu Import Export, der in dieser Woche in die Kinos kommt, stellen die bislang wohl elaborierteste Form dieser Art der Alltagsfiktion dar. Seidls Filmen ist indes abhanden gekommen, was seinen Vorläufern noch immanent war: die Hoffnung, im Beharren auf der verkapselten Intimität der Individuen doch noch jenen "echten" Kern freizulegen, von dem aus ihre Verhärtung sich sprengen ließe. Der private Alltag, der in den frühen "Alltagsfilmen" als dynamisches Fließen verklärt wurde, ist so apathisch, hohl und leer geworden wie seine "offizielle" Kehrseite. Spontane Funken lassen sich ihm nur noch abgewinnen, wo diese Erfahrung der Erfahrungslosigkeit ernst genommen wird, das filmische Verfahren sich auf sie einlässt. Gerade indem Seidl dies tut, respektiert er die Würde seiner Personen mehr als jeder Sozialrealist oder Satiriker. Der Schrecken der Wirklichkeit entzieht sich der wertenden Distanz, die konventioneller Dokumentarismus stets voraussetzt.
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