Der deutschen Kulturpflege, wie sie sich in Goethe-Instituten, nationaler Filmförderung und der Forderung nach einer deutschen Pop-Quote im Rundfunk niederschlägt, ist gelungen, wovon Briten, Amerikaner und Franzosen sich vermutlich nicht einmal einen Begriff machen können: die negative Aufhebung des Gegensatzes von Hoch- und Populärkultur in einem Einheitsbrei, der von der Hochkultur das volkspädagogische Pathos und von der Massenkultur den Stolz auf die eigene Banalität übernommen hat. Während die oft als nationalistisch denunzierte Kulturförderung in Frankreich an einem republikanischen Begriff der Nation festhält, der es erlaubt, auch gelungene Unterhaltungskultur als Teil eines "nationalen Erbes" zu würdigen, das Jean-Luc Godard und Louis de Funès, Serge Gainsbourg und Jean-Paul Sartre gleichermaßen umfasst, wird hierzulande gute Unterhaltung ebenso gehasst wie hohe Kunst. Kontemplation und Lust sind dem Deutschen gleichermaßen Arbeit; wer genießen kann, ohne hinterher erschöpft zu sein, steht im Verdacht des Schmarotzertums.
Würde einmal die Geschichte jener deutschen Spielart "linker" Volkskultur geschrieben, die mittlerweile zur Leitkultur avanciert ist, dürfte ein besonders deprimierendes Kapitel in der Chronik des deutschen Liedes nicht fehlen: die "Liedermacher-Festivals", die zwischen 1964 und 1969 auf Burg Waldeck im Hunsrück stattfanden und in deren Rahmen eine ganze Generation von Sozialkundelehrern ihren letzten Schliff erhalten hat. Waldeck war, glaubt man Beteiligten und Historiographen, die nun im Booklet einer materialreichen CD-Box zu Wort kommen, die Initialzündung einer "bundesdeutschen Folkbewegung", ein "deutsches Newport", ein "Sängerkrieg", der das deutsche Lied von seinen völkischen Obertönen gereinigt und konkurrenzfähig mit dem Chanson gemacht hat. Walter Moßmann beschreibt die Sache unfreiwillig etwas präziser: "Mich selber sah ich als Monteur, als einen, der herumliegendes und herumfliegendes Sprachmaterial zerrupft".
Zerrupft wurde den Sangeskünstlern, die durch ihre Selbstbezeichnung als "Liedermacher" keinen Zweifel daran ließen, dass sie bodenständige Kumpane waren, offenbar zuallererst das Hirn. Franz Josef Degenhardt, der noch immer im unverdienten Ruf steht, ein linker Intellektueller zu sein, gibt über die Intentionen seines Schaffens zu Protokoll: "Wir mochten ja die deutsche Vokalmusik. Wir litten darunter, dass die Nazis sie kaputtgemacht hatten. Wir hassten Deutschland - so will ich das mal ausdrücken -, weil wir nicht verwechselt werden wollten mit den Nazis. Aber wir wollten diese Lieder trotzdem neu interpretieren ... Und das gelang schließlich auf der Waldeck." Deutschland zu hassen, weil man nicht mit den Nazis verwechselt werden, sondern sie neu interpretieren will: In diesem Kalauer steckt die gesamte Tradition des bundesdeutschen Protestsongs. Auf "der Waldeck" kristallisierte sie sich zu einem Bild, das im Nachhinein nicht zufällig wie eine Collage aus Wandervogel und Guildo Horn anmutet. Hier war versammelt, was bis heute Nährboden diverser Kiez- und Subkulturen geblieben ist: Ökopazifismus, ökumenisches Pfaffentum, langbärtige Männlichkeit und blumenbehangene Weiblichkeit, jugendbündischer Hass auf alles Erwachsene sowie Abneigung gegen Elektrizität und zivilisierte Umgangsformen.
Jürgen Kahle, Koordinator des Festivals bis 1967, erinnert sich im Booklet stolz an "die mangelnde Infrastruktur der Burg Waldeck", wo man in "Hütten" gehaust habe, die "ohne befestigte Zugangswege" gewesen seien, "Kolibakterienstämme" das Trinkwasser verdorben hätten, "Bundfaltenhosen" und "Sakkos" tabu gewesen seien, man in "Tante-Emma-Läden" habe einkaufen und die Tiefflieger vom US-Flugplatz Hahn habe ertragen müssen. Eine kerndeutsche Urszene also: Die freiwillig zu Pfadfindern regredierten, ihre Nahrungsmittel bei Mutti schnorrenden Endzwanziger und Mittdreißiger, die mit heroischer Unbedingtheit bemüht sind, alle geistigen und materiellen Spuren der Moderne nicht nur aus ihren Liedern, sondern auch aus ihrer Lebensweise zu tilgen, lernen im Kampf gegen den imperialistischen Feind, "so etwas wie das Jünger´sche Kriegserlebnis heraufzubeschwören", weil für ein paar Tage das Plumpsklo das gekachelte Bad und die Klampfe den Plattenspieler ersetzt. In kaum einer Stellungnahme der Altgedienten fehlt der Rekurs auf das "bündische" Jugendmilieu, dem man nicht nur die erste Gitarre, sondern auch die Versatzstücke für das künstlerische Selbstbild verdankt.
All das wäre als Lokalkolorit abzutun, hätte sich auf Burg Waldeck kulturell wirklich etwas Ähnliches ereignet wie in Newport oder Paris. Die Tondokumente belegen jedoch, dass insbesondere die Gunstbeweise für Georges Brassens, mit denen von Degenhardt bis Reinhard Mey gewetteifert wurde, sich in Lippenbekenntnissen erschöpften. Brassens war auf seine Art tatsächlich ein musikalischer Revolutionär, der Traditionen des Chansons, des Jazz, der Liturgie und der Ballade zu einer Liedform verknüpfte, die nicht nur Villon, sondern auch Verlaine und Baudelaire in sich aufgenommen hatte. Bei Degenhardt, Mey oder Wader bleibt davon allenfalls das Idiom zurück. Meys Wohnküchenlyrik war schon damals von den Elaboraten eines Udo Jürgens, die wenigstens von ehrlicher Belanglosigkeit waren, kaum zu unterscheiden, und die Balladen von Wader und Degenhardt huldigen, eben weil sie an die heimische Vokalmusik anknüpfen, bei aller politischen Polemik dem einverständigen Publikum, in letzter Konsequenz also demselben Mob, der verbal attackiert wird. Deshalb waren die Frontenkämpfe zwischen "Konservativen" wie Mey oder Hüsch und DKP-Chargen wie Degenhardt oder Süverkrüp in Wahrheit irrelevant: Ästhetisch ging es auf Burg Waldeck ganz einfach um nichts; politisch reproduzierte man, was zeitgleich in Hunderten von WG-Kollektiven geredet wurde. Die wenigen Momente, in denen der Stolz auf die eigene Provinzialität hätte überschritten werden können - etwa die jiddischen Verse des früh verstorbenen Peter Rohland -, scheinen in jener schon damals lobend "Folklore" genannten Melange untergegangen zu sein, der auch das jüdische Lied nie Teil einer historischen Tradition, sondern Objekt kulturellen Artenschutzes war.
Übrig bleiben die so gar nicht ins Programm passenden Nonsense-Lieder von Schobert Black und Insterburg Co. Erstere scheinen die Einzigen gewesen zu sein, die sich nicht kulturpflegerisch, sondern höhnisch auf das deutsche Lied bezogen und sich in ihrem Song über den "großdeutschen Nationalfriedhof" zu erwähnen trauten, dass es etwas wie Konzentrationslager gegeben hat, wovon der Verbalradikalismus von Degenhardt oder Süverkrüp bis zum Schluss nichts wissen mochte. Insterburg Co lassen in ihren Blödeleien den Geist des Schlagers der zwanziger Jahre nachklingen und machen es umso bedauerlicher, dass von diesen sprachlich und musikalisch gelungenen Miniaturen heute nichts geblieben ist als der Abhub debiler Comedy-Shows. Insgesamt überwiegt beim nachgeborenen Hörer das ungewohnte Glück, damals noch nicht auf der Welt gewesen zu sein.
Die Burg Waldeck Festivals 1964-1969. Chansons Folklore International. 10 CD + Booklet. Bear Family Records
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